Die sechste Nacht
Die sechste Nacht
Seine Augen sind giftgrün und leuchten, während er den Finger auf den Abzug legt. In seinem Blick ist neben Hass, Wut und Genugtuung noch etwas anderes. Verzweiflung.
Die dunklen Brauen zieht er gequält zusammen. Irgendetwas hält ihn zurück.
Es ist komisch, aber ich spüre auch etwas wie Genugtuung. Toygar ist gestorben. Er hat meine Schwester umgebracht und ist dann gestorben. Einen so leichten Tod hätte ich ihm nicht gewünscht, aber nun ist er weg. Jetzt kann man mir auch mein Leben nehmen, denn damit, meine Schwester umgebracht zu haben, könnte ich nicht leben.
Der Mann streicht über den Wochenbart und entspannt den Rücken. Er sieht runter zu Lara und bückt sich dann zu ihr, um ihren Puls zu messen.
In mir steigt Hoffnung, aber er macht sie genauso schnell zunichte. »Sie ist tot. Ich spüre keinen Puls.«
»Nein«, wimmere ich und ich fühle mich so schwach, wie in meinem Leben noch nicht. Meine Schwester ist tot.
Sie ist tot.
Das ist so absurd. Gleich wird sie aufstehen und lachen, mich umarmen und sich beschweren, dass ich sie nicht oft genug besuche.
Tot. Nein, das passt nicht. Bisher habe ich nie Erfahrungen mit dem Tod gemacht, nicht einmal eine einzige. Menschen sterben, ja, aber nicht meine Familie, nicht meine winzige Schwester.
Ich habe sie umgebracht, indem ich Begüm ins Haus gelassen habe. Ihr Leben gegen das meiner Schwester, Es ist meine Schuld.
Ich spüre die Tränen erst, als mich der Mann wieder mustert. Meine Stimme kommt mit furchtbar fremd, als ich losweine. Meine Brust verengt sich, es fühlt sich an, als würde ich sterben.
Er kommt mir näher, aber das blende ich aus. Stattdessen kreische ich mir die Seele aus dem Leib. Wieso haben sie dich getötet, Lara, anstatt mich?
Der Mann hebt wieder die Pistole, aber statt mit ihr zu schießen, knallt er sie mir mit voller Wucht gegen meinen Kopf.
Mit Gewalt das Bewusstsein zu verlieren, ist eine Art Routine geworden. Als ich die Augen aufschlage, bin ich nicht mehr in diesem grauen Raum, mit den Betonböden, die ich auswendig kenne.
Der Raum hier ist deutlich kleiner, aber so abgedunkelt, dass ich kaum etwas erkenne. Ich liege auf einem Bett, so fühlt es sich an. Die Fesseln sind noch an meinen Armen und Beinen. Das Grauen nimmt kein Ende.
Dann kommt die Erkenntnis, die Erinnerung an die Schüsse und an all die Tote. Mein Herz hämmert gegen meine Brust und ich atme unregelmäßig. Es ist, als würde das ganze Blut noch an mir kleben, an meinem Gesicht, an meinem Körper.
Lara. Ihr Name schießt wie von einer Pistole durch meinen Kopf. Das muss ein Alptraum sein.
Ich blicke wild umher, suche vergeblich eine Fluchtmöglichkeit und da treffe ich auf seine grünen Augen. Er ist die ganze Zeit über hier gewesen, in der Dunkelheit, und hat mich beobachtet.
»Du brauchst mich nicht«, presse ich schwer hervor. »Lass mich gehen.«
Ich verkrampfe augenblicklich. Seine Gesichtszüge sind eiskalt. »Tut mir leid, du hast mein Gesicht gesehen.«
»Verdammt, was nützt mir dein Gesicht?«, zische ich. Ich will nur weg von hier. Der Rest ist mir egal.
»Du könntest zur Polizei gehen.«
»Macht das Sinn?«, frage ich eindringlich. Sie haben meine Schwester umgebracht. Das letzte, was ich will, ist, dass sie leben.
Er legt den Kopf schief, betrachtet mich genau. »Erst wenn das Spiel vorbei ist, bist du frei.«
»Was für ein Spiel?«, rufe ich. Das ist der Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken, zig Menschen erschossen hat. Woher mein Mut also kommt, kann ich nicht sagen. Wieso er mich nicht umgebracht hat, kann ich auch nicht nachvollziehen. Aber das ist mir egal. Alles hat seinen Wert verloren.
Er sieht mich nur an. Es fühlt sich komisch an, wie er kaum ohne Regung seinen Blick nicht von mir nimmt. Dann streicht er sich durch den Bart, der gepflegter aussieht als beim letzten Mal. Vielleicht liegt es auch am Licht.
»Rache«, antwortet er gelassen. Eine halbe Ewigkeit ist nach meiner Frage vergangen. »Ich wollte sie büßen lassen.«
»Du hast sie doch umgebracht.«
»Aber nicht ihn«, spricht er aus und Hass entflammt in dem Grün seiner Augen. »Er war nicht dort.«
»Wer?«, frage ich, kriege aber keine Antwort. Er steht stumm auf und verlässt den Raum.
Mein Puls geht runter. Wieso habe ich keine Angst mehr? Weil es keinen Sinn mehr hat? Wie sollte ich vor meinen Eltern stehen mit dem Wissen, dass es meine Schuld war, dass meine Schwester wegen mir tot ist?
