3. Mit klopfendem Herzen
[Marcus]
Marcus ließ seinen Blick abwesend aus dem Fenster schweifen und drehte seinen Adlerfederkiel zwischen den Fingern. Es war Freitag Mittag, nur noch eine Stunde Geschichte der Zauberei trennte ihn vom Wochenende, und er langweilte sich zu Tode. Das einschläfernde Gefasel Professor Binns' ließ sich erstaunlich gut ausblenden, während er träge auf seinem Pergament herumkritzelte. Immer wieder wanderte sein Blick zum Quidditchstadion, das in der Ferne im schwachen Sonnenlicht schimmerte.
Er wollte möglichst schnell dort hinunter. Vergangenes Wochenende hatte er eine kurze Botschaft im Holz der Tribüne hinterlassen, nur ein Wort, hastig mit dem Zauberstab eingebrannt:
WARUM ?
Die ganze Woche über hatte es geregnet, und er war seitdem nicht mehr unten beim Quidditchfeld gewesen. Heute kam zum ersten Mal die Sonne wieder heraus, und er brannte darauf zu erfahren, ob, wer auch immer die anderen Worte eingeritzt hatte, geantwortet hatte. Außerdem vermisste er das Fliegen.
Als es zum Ende der Stunde klingelte, warf Marcus seine Schulsachen achtlos in seine Tasche und sprang auf, um das Klassenzimmer möglichst schnell zu verlassen. Vor ihm schien Adrian in ein Gespräch mit Terence vertieft. Kurzentschlossen trat Marcus vor und drehte ihn an der Schulter herum. »Hey, Adrian.«
Der Angesprochene blickte ihn überrascht an. Marcus tat sein Bestes, um den Blick zu ignorieren, der einen Moment lang erschrocken auf der Hand auf seiner Schulter verweilte. Langsam nahm er die Hand weg und versuchte, ein möglichst unbeschwertes Grinsen aufzusetzen. »Ich wollte gleich runter zum Quidditchfeld, kommst du mit?« Mit klopfendem Herzen wartete er auf seine Reaktion.
Adrians Augen huschten unsicher zu Terence. Doch dieser warf ihm nur einen eindringlichen Blick zu, der eindeutig sagte »Klärt das« und verschwand mit einem »Ich bin schon mal unten beim Mittagessen« den Korridor entlang. Adrian sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Seine Stimme klang seltsam abweisend, als er sprach, ohne Marcus anzusehen. »Ich ... hab zu tun.«
Marcus beobachtete mit einem Stich in der Brust seinen besten Freund, der überall hinsah, nur nicht zu ihm. Mit einem Anflug von Wut packte er ihn am Arm. »Und jetzt sieh mich an und sag das nochmal.«
Adrian wirkte sehr verunsichert, doch zu Marcus' Erstaunen hob er den Blick und sah ihm ins Gesicht. »Ich ... brauch Zeit.« Mit diesen Worten wand er sich aus Marcus' Griff und lief mit schnellen Schritten den Korridor entlang.
Marcus sah ihm einen Moment lang nach, dann fasste er einen Entschluss und folgte ihm. Er würde nicht kampflos aufgeben. »Zeit, wofür denn?«, rief er ihm hinterher, doch er reagierte nicht. »Adrian!«
Angesprochener war bereits am mittleren Treppenabsatz angelangt, als er sich zu ihm umwandte. Marcus fing den Blick seines besten Freundes ein und schluckte die wütenden Worte hinunter, die er im Begriff war ihm entgegenzuschleudern. Stattdessen fuhr er mit leiserer Stimme fort: »Du weißt, dass das nichts ändert?«
Adrian schien nach Worten zu suchen, und blickte einen Moment hilflos zu ihm hoch. Dann schüttelte er nur leicht den Kopf und wandte den Blick ab.
»Adrian!«
Doch diesmal reagierte er nicht, sondern verschwand ohne ein weiteres Wort weiter die Treppe hinab.
Marcus wandte sich fluchend ab und trat wütend gegen eine Ritterrüstung am Rand des Korridors. Mit lautem Quietschen und Klappern krachte sie in sich zusammen. Der Helm fiel ab und stürzte die Treppe hinab, bei jedem Aufschlag laut scheppernd.
In der Ferne schlug eine Tür auf. Durch das Ächzen und Stöhnen der Rüstung drang Mr Filchs wütende Stimme zu ihm.
Marcus ergriff die Flucht und schlüpfte durch einen Wandteppich am anderen Ende des Ganges. Nach ein paar Metern ließ er sich kraftlos auf den Boden des Geheimgangs sinken. Seine Schultern bebten vor lautlosen Schluchzern, als er sich gegen die Wand lehnte und nach oben blickte. Er hatte es doch versucht.
