Die zwanzigste Nacht
Die zwanzigste Nacht
Ich höre unsere Atemzüge. Ich sehe in Nasuhs Augen und ich sehe, wir sind verloren. Aber das will ich nicht.
Ich weiß genau, was ich als nächstes tue und ich weiß auch genau, dass ich es nicht für mich tue, selbst wenn ich mir das einrede.
Langsam richte ich mich auf und so entsteht ein noch winzigerer Abstand zwischen unseren Körpern. Es ist zuerst anstrengend, dann aber fühle ich mich federleicht. Er bewegt sich zu meiner Bewegung, sodass der Spalt zwischen uns noch geringer wird und dabei sieht er mir bloß in die Augen.
Nasuh kommt mit immer näher, ich weiß gar nicht, ob er das bemerkt, so paralysiert sieht er aus. Ich kann seinen warmen Atem auf meiner Haut aufprallen spüren. Ich sehe auf seine Lippen, dann wieder auf die grünen Augen und spüre, wie mein Herz anfängt, schneller zu schlagen. Ich bin nervös, habe Angst, einen Rückzieher zu machen.
Ich lege die linke Hand auf seine Brust und sie fühlt sich dort richtig an. Alles fühlt sich richtig an und das macht mir mein Vorhaben schwerer. Sein Blick gleitet kurz zu meiner Hand, sofort aber wieder zu meinen Augen. Es ist ihm nicht unangenehm, er stoppt nicht, legt seine Stirn auf meine und ich sehe runter zu seiner Hose.
Als ich wieder hochsehe, sehe ich ein Funkeln in seinen Augen, das ich zum ersten Mal sehe. Wie leben. Als würde er zum ersten Mal aufatmen. Ich reiße ihm dennoch die Pistole aus der Hose und richte sie ihm gleich darauf gegen seine Brust.
Ich sehe, wie er die Augen aufreißt, überrumpelt, aber auch enttäuscht. Ich sehe es in seinen Augen- die Augen, die ich die ganze Zeit betrachtet habe. Er ist wütend auf sich, nicht auf mich und das macht mich fertig.
Ich stehe auf, als er es auch tut und richte die Waffe genau auf ihn, atme tief ein und wieder aus. »Die Karten haben sich wohl gewendet.«
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Waffe ist kalt und passt nicht in meine Hand. Das alles ist falsch und trotzdem fühlt es sich gut an. Ich bin stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, dass ich nicht gezögert habe.
»Du willst mich umbringen?«, fragt er mich. Er klingt ein wenig belustigt, aber eher überrascht.
Nicht zittern, Derin.
»Derin«, haucht er und auf meinem Körper bildet sich eine Gänsehaut. Wie schafft er das nur, indem er meinen Namen nennt? »Du willst mich umbringen?«
Schnell schlucke ich, muss mich zusammenreißen. »Ich erlaube es nicht, dass du hier rausgehst.«
Jetzt hebt er die Brauen, scheint mein Vorhaben zu verstehen. »Du willst mich retten?«
»Ich will uns beide retten«, korrigiere ich ihn und kann diesen verletzten Ausdruck in seinem Gesicht nicht mehr ansehen.
»Aber ich bin schon verloren«, entgegnet er ruhig. »Du kannst nur dich selbst retten. Du hast jetzt die Wahl. Weißt du nich mehr, wie du mich angeschrien hast, dass ich die Wahl habe? Jetzt hast du sie. Ich werde sowieso gesucht. Du kannst nur deine Haut retten.«
Er macht vorsichtig einen Schritt auf mich zu »Lass mich gehen und lebe gut.«
Tränen bilden sich in meinen Augen. Ich schüttele heftig den Kopf.