Ist es denn besser gleich zwei Töchter zu verlieren?, schießt es mir durch den Kopf. Ich weiß es nicht.
Ich versuche mich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bewahren. Das mit Toygar, der Entführung und all die Schläge waren verwirrend, aber sie waren mir real vorgekommen. Die Situation jetzt aber will nicht in meinen Schädel. Es war so surreal und das ist es noch immer. Selbst der Tod meiner Schwester. Ich habe das Gefühl gleich aufzuwachen und Toygars Gerede zu hören. Dann würde ich ihn umstimmen können, meiner Lara nichts zutun.
Es fühlt sich nach einer Ewigkeit an, dann ist er wieder zurück. »Du hast sicher Hunger«, meint er und gleichzeitig steigt mir der Geruch von frischem Brot und Gebäck.
Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Und wie ich Hunger habe.
»Hör mal, ich bin nicht scharf darauf, dich zu füttern, aber deine Fesseln werde ich sicher auch nicht entfernen. Also gebe ich dir das Essen und du kaust brav, verstanden?«, meint er und setzt sich vor mich.
Ich richte mich langsam auf. »Wo sind wir hier?«
Er reicht mir zuerst ein Stück Gebäck und ich beiße gierig rein. Sein Gesichtsausdruck lässt keine Emotionen erkennen. »In einer kleinen Hütte in der Nähe eines kleinen Sees im Wald.«
Ob er die Wahrheit sagt? Ich könnte nichts ausmachen, bei seiner Mimik. Ich weiß nicht einmal, wieso er mir antwortet.
»Du könntest schreien«, fährt er fort, während ich kaue. »Aber bis jemand kommt, ist deine Leiche im See und färbt das Wasser blutrot.«
Ich verschlucke mich und fange an, zu husten. Er steht panisch auf, was mich irgendwie überrascht, und sieht sich nach einer Flasche um, die er gleich findet. Er setzt sich zu mich. Es dauert eine Weile, bis ich trinken kann, weil das komplizierter ist, als gedacht.
»Der Förster, der sich um alles kümmert, hat Urlaub und der andere tut so, als hätte er den Terminkalender voll. Damit hast du wohl die Arschkarte gezogen, falls du abhauen willst«, erklärt er. »Willst du noch etwas trinken?«
Ich schüttele den Kopf. »Aber essen.«
Er lächelt ausdruckslos. Nur seine Mundwinkel bewegen sich. Der Rest des Gesichts bleibt wie vorher. »Du hast keine Angst, dass ich dich vergifte?«
»Mich am Leben lassen und bis hierher bringen, um mich umzubringen, klingt doch lächerlich?«
Ich nehme noch einen Bissen und spüre, wie der Hunger immer weiter wächst.
»Vielleicht habe ich ja bemerkt, dass ich einen Fehler gemacht habe«, erwidert er.
»Eine Gefangene ist doch sowieso eine halbe Tote«, denke ich laut nach und denke wieder an Lara. »Sie haben meine Schwester umgebracht. Ich wünschte, sie hätten mich auch umbringen können, bevor du gekommen bist.«
Er hebt die Brauen. »Dann mach mir keine Umstände und bring dich selbst um.«
»Gefesselt geht das ganz gut«, entgegne ich und eine Weile sagen wir nichts, bis wieder mein Magen knurrt.
Er reicht mir ein Stück Brot und ich schüttle den Kopf. »Kein Appetit.«
»Iss es. Ich habe dich nicht umsonst da rausgebracht«, gibt er genervt von sich.
»Wieso hast du das getan?«, frage ich. Ich weiß nicht, wie ich mit jemandem sympathisieren kann, der Menschen umgebracht hat, aber es fühlt sich nicht so an, als sei er der böse.
»Weil du dort nicht sein wolltest«, antwortet er. »Weil du unschuldig warst.«
»Und du bist es auch?«, frage ich.
»Iss einfach dein Essen, Mädchen.«
»Derin«, lächle ich. Vielleicht kriege ich ihn dazu, mir zu vertrauen. Vielleicht kann ich rennen. Vielleicht schaffe ich es, diesem Alptraum zu entkommen. »Mein Name ist Derin.«
Er sieht mich entgeistert an. »Ich habe dich nicht gefragt.«
»Aber ich frage dich«, meine ich. »Wie heißt du?«
»Du glaubst, wir sitzen im selben Boot?«, will er wissen.
»Ich glaube nur, dass wir beide von derselben Person verletzt wurden«, äußere ich mich. »Und wir wollten beide, dass er stirbt.«
Ich habe keine Ahnung, was es ihm bringt, mich immer so lange zu mustern. Er tut es so oft. »Toygar und sein Pack interessieren mich null. Mit denen habe ich nichts zutun. Meine Rache gilt jemand anderem. Ich habe nur gehofft, dass ich ihn bei denen finde.«
Ich reiße die Augen auf und schlucke dabei laut. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Deshalb starben diese Männer und nicht, weil sie ihm etwas angetan haben. Ich bekomme Angst.
Das scheint ihm zu gefallen. »Wo du es doch so gerne wissen willst«, grinst er amüsiert. »Ich bin Nasuh.«
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