Die fünfundzwanzigste Nacht
Die fünfundzwanzigste Nacht
»Sie wacht auf!«, höre ich eine so schöne Stimme, dass mein Herz mit einem Mal anfängt, schneller und härter zu schlagen.
Ich weiß nicht, wann ich wieder eingeschlafen bin, aber jetzt fühlt es sich so an, als sei ich aus einem Traum erwacht. Einem langen Alptraum.
Mein Körper fühlt sich schwer an. Meine Mutter streicht über mein Haar, während ich die Lider öffne. Ihr Gesicht ist zuerst verschwommen, dann sehe ich ihr Gesicht so scharf vor mir, dass ich versuche, mir jedes Detail einzuprägen.
Ihre Augen werden glasig, als sie die freie Hand auf den Mund drückt. Erleichterung zeichnet sich in ihrer Mimik ab. »Derin.«
Ich möchte niemals vergessen, wie viel Geborgenheit mir ihre Stimme schenkt.
Sie sieht zu meinem Vater, der auch an mein Bett gesprintet ist und mich besorgt ansieht.
»Geht es dir gut? Warte, ich rufe eine Schwester«, schießt es wie aus einer Pistole aus ihm und gleich darauf ist er aus dem Zimmer.
Ich schlucke schwer und versuche mich aufzurichten.
»Bleib liegen«, sagt meine Mutter behutsam und kann sich nicht mehr halten. Tränen strömen über ihr Gesicht. »Ich hab mein Baby wieder«, schluchzt sie. »Wie kann ich mich dafür bedanken? Ich habe mein Baby wieder.«
Sie hält mich, als hätte sie Angst, ich würde verschwinden, täte sie es nicht mehr. »Wie lange warst du weg? Wie lange habe ich auf dich gewartet?«
»Ich bin doch wieder da«, krächze ich und versuche meine Stimme wiederzufinden.
»Ich bin so dankbar«, flüstert sie und küsst meinen Handrücken. Die Tür wird geöffnet, aber es ist nicht mein Vater, der hereinkommt oder eine Krankenschwester.
Es ist Lara, meine kleine Schwester. Die Lara, die vor mir gestand hat, bewusstlos. Die Lara, dir tot war, die keinen Puls mehr hatte, die Toygar umgebracht hat. Sie betritt den Raum und reißt die Augen auf. »Abla! (Schwester!)«, ruft sie besorgt und rennt auf mich zu.
In ihrer Hand ist eine Flasche Wasser, vermutlich vom Automaten. Sie öffnet ihn schnell. »Trink«, lächelt sie und reicht es mir. Ich bin noch zu geschockt, um zu realisieren, dass sie echt ist und keine Einbildung. Sie ist da, aus Haut und Fleisch.
Ich hebe die zitternde Hand und berühre ihren Arm. Das ist so irritierend schön, dass ich mit einem Mal anfange zu weinen. Sie ist nicht tot. Meine Schwester ist nicht tot.
Lara blickt hilfesuchend zu meiner Mutter.
»Du lebst«, nuschele ich hysterisch und meine Mutter reißt die Augen auf.
»Ich wusste es«, ruft sie und steht auf. Ihre Atmung wird unregelmäßig. »Das Verschwinden von Lara und dein Verschwinden! Es hat einen Zusammenhang.«
Ihre Finger zittern, sie schüttelt den Kopf, zieht die Brauen verzweifelt zusammen. »Ich hätte euch beide verlieren können! Euch beide!«
»Anne! (Mutter!) Mach nicht so!«, bittet Lara und macht einen Schritt zu meiner Mutter. »Du hast uns beide!«
Meine Mutter umarmt sie fest und drückt mich auch an sich. Ihr Körper bebt. Wie soll sie jemals wieder eine Nacht ruhig schlafen können? Wie soll sie das jemals vergessen können?
Die Krankenschwester kommt, es gibt eine kleine Kontrolle und ich habe das starke Gefühl, dass etwas fehlt. Irgendetwas scheint nicht richtig zu sein. Vielleicht konnte ich es auch nur noch nicht realisieren.
»Alles gut«, berichtet die Krankenschwester und lächelt mir munter zu und ich zucke bei ihren nächsten Worten zusammen. »Nur diese eine Nacht müssen wir dich noch hier behalten.«
Ich lächle gequält und nicke, versuche dabei die Worte aus meinem Kopf zu verbannen, die Tränen hochschießen lassen.