»Du bist kein Mörder«, sagt er sicher und hebt die Hände in Schulterhöhe, als würde er sich ergeben. »Derin, du kannst mich nicht umbringen.«
Sein nächster Schritt sorgt dafür, dass die Waffe gegen seine Brist gedrückt wird. »Du kannst nicht.«
Er drückt sich noch näher zu mir und ich kann wirklich nicht schießen und ich hasse mich so sehr, als er mir mit Leichtigkeit die Waffe abnimmt. Er richtet sie nicht gegen mich, sondern wirft sie in eine Ecke des Zimmers.
Ich will weinen, schäme mich zu einem gewissen Grad und frage mich dann, wieso ich ihm helfen will. Weil er mich gerettet hat. Zweimal?
Nasuh kommt mir näher und meine Beine lassen nach, sodass ich auf die Matratze falle und nachdenke, ob ich genauso reagieren würde, wenn Lara nicht tot wäre. Würde ich dann eher kämpfen?
Ich sehe hoch, wie Nasuh sich über mich beugt und die Hände links und rechts von mir abstützt, sodass ich in eine liegende Position falle. Ich falle.
Seine Beine positioniert er auch neben meinem Körper und meine Gedanken sind so laut und verurteilend, dass ich das erst spät richtig realisiere. Es ist wie an jener ersten Nacht, in der er mich gefangen genommen hatte und ich versucht hatte, abzuhauen.
Seine grünen Augen leuchten in der Dunkelheit auf. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieses Gift in seinen Augen mich verseuchen würde. Dabei verseucht es ihn selbst. Er bringt sich um.
»Keine Sorge«, flüstert er, als er meine Stille bemerkt. »Ich werde dir nichts antun.«
Ich sehe ihm in die Augen, will dieses Gift wegbekommen, aber bevor ich mich fragen kann, wie ich das anstellen soll, entfernt er sich von mir und läuft zu seiner Pistole.
Ich will mich wieder aufrichten, als er in seiner Tasche kramt und diese kleine Bewegung sorgt dafür, dass sich mein Magen dreht. Ich drücke die Hand gegen meine Lippen und halte den Atem an. Mir ist so übel, dass ich aufspringe und zur Toilette renne. Woher kommt auf einmal diese Kraft?
Nasuh läuft mir nach. Keine Ahnung, ob er denkt, dass ich abhauen will oder nicht. Ich kann mich schwer halten und übergebe mich in die Toilette, was mich selbst anwidert.
Ich spüre, wie er mir die Haare aus dem Gesicht zieht, bevor ich sie besudeln kann, aber ich will nicht, dass er mich so sieht. Ich will, dass mich niemand so sieht. Die Säure sticht in meinen Hals, der Geschmack ist so widerlich, dass ich wieder einen Würgereiz hervorbringe.
Er streicht mir über das Haar, als würde er versuchen, mich zu beruhigen. Vielleicht tut er das auch, schließlich wimmere ich, als ich mir mit einem Tuch den Mund abwische.
»Ich bringe dir was zum Trinken«, sagt er monoton. Ich wasche meinen Mund aus, trinke noch etwas und fühle mich wie befreit. Die Matratze scheint mir bequemer und ich schlafe sanft ein. Ich bin normalerweise niemand, der schnell krank wird. Aber wenn ich krank werde, verfolgt es mich wie ein Grauen.
Ich wache immer wieder kurz auf und schlafe dann wieder ein. Manchmal kann ich gar nicht sagen, ob ich schlafe oder nicht.
Ich träume wieder schlecht. Es ist der schlimmste Traum von allen. Es ist wie eine Erinnerung, wie eine Rückblende.
Ich sehe Fatima, wie sie rennt, nur renne ich nicht neben ihr, sondern schlage ich mit einer Eisenstange auf sie ein.
Ich sehe Männer, aber sie prügeln nicht auf mich ein, sondern ich erschieße sie.
Ich sehe Lara, aber ich weine nicht vor ihrer Leiche, ich bringe sie um.
Ich sehe Nasuh, aber er hält keine Pistole, sondern ich- und ich drücke ab.
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