Vor der bitteren Medizin
Samstag stehe ich vor dem Spiegel in unserem Badezimmer und trage ein wenig Rouge auf meine Wangen auf, es hat die Farbe reifer Schattenmorellen und paart sich gut mit meinem dunklen Teint. Pari hat es für mich ausgesucht, vor bestimmt sechs Jahren. Eigentlich sollte ich es öfter tragen, der Ton steht mir wirklich gut.
Seit ich mich für Davids Geburtstagsparty umgezogen habe, geht es mir leider nur immer schlechter. Die Zweifel sind lauter geworden, die mir weismachen wollen, dass es keine schlechte Idee wäre, sich im Bett zu verkriechen und trotz der netten Einladung hierzubleiben. Die Woche war anstrengend für mich. Der Widerspruch, den das alles erzeugt, wenn ich einerseits einen normalen Arbeitstag beschreite, zeitgleich aber ständig spüre, wie es mental um mich steht ... Ebendieser Widerspruch, der macht mich ganz schön fertig.
Doch zu Hause zu hocken hat sich nicht bewährt gegen den Kummer. Im Gegenteil. Ich habe viel gekifft und dabei Tuas Stimme über meine Kopfhörer gelauscht. Das ist auch nicht viel besser als Alkohol. Was er wohl so macht, um alles weit genug verdrängen zu können, dass er funktionsfähig bleibt ...? Wahrscheinlich würde er mir den Kopf waschen für diese Formulierung. Aber da er nicht da ist, muss ich das wohl selbst übernehmen. Keine Vergleiche mehr von dir mit Maschinen, Iara, ermahne ich mich selbst.
Ich klemme mir meine Tasche unter den Arm und trete in unseren Hausflur. Es war eh keiner in der WG anwesend, sodass ich mich auch nicht verabschieden muss ...
Die Bar, von der mein Mit-Azubi gesