Die dreizehnte Nacht
Die dreizehnte Nacht
»Gehört dieses Haus dir?«, frage ich und sehe mich um. Nasuh hat mich in seine Arme genommen, als sei ich eine kleine Puppe und trägt mich aus dem kleinen Raum.
»Ja«, antwortet er knapp. Sein Körper ist warm. Ich könnte hier einschlafen und seinem Atem lauschen. Er jedoch entscheidet sich, mich auf das Sofa zu legen, wo ich mich aufrichte.
»Wieso die Umstände? Ich hätte doch herhüpfen können«, gebe ich sarkastisch von mir. »Wenn du doch eh schneller als ich bist, könntest du doch die Fesseln abnehmen.«
»Oder ich knebele dir den Mund zu«, meint er wieder monoton.
»Wenn ich hier schreie, hört es jemand?«, provoziere ich ihn.
Er lässt sich neben mich fallen. »Wenn ich dich erschieße, hört das sicher jemand.«
»Wieso jagst du nicht diesen komischen Mann. Ich will endlich diese Fesseln losbekommen.«
Ich bin hungrig und genervt.
»Wieso musstest du deine Arme auch über dieses Efeu reiben?«, presst er genauso genervt hervor. »Denkst du, ich will hier weiter rumsitzen, wenn ich stattdessen den Kopf von diesem Mann gerade in meiner Hand halten könnte?«
»Iiehw«, grummele ich. »Ich will was essen. Hör auf, so zu reden.«
»Noch mehr Wünsche, Prinzessin?«
Ich strecke ihm die Arme aus und sehe ihn vielsagend an. »Oder willst du mich füttern?«
»Du darfst nicht kratzen.«
»Wenn ja, erschieße mich einfach«, zucke ich mit der Schulter.
Er entfesselt meine Arme und ich bekomme den Drang, meine ganze Haut über die juckende Stelle rauszureißen. Unsere Gespräche werden immer irritierender, bemerke ich im Nachhinein. Es ist nahezu absurd. Ich starre auf meine Arme.
»Nein«, bemerkt er meinen Blick. Ich seufze und mache mich an das Essen zu schaffen. Mein Appetit wächst, als ich den ersten Bissen mache. Essen, trinken, fehlt nur eins. »Kann ich auch duschen?«
Er sieht mich verdutzt an.
»Ist das Fenster im Badezimmer so groß, dass ich abhauen könnte?«, frage ich und seufze dann. Die meist benutzen Wörter in unseren Gesprächen sind Rache, abhauen, erschießen und ach ja, er sagt auch allzu oft, dass er meinen Mund zukleistern will.
»Nein, ist es nicht«, antwortet er monoton und beschäftigt sich wieder mit seinem Essen. Ich lehne mich zurück, bin pappsatt.
Eigentlich ist er kein so schlechter Mensch. Er ist ziemlich kalt und scheint unnahbar, aber in ihm steckt eine Seite, die trotz allem fürsorglich und warmherzig ist. Ich frage mich, was er für ein Mensch war, bevor das alles geschah. Was für ein Mensch er geworden wäre, wenn das alles nicht passier wäre.
»Was würde geschehen, wenn du ihn nicht zu fassen bekommst?«, frage ich kleinlaut. Meine eigentliche Frage ist: Würdest du aufgeben?
In mir hofft ein Teil mehr als alles andere, dass er aufgeben würde. Aber bringt das überhaupt etwas?
»Entweder stirbt er oder ich. Da gibt es keine andere Alternative«, gibt er zu bemerken und mustert mich. »Hast du Angst, nie mehr freizukommen?«
Daran habe ich im Moment nicht einmal gedacht. Ich nehme diese Ausrede an und versuche sie zu verinnerlichen. Du hast Angst um dich selbst und nicht um einen kranken Mörder.
Als ich unter der Dusche stehe, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Das heiße Wasser, das über meinen Körper strömt und es entspannt, lässt mich glauben, dass alles nicht real ist.
Begüm kam nie. Fatima wurde nie verletzt. Toygar entführte mich nie. Seine Männer schlugen mich nie. Lara starb nie und Nasuh brachte nie so viele Menschen um und entführte mich hierher.
Paradox, dass er Menschen so leicht das Leben nehmen kann und vor mir nicht einmal die Hand erhebt. Nur leere Drohungen wirft er an meinen Kopf.
Vielleicht aber sind sie nicht so leer. Ich kenne ihn doch gar nicht. Wie viel Nächte waren das jetzt? Ich versuche auszurechnen, aber irgendwann weiß ich nicht mehr, wie lange ich ohnmächtig war oder wie lange mein Schlaf angedauert hat. Letztendlich hat es sowieso keinen Sinn. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.
Nasuh hat mir etwas zum Wechseln und ein Badetuch gegeben. Ich wickele es um meinen Körper und merke, dass mein Kopf immer noch nicht ganz geordnet ist. Ich bin zwiegespalten und das kann ich nicht mehr leugnen.
