10. Endlich
Nervös schwebte Oliver vor den Torringen der Gryffindors und wartete auf Charlies Zeichen. Einer der neuen Jägerinnen brachte sich gerade in der Mitte des Spielfelds auf Position. Der Nachmittag war bereits angebrochen, alle Positionen standen fest, nur ein neuer Hüter musste noch gefunden werden. Oliver war sich bewusst, dass er verdammtes Glück hatte, dass gerade im letzten Schuljahr ihr bisheriger Hüter von der Schule gegangen war. Noch eine Chance würde er so schnell nicht bekommen.
Genau an diesem Gedanken hielt er sich fest, als er den Pfiff von Charlie hörte und die Jägerin sich tief auf ihren Besen lehnte und über das Spielfeld auf ihn zuflog, den Quaffel fest in der Hand. Oliver umklammerte krampfhaft seinen Besenstiel und rief sich in Erinnerung, wie sie ihr Auswahlspiel geflogen war - sie spielte stark auf den rechten und mittleren Ring, täuschte manchmal links an. Oliver atmete durch, sah, wie die Jägerin ausholte, und stürzte sich nach rechts.
Vertraut schmiegte sich das Leder des Quaffels an seine Hände, als er den Ball sicher in seinen Armen barg. Erleichtert stieß er die Luft aus, fing sich ab und brachte den Besen wieder auf Position, während er den Quaffel zurückpasste. Die nächsten beiden Würfe hielt Oliver, wenn auch knapp. Dann schoss die Jägerin auf den linken Torring zu – Oliver dachte, sie täuschte an und reagierte einen Herzschlag zu spät – sie hatte getroffen.
Olivers Hände zitterten, als er zum letzten Mal auf Position ging und das Zeichen gab, dass er bereit war. Wie in Zeitlupe sah er die Spielerin auf sich zufliegen, sah den Quaffel, der geworfen wurde, reagierte instinktiv und warf sich nach rechts. Er schaffte es nicht – das war ihm in dem Moment klar, als er die Arme ausstreckte – er konnte den Quaffel nicht erwischen. Der Ball streifte seine Finger, wurde leicht abgelenkt, und prallte mit einem dumpfen Klong gegen den Torring. Oliver brachte seinen Besen gerade noch rechtzeitig wieder in die Waagrechte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während eine Woge der Erleichterung ihn durchströmte. Ein Blick zu Charlie verriet ihm, dass er zufrieden schien, doch er rief schnell den nächsten Hüter auf das Spielfeld, und so hatte Oliver nicht genug Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Ein seltsam flirrendes Gefühl in der Magengegend, flog er zum Spielfeldrand, um zuzusehen.
Der Hüter, ein Viertklässler, spielte, das konnte Oliver auch ohne jahrelange Erfahrung beurteilen, miserabel. Den ersten beiden Würfe hielt er nicht, den dritten nur, weil die Jägerin den Quaffel unsauber getroffen hatte. Den vierten ließ er durch die ausgestreckten Arme gleiten, den fünften fing er und schien darüber selbst so überrascht, dass er den Quaffel fallen ließ. Es war der letzte Anwärter auf die Hüterposition, der Oliver Sorgen machte: ein blonder, drahtiger Siebtklässler, groß und breit, der vermutlich einen Torring allein durch seine Anwesenheit decken konnte, ohne sich viel zu bewegen. Oliver beobachtete unruhig, wie selbstsicher er auf seinem Besen wirkte und keine Miene verzog, als der erste Angriff geflogen wurde. Es war genau, wie er befürchtet hatte – der andere hielt einen, zwei, drei, vier Würfe. Beim fünften Wurf schoss er auf die Jägerin zu, um sie bereits im Torraum abzublocken, doch sie machte einen hübschen Schlenker und versenkte den Quaffel geschickt im mittleren Ring.
Oliver schloss die Augen und atmete innerlich auf – obwohl er wusste, dass damit keineswegs irgendetwas entschieden war. Jetzt herrschte Gleichstand zwischen ihnen, und es lag alleine an Charlie Weasley, zu entscheiden, wer in die Mannschaft kommen würde und wer nicht. Zu Olivers Überraschung ließ er sie nicht einmal nochmal gegeneinander antreten; sondern winkte sie sofort zu sich und Oliver leistete mit einem mulmigen Gefühl Folge.
