5. Nur ein Fetzen Pergament
[Marcus]
Die vergangenen Tage waren so langweilig verlaufen wie sie nur langweilig hatten verlaufen können. Es war nichts los, das Wetter zu nass, um Quidditch zu spielen, und Marcus hatte irgendwann aus reiner Verzweiflung damit begonnen, die Hausaufgaben für nächste Woche zu machen. Was schlussendlich dazu führte, dass er am Wochenende bereits damit fertig war und den Samstag gelangweilt und motivationslos in einem der Sessel vor den Kamin im Gemeinschaftsraum hängend verbrachte und versuchte, sich darüber zu freuen, dass er nichts mehr zu tun hatte. Ausnahmsweise war er sogar ganz froh über die anderen Schüler, die sich im Gemeinschaftsraum herumtrieben. So musste er einerseits die Blicke nicht mehr sehen, mit denen ihn Adrian eben nicht mehr bedachte, und andererseits sorgte der Lärm der anderen Schüler dafür, dass seine eigenen düsteren Gedanken nicht zu laut wurden.
Am Sonntag verzog sich Marcus bereits gegen Mittag in die Bibliothek. Es war Hogsmeade-Wochenende, und alle älteren Schüler von der dritten Klasse aufwärts hatten sich nach dem Frühstück auf den Weg ins Dorf gemacht, was bedeutete, dass der Gemeinschaftsraum so gut wie leer war. Und da Marcus keine Lust hatte, dort mit Adrian und Terence alleine zu sein, suchte er Zuflucht in der Bücherei.
Eigentlich hatte er nichts zu tun, seine Hausaufgaben hatte er alle schon erledigt, also stöberte er in den verstaubten Regalen nach alten Quidditch-Chroniken. Mit einem dicken Wälzer bewaffnet suchte er sich ganz hinten in der menschenleeren Bibliothek einen Platz am Fenster, wo er ungestört sein würde. Und so begann er zu lesen, den Kopf sacht gegen die kalte Scheibe gelehnt, an die draußen leise der Regen prasselte.
~ • ~
Es dauerte eine ganze Woche, bis Marcus schließlich endlich eine neue Botschaft vorfand, frisch in das Holz geschnitzt, das vom Regen noch feucht war. Fast ehrfürchtig fuhr er die Buchstaben mit den Fingern nach.
SIE VERSTEHEN MICH NICHT
Mit zitternden Händen schrieb Marcus seine Antwort:
UND MICH AKZEPTIEREN SIE NICHT
Es stürmte. Der Wind hatte die letzten Blätter von den Bäumen gefegt, und langsam begann es wieder zu regnen. Marcus zog sich die Kapuze seines Umhangs ins Gesicht und warf einen Blick zum Quidditchfeld, das grau und trostlos unter dem stetig dunkler werdenden Himmel dalag. Er hatte das Training vorerst ausgesetzt. Bei diesem Wetter wollte er nicht spielen, wo er doch inzwischen ohnehin wusste, dass es nur an seiner mangelnden Teamfähigkeit gelegen hatte, dass er es nicht in die Mannschaft geschafft hatte. Marcus warf einen letzten, hoffnungsvollen Blick auf die Schrift im Holz. Bitte antworte mir.
Der Wind zerrte an seiner Kapuze, als er hoch zum Schloss lief. Das schlammige Gras durchnässte seine Schuhe und Marcus beeilte sich, in die warme Eingangshalle zu gelangen. Als er sich, dort angelangt, die Kapuze vom Kopf strich, hörte er neben sich ein leises Miauen. Dort stand Mrs Norris. Marcus blickte ertappt auf seine schlammigen Schuhe und wieder zu der Katze des Hausmeisters. Diese starrte ihn vorwurfsvoll aus orangefarbenen Augen an, ehe sie mit einem Schwanzwedeln um die Ecke verschwunden war. Marcus war sich sicher, dass sie zu Mr Filch laufen würde und flüchtete in Richtung Kerker.
Es war Halloween. Der Duft von gebratenen Kürbissen hing in den Korridoren, und selbst unten in den Kerkern flatterten Fledermäuse durch die Gänge, als Marcus auf dem Weg zum Festessen war. Diesmal mit trockenen Sachen und halbwegs sauberen Schuhen.
Zum ersten Mal seit Tagen hatte er wieder so etwas wie ein Lächeln im Gesicht, als er die Große Halle betrat, die wie schon im Jahr zuvor herrlich geschmückt war. Überall waren riesige geschnitzte Kürbisse zu sehen, auf den Tischen und in der Luft schwebend, Fledermäuse flatterten über den Tischen und in den Nischen an den Wänden hingen Spinnweben. Über allem schwebten hunderte Kerzen und erhellten die Halle mit warmem, flackernden Licht.
Marcus grinste leicht in sich hinein, während er sich ganz links an den Slytherintisch setzte; so, dass er alle Haustische überblicken konnte. Im Gegensatz zu den vergangenen Wochen ließ er diesmal nicht seinen Blick niedergeschlagen die Bankreihen entlangwandern, auf der Suche nach Adrian, der fast immer bei Terence saß. Heute überging er die beiden. Stattdessen beobachtete er verstohlen die anderen Schüler. Seine Augen schweiften vom Slytherintisch zu den Hufflepuffs, über die Ravenclaws bis hin zum Gryffindortisch am anderen Ende der Halle. Wer bist du?
~ • ~
Es war, als hätte jemand Marcus wachgerüttelt aus dieser Spirale der Frustration und Trübseligkeit, der langweiligen Wochenenden und des motivationslosen Herumsitzens an den Nachmittagen. Der Unbekannte hatte ihm geantwortet. Zurückgeschrieben, zweimal. Er würde wieder schreiben, dessen war er sich sicher. Von diesem Gedanken aufgeheitert hatte Marcus beschlossen, das Beste aus seiner Situation zu machen.
Er las mehr als früher. Keine Schulbücher, sondern Lektüren über Quidditch; Niederschriften von Spielen der letzten Jahrhunderte, alte Mannschaftschroniken. Er begann, eigene Spielzüge zu entwerfen und kleine Tintenflecke auf dem Pergament so zu verhexen, dass sie sich dazu passend über die Zeichnung eines Quidditchfeld bewegten. Seit das Unwetter wieder nachgelassen hatte, trainierte er wieder regelmäßig. Abends wanderte er durch die Gänge, oft bis nach der Sperrstunde, und obwohl er die abendlichen Gespräche mit Adrian vermisste, boten die nächtlichen Streifzüge spannende Abwechslung zu seinem langweiligen Schulalltag. Er entdeckte neue Geheimgänge; Schlupfwinkel, Wände, die gar keine waren, Türen, die jede Woche woanders hinführten. Innerhalb weniger Tage kannte er sich besser aus in Hogwarts als jeder andere in seinem Jahrgang.
Unterdessen war es draußen kälter geworden. Langsam hielt der Winter Einzug über Hogwarts, und auch wenn es noch nicht geschneit hatte, waren die Temperaturen die letzten Tage über auf Minusgrade gesunken. Bald stand die erste Quidditchpartie des Schuljahres an: das Auftaktspiel, Slytherin gegen Gryffindor. Die Teams der beiden Häuser trainierten nun ununterbrochen, das Quidditchfeld war jeden Tag ausgebucht. Abgesehen davon, dass es Marcus nun kaum mehr möglich war, selbst zu trainieren, frustrierte es ihn ungemein, dass er nicht dort auf dem Spielfeld sein durfte, bei den anderen Spielern, und vier Tage die Woche alles und mehr geben konnte, um die Gryffindors am kommenden Samstag zu schlagen.
Marcus blickte der Partie mit gemischten Gefühlen entgegen. Natürlich freute er sich auf das Spiel; es war Quidditch, und Quidditch war immer spannend, besonders, wenn Slytherin gegen Gryffindor spielte, doch irgendwie fühlte es sich seltsam an, nicht wie sonst zusammen mit Adrian dem Spiel entgegenzufiebern, am Abend zuvor vor Aufregung nicht einschlafen zu können und bis spät in der Nacht bereits im Vorhinein den Ausgang des Spiels zu diskutieren, auch wenn es keinen Sinn machte, »ist doch egal, das macht Spaß.« Klar kam er auch mit den anderen Slytherins aus seinem Jahrgang gut aus, und praktisch jeder freute sich auf das Spiel, doch es war irgendwie einfach nicht dasselbe.
Dennoch zauberte ihm, als er sich am Samstagvormittag gemeinsam mit den anderen Schülern auf den Weg zum Quidditchfeld machte, abgesehen von dem anstehenden Quidditchspiel noch etwas anderes ein vorfreudiges Grinsen auf das Gesicht. Er hatte sich beim Frühstück mit Absicht Zeit gelassen und war nun etwas spät dran, doch er hoffte darauf, dass der Unbekannte noch vor dem Spiel eine neue Nachricht hinterlassen würde. Er wollte ihm die Zeit dafür geben, denn wenn er kein Slytherin war, würde er sich so kurz vor dem Spiel nicht auf der Slytherintribüne blicken lassen, wenn Marcus bereits dort war.
Trotzdem konnte er nicht anders als sich neugierig umzusehen, als er auf dem Weg zur obersten Reihe die Treppen emporstieg. Doch es war bereits zu viel los auf den Rängen als dass er jemanden hätte sehen können, und abgesehen von einem kleinen Gryffindor, der sich auf den Treppen an ihm vorbeidrängte, fiel ihm niemand auf.
Die Mannschaften schritten auf das Feld, und das Spiel begann mit ohrenbetäubendem Fangesang und einer bitteren Enttäuschung für Marcus: Keine neue Nachricht.
Wut und Enttäuschung ließen sich erstaunlich gut in Begeisterung für das Spiel kanalisieren. Marcus schrie sich beinahe die Seele aus dem Leib, während er die Quidditchmannschaft der Slytherins anfeuerte. Es war spannend; beide Teams spielten unglaublich gut. Trotzdem stand es nach einer halben Stunde fünfzig zu dreißig für Gryffindor. Noch war alles möglich, das Spiel war offen. Vom Schnatz gab es bisher keine Spur.
Die Slytherins starteten einen neuen Angriff. Marcus schrie den vorbeifliegenden Jägern Anfeuerungsrufe entgegen, während Adrian neben ihm fahrig seinen Schal zerfranste; es war fast wie früher.
Marcus trat ganz nach vorne und beugte sich über das Geländer, um besser sehen zu können - plötzlich stockte er. Als er sich auf dem Geländer abstützte, berührten seine Finger etwas.
Doch in diesem Moment hatte Vaisey, der Kapitän der Slytherins, getroffen. Marcus stimmte begeistert in den Jubel der Fans mit ein, während die grüne Gestalt auf ihrem Besen eine Runde über ihrer Tribüne drehte. Nur widerwillig wandte Marcus den Blick ab, um das Geländer genauer in Augenschein zu nehmen. Dort, zwischen den Brettern, steckte etwas im Holz: ein Stück Pergament, klein zusammengefaltet. Es dauerte eine Weile, bis er es herausgezogen hatte. Mit klopfendem Herzen faltete er den Zettel auseinander.
Erzähl.
Dass Slytherin gerade den Ausgleich erzielt hatte, bekam Marcus nicht mehr mit.
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