Einerseits will ich mir selbst treu bleiben, andererseits verstehe ich ihn einfach zu gut.
Resigniert blicke ich eine Weile auf die weißen Dielen, ziehe mich dann doch um.
Nasuh cremt meine Arme, obwohl ich das auch selbst machen könnte. Unter seiner Berührung scheinen meine Arme innerlich zu vibrieren. »Mach dich auf etwas gefasst. Unsere Reise geht weiter.«
»Hat dich damals jemand gesehen, als du im Lager warst?«, frage ich und meine Stimme ist so leise, dass ich denke, er könne es überhört haben.
»Außer dir? Keine Ahnung.«
»Sonst wären doch sicher schon Bilder von dir rumgegangen«, meine ich und frage mich, ob er bemerkt, in welche Richtung dieses Gespräch geht.
»Vielleicht sind sie schon und wir haben keine Ahnung«, zuckt er mit der Schulter. Er weiß genau, was ich sagen will.
»Gibt es keine Möglichkeit, dass du es belässt?«, fasse ich meinen Mut zusammen und sehe ihm in die giftgrünen Augen.
Er hebt die Brauen und ich sehe Schmerz in den Augen. Es ist, als wäre Glas in dem Grün zerbrochen. »Belassen? Sehe ich so aus, als könne ich es belassen?«
Er wirkt einschüchternd, sodass ich den Blick abwende. Sein Haltung wird verkrampfter. »Sehe ich so aus, als könne ich damit leben, dass das Blut meiner Eltern und meines Bruders auf dem Boden bleibt? Nein. Das kann ich nicht. Das ist nicht gerecht.«
Ich versuche den Blick zu heben und zu widersprechen. Egal was, irgendetwas zu sagen, dass ihn umstimmt, damit wir aufhören können. Damit er aufhören kann. Aber ich schaffe es nicht.
»Du hast keine Ahnung«, presst er hervor und dabei zittert seine Stimme.
Ich bekomme es hin, ihn anzusehen. Seine Augen sind glasig geworden. Ich kann in ihnen erkennen, wie seine Seele zersplittert.
»Du weißt nichts«, presst er hervor und steht dann auf. Er zeigt mit dem Finger auf die Tür, aus der sein Onkel verschwunden ist. »Sieht du das? Von dort kamen sie. Wie eine Horde, alle schwarz gekleidet, alle mit diesen kalten Gesichtern.«
Seine Atmung wird bei jedem Wort unregelmäßiger. »Was für eine Schuld hatte meine Mutter? Welche Schuld kann ein achtjähriger kleiner Junge tragen?«
Seine Stimme hallt an den Wänden. Als würde sie seine Worte und damit seine Aussage verstärken. Als würden sie versuchen zu zeigen, dass sie Zeugen von all dem sind.
»Sie hat nur gearbeitet, ihr ganzes Leben lang. Ein Leben hatte sie ja nicht einmal. Der Ehemann, der seinen Job verloren hat und auf Glücksspiele setzt, die beiden Kinder, der widerwärtige Bruder, der jedes Mal mit einer anderen Ausrede wegen Geld angekrochen kommt. Was glaubst du, wie lange hätten es ihre zerbrechlichen Schultern ertragen?«
Er atmet tief ein. »Schulden hatte mein Vater, von denen wir nichts wussten. Von den Glücksspielen wussten wir auch nicht. Er ging und behauptete, Arbeit zu suchen. Abends kam er erfolglos. Woher hätten wir wissen sollen, dass es ihn kränkte, nicht gewinnen zu können anstatt dass er keine Stelle bekommen hat. Als wäre ihr alles nicht genug, hat sie ihn jedes Mal getröstet.«
»Als sie kamen, wollte er flüchten«, erzählt er und lässt die Arme sinken. Man bemerkt, wie enttäuscht er von seinem Vater ist. »Sie haben ihm gedroht, man töte seine Familie, wenn er die Schulden nicht abbezahlt und das haben sie getan. Sie sind gekommen und haben jeden einzelnen erschossen.«
Eine Träne streift über seine Wange. Sie lässt unsichtbare Spuren dort, die bis in seine Seele dringen. »Erst meine Mutter, dann meinen Bruder und als letztes meinen Vater.«
Er versucht zu lächeln, wieso kann ich nicht verstehen. Er schafft es aber doch nicht. Das Lächeln ist gebrochen und die Lippen beben, während die Augen zerbrochen funkeln. »In der einen Sekunde hatte ich eine Familie, in der nächsten hatte ich keine.«
Dann fährt Nasuh sich durchs Haar und kommt langsam zu sich. Er verlässt das Zimmer und ich starre ihm nach. Diese Nacht kann ich nicht schlafen. Meine Gedanken lassen mich nicht in Ruhe. Wenn ich schon allein bei einer Erzählung so paralysiert bin, wie viele Nächste muss er dann unfähig gewesen sein zu schlafen?
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