»Ihr ward beide stark«, begann Charlie ohne Umschweife, »und ich habe mich für denjenigen entschieden, der meiner Meinung nach auf längere Sicht die beste Lösung für mein Team ist, und auf dem ich die nächsten Jahre über aufbauen kann. Und dafür bringt es mich nicht weiter, wenn ich einen Siebtklässler zum Hüter ernenne, der in einem Jahr von der Schule geht, nur um nächstes Jahr wieder einen neuen zu suchen. Ich brauche junge Spieler. Junge, starke Spieler wie dich, Wood.« Er wandte sich an den Siebtklässler. »McLaggen, dich werde ich als Reservehüter brauchen.«
Malcolm McLaggen schien ganz und gar nicht erfreut über diese Ernennung. Einen Moment lang wirkte er, als wolle er tatsächlich einen Streit vom Zaun brechen, dann begnügte er sich mit einem Zähneknischen und stapfte wortlos an ihnen vorbei, nicht ohne Oliver im Vorbeigehen anzurempeln.
Charlie blickte ihm stirnrunzelnd nach und wandte sich dann Oliver zu, der sich die Schulter rieb. »Gratuliere. Du bist der neue Hüter.« Er grinste angesichts Olivers ungläubiger Miene, der es immer noch nicht fassen konnte. »Am Montag ist unser erstes Training. Du bist gut, ich glaube du kannst es hier noch weit schaffen.« Er klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und lief an ihm vorbei in Richtung der Umkleiden. An der Tür wandte er sich noch einmal zu ihm um. »Vorausgesetzt du strengst dich ordentlich an«, fügte er hinzu, und verschwand in der Umkleide.
Oliver sah ihm nach und ein unverwüstliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Kein Problem. Das werde ich.
~ • ~
Ich hab's geschafft, Oliver. Ich bin Jäger!
Diese Nachricht erreichte Oliver genau am Nachmittag nach den Auswahlspielen der Gryffindors. Grinsend drehte er den Zettel zwischen den Fingern. Ihm war klar, warum Marcus ihm erst jetzt geschrieben hatte. Alle Auswahlspiele waren vorbei, Gryffindor war die letzte Mannschaft gewesen. So konnte er nicht wissen, an welchen Testspielen Marcus teilgenommen hatte. Trotzdem freute er sich für den anderen, und das breite Grinsen bekam er heute sowieso nicht mehr aus dem Gesicht.
Stattdessen kam ihm eine Idee; noch während er Marcus' Zettel in der Hand hielt, sah er Charlie im Gemeinschaftsraum wenig entfernt bei seinen Freunden sitzen, und ihm kam die einfachste Lösung in den Sinn: Charlie war Gryffindorkapitän; wenn jemand die Aufstellung der anderen Mannschaften kannte, dann er. Und so ging er hinüber zu den Sesseln vor dem Feuer, wo Charlie zusammen mit ein paar anderen Fünftklässlern saß.
»Hey«, begrüßte ihn Charlie direkt, und wandte sich seinen Freunden zu: »Jungs, das ist er. Oliver Wood, mein neuer Hüter.«
Interessiert wandten sich ihre Gesichter ihm zu, und Oliver spürte, wie er etwas rot wurde. Charlie hatte anscheinend schon von ihm erzählt. »Respekt, Weasley lässt nicht jeden in sein Team. Bist du wirklich so gut, wie er erzählt?«
»Ähm ... ich denke schon«, erwiderte Oliver, unsicher angesichts der Tatsache, dass Charlie offensichtlich bereits von ihm vorgeschwärmt hatte, und fügte dann, etwas mutiger, hinzu: »Wenn er erzählt hat, dass wir diese Meisterschaft gewinnen, dann schon.«
Die Jungs lachten anerkennend, und Charlie klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist mein Mann«, verkündete er stolz.