~ • ~
Fliegen beruhigte ihn. Das war schon immer so gewesen. Der Wind in seinen Haaren, die Welt unter ihm fern und unbedeutend. Marcus flog hoch über dem Quidditchfeld. Selbst die Torringe zu beiden Seiten des Spielfeldes wirkten in der Ferne ganz klein, während er sich in weiten Kreisen immer höher schraubte. Der verbotene Wald erstreckte sich weit vor ihm, unheilvoll und dunkel. Der schwarze See schimmerte schwach im Sonnenlicht, und dahinter waren die schneebedeckten Spitzen der Berge in der Ferne zu erkennen.
Die Luft war eisig hier oben und stach schmerzhaft in seinem Gesicht, und an seinen Fingerspitzen, die von den Handschuhen nicht bedeckt waren. Doch Marcus flog weiter, genoss fast schon das taube Gefühl, dass sich allmählich in seinen Fingern breitmachte. Bis sein Besen einen Ruck von sich gab.
Marcus hielt sich erschrocken fest und blickte auf den Besenstiel unter ihm, der unheilvoll erzitterte, ehe er erneut ruckelte. Marcus umklammerte verbissen seinen Besen und versuchte, ihn gerade zu halten. Doch erneut kam der Besen ins Schlingern und schwankte bedrohlich in der Luft. Marcus warf einen kurzen Blick nach unten, wo sich das Schlossgelände fünfzig Meter unter ihm erstreckte. Mit zitternden Händen lenkte er seinen bockenden Besen tiefer. Das Ruckeln erstarb langsam.
Marcus musterte mit einem Anflug von Unmut seinen Komet 240. Der Schreck saß ihm noch mehr in den Gliedern als er es hätte zugeben wollen. So weit oben war er noch nie zuvor geflogen. Die Höhe schien seinem alten Besen nicht zu bekommen.
Mit noch immer klopfendem Herzen schraubte er sich langsam tiefer, bis er wieder auf Höhe des Quidditchfeldes war. Unter sich konnte er einige Gestalten in Rot ausmachen. Großartig, schoss es ihm durch den Kopf. Gryffindor-Training.
Als er in steilem Sinkflug auf dem Feld landete, wurde ihm bereits der erste bissige Kommentar zugeworfen.
»Verzieh dich, wir haben jetzt Training.« Gesprochen hatte ein breiter Spieler, in der einen Hand einen Besen, in der anderen ein Treiberholz.
»Reg dich ab, Andrews«, ertönte eine zweite Stimme, die zu einem stämmigen Schüler gehörte, der zusammen mit einem der anderen Spieler eine Kiste mit den Bällen trug. Seine etwas längeren, roten Haare hingen ihm ins Gesicht und an seinem Umhang prangte das Kapitänsabzeichen. Er musterte Marcus scharf. »Du gehörst nicht zum Slytherin-Team«, stellte er fest.
Marcus verschränkte die Arme und schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.
Der Rothaarige sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du gehst jetzt wirklich besser. Jetzt ist unsere Trainingszeit und ich hab es nicht gern, wenn Spieler aus anderen Häusern zusehen.« Mit diesen Worten wandte er sich um.
Marcus stapfte missmutig an den an den anderen Spielern vorbei. Am Rand des Spielfeldes drehte er sich noch einmal um, den Zauberstab in der Hand. Er beobachtete einen Augenblick die Spieler, dann zielte er und murmelte ein paar Worte. Von einem Gefühl der Genugtuung erfüllt wandte er sich um und machte sich auf den Weg hoch zum Schloss. Einige Augenblicke später ertönte vom Spielfeld her ein lautes Fluchen. Marcus grinste. Er hatte dem Treiber sein Schlagholz an der Hand festgehext.
~ • ~
Am nächsten Tag schlich sich Marcus früh morgens aus dem Schlafsaal und machte sich auf den Weg zum Quidditchfeld. Er hatte am Tag zuvor keine Gelegenheit mehr gehabt, die Tribüne nach weiteren Nachrichten abzusuchen, und er wusste, dass gerade am Wochenende das Spielfeld nachmittags häufig zum Training ausgebucht war. Er brannte vor Neugier, als er über das taunasse Gras hinunter zum Stadion lief. Hatte der Unbekannte eine weitere Botschaft hinterlassen? Zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm er die Treppen der Tribüne und lief gespannt die oberste Reihe entlang. Doch er wurde enttäuscht. Keine weitere Nachricht zierte das Holz. Noch immer standen dort seine eigenen Worte.
Über alle Maßen frustriert machte sich Marcus auf den Weg zum Frühstück. Die Große Halle war noch so gut wie leer; es war Samstag, und die meisten Schüler würden erst in ein paar Stunden hier aufkreuzen. Lustlos stocherte Marcus in seinem Rührei herum. Merlin, würde dieses Wochenende langweilig werden.
Noch bevor die anderen Slytherins aus seinem Jahrgang auftauchten, hatte Marcus die Große Halle bereits wieder verlassen und streifte nun ziellos durch die Korridore. Und auch wenn er versuchte, nicht daran zu denken, konnte er nicht umhin sich zu fragen, ob es eigentlich irgendwo an dieser Schule jemanden gab, der ihn verstand ...
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