Meine Familie will keinen Zentimeter von meiner Seite weichen. Mein Vater sieht sich oft panisch um, als ich am Abend raus will, um frische Luft zu schnappen und wir die Treppen runter laufen, als würde jemand uns von ihm reißen, wenn er nur blinzeln würde.
Ich kann es ihnen nicht verübeln. Das alles ist schwer zu verdauen.
Ich denke an Nasuh, nehme mir vor, ihn zu vergessen. Die ganze Zeit über war er ein mordender Entführer und ich die Entführte. Mehr gibt es nicht.
Meine Eltern haben Fragen, zig tausende, aber sie trauen sich noch nicht, eine einzelne zu stellen. Ein blonder Polizist befragt mich, bevor ich gehen soll. Meine Eltern habe ich gebeten, sich hinzusetzen und etwas zu essen, bis ich das hinter mir habe. Ich will da alleine durch. Sie bieten mir einen Psychiater an, aber ich lehne ab. Niemand weiß, was ich durchlebt habe und so ist es gut.
»Ich bin Fatih«, stellt sich der Polizist vor und versucht eine gute Atmosphäre herzustellen, damit es sich nicht wie eine Befragung anfühlt. Aber das ist es.
»Derin«, erwidere ich und kann nicht anders als zu vergleichen, wie mein Name mit Nasuhs Stimme klang. Sie klingt oberflächlich, nicht mehr so intensiv wie bei ihm.
Ich presse die Lippen zusammen und gebe dann so wenig Information von mir, wie möglich.
»Er ist nicht tot, oder?«, frage ich den Polizisten.
Er hebt die Brauen, Mitleid steht ihm in den Augen geschrieben. »Er ist am Leben, aber Sie brauchen sich keine Sorgen machen. Dort, wo er hinkommen wird, dort wird er niemandem mehr wehtun können, nur noch wünschen, er sei tot.«
Ich verkrampfe und schlucke dann. Mir wird so warm und mein Körper zieht sich unangenehm zusammen.
»Hey, alles gut?«, fragt der Polizist und steht auf, um zu mir zu kommen.
Ich nicke. »Mir war nur kurz schwindelig.«
»Soll ich eine Kranken-«
»Nein, alles gut«, unterbreche ich ihn und stehe auf. Ich will nicht, dass es irgendjemandem auffällt, dass ich nicht will, dass Nasuh im Gefängnis landet. Wieso denke ich so?
»Ich versichere Ihnen, wir werden dafür sorgen, dass er seine Strafe bekommt«, verspricht er mir und ich nicke nur. Das ist, das Richtige. Aber wieso fühlt es sich nicht richtig an?
»Und was ist mit dem anderen Mann?«, frage ich, damit das Thema Nasuh beendet ist. Er kriegt seine gerechte Strafe. Ich muss zufrieden sein. Nachdem ich die Frage stelle, kommt mir ein Gedanke, den ich verdrängt zu haben scheine. Begüm. Begüm ist auch hier.
»Er liegt in der Intensivstation. Seine Freundin wartet auch schon auf ihn.«
Ich reiße die Augen auf. »Begüm.«
Und dann renne ich zur Information, frage, wo die Intensivstation liegt, weil ich keine Ahnung habe und rase dann dorthin.
Begüm sitzt wie verstört auf einem der Stühle und starrt auf ihren Schoß. Ich laufe auf sie zu und ihr Blick gleitet hoch.
»Derin.«
Wieso müssen heute alle meinen Namen nennen?
»Gibt es etwas Neues?«, frage ich, doch sie schüttelt den Kopf. Was will ich eigentlich? Dass Davud stirbt oder am Leben bleibt? Dieser Mann hat Nasuhs Familie umgebracht und wer weiß danach auch wie viele andere Menschen. Aber ist das juristisch bewiesen? Wird er in ein Gefängnis kommen und verrotten, wenn er lebt?
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüstert sie und sieht wieder runter. Ihre Augen sind rot umrandet. Sie hat viel geweint, man sieht es ihr an. Die Wangen samt Nase ist rötlich und die Lippen spröde.
»Ich auch nicht«, gebe ich zu.
»Es tut mir leid«, nuschelt sie, kann mich nicht mehr ansehen. »Ich habe nie gedacht, dass sie dich einbeziehen. Ich wollte nur eine Nacht bleiben und habe dich doch all die Nächte erleben lassen.«
Ich sage nichts. Dafür ist auch keine Zeit, denn die Ärzte kommen und sie teilen uns mit, dass Davud diese Operation nicht überlebt hat.
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