»Kann ich dich kurz sprechen?«, warf Oliver ein, und Charlie wurde wieder etwas ernster. »Klar. Worum geht's?«
»Kennst du schon die Aufstellungen der anderen Mannschaften?«
Charlie wirkte ein wenig überrascht. »Nicht vollständig, nein. Die endgültigen Aufstellungen müssen erst kurz vor den Spielen bekannt gegeben werden. Wieso, was willst du denn wissen?«
Oliver zögerte einen Moment, überlegte, wie er es formulieren sollte. »Ich ... hab gehört, dass ein ziemlich guter neuer Jäger in einer der Mannschaften ist.« Das war nicht einmal gelogen. »Er ... heißt Marcus – also, ähm, soweit ich weiß. Weißt du etwas über ihn?«
Charlie schien zu überlegen, und Oliver wartete angespannt. »Ja, Nymphadora hat es vor ein paar Tagen beim Frühstück erzählt. Ein Drittklässler aus Slytherin. Marcus Flint.«
Oliver grinste breit. »Danke!« Und bevor der verdutzte Charlie noch etwas sagen konnte, war Oliver auch schon wieder zurück zu seinem Platz am Fenster gelaufen, wo Percy am Tisch nebenan über seinen Hausaufgaben brütete. Er schnappte sich ein leeres Blatt Pergament, riss ein Stück davon ab und pflückte Percy die Feder aus der Hand. Dessen schwachen Protest ignorierend, kritzelte Oliver eine Nachricht auf den Zettel.
Dann muss ich mir wohl Sorgen machen, wenn wir gegen Slytherin spielen, Marcus ... Flint.
Mit einem Schlenker seines Zauberstabs begann der Zettel in seiner Hand zu flattern, und Oliver öffnete Fenster, um ihn freizulassen. Nur wenige Sekunden später war die Nachricht über dem Schlossgelände verschwunden.
Es dauerte kaum eine halbe Stunde, bis ihn die Antwort erreichte. Oliver war im Schloss unterwegs und streifte ziellos durch die Gänge. Während es im Gemeinschaftsraum laut zuging, waren die Korridore wie ausgestorben. Dass es bereits spät war und er eigentlich nicht mehr außerhalb des Gemeinschaftsraums sein sollte, kümmerte ihn nicht. Er war viel zu wach, um dort in einem der Sessel zu sitzen, geschweigen denn um an Schlafen denken zu können.
Er konnte nicht anders, als zu bewundern, wie ihn Marcus' Zettel immer wieder fanden, egal wo er gerade war, als er den Pergamentfetzen auf sich zufliegen sah und einfing, ehe er ihn auffaltete. Die Nachricht war hastig hingeschmiert, die Tinte ein wenig verwischt:
Woher weißt du das?
Oliver grinste und zog die selbstauffüllende Feder aus der Tasche seines Umhangs, die er sich angewöhnt hatte mitzunehmen. Er hielt das Pergament an die Wand des Korridors, um diese als Unterlage zu benutzen, während er auf die Rückseite des Zettels ein einzelnes Wort schrieb:
Astronomieturm
Die Aussicht über das Schlossgelände war atemberaubend. Oliver liebte es, hier oben zu stehen, am höchsten Turm der Schule, die Ländereien unter sich und den leichten Wind, der hier oben immer wehte, in den Haaren. Es beruhigte ihn, dort am Geländer zu stehen und auf ganz Hogwarts hinabzublicken, auch wenn es heute nicht so ganz gegen seine Aufregung half. Die Sonne war inzwischen untergegangen; nur ein schwacher Schimmer am Horizont zeugte noch von ihrem Licht. Stattdessen war der Mond am Himmel erschienen und sein mattes, weißes Licht schien auf das Schlossgelände herab. Es war spät geworden; langsam wurde es kalt. Doch Oliver blieb.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Oliver Schritte hinter sich wahrnahm. Mit klopfendem Herzen wandte er sich um. Ein Junge, nicht viel älter als er selbst, war die Treppen heraufgekommen. Eine leichte Röte hatte sich über seine Wangen gelegt, vermutlich vom Steigen der vielen Treppenstufen. Er sah ihn unsicher aus dunklen Augen an, während er sich nervös durch die schwarzen Haare fuhr. »Oliver...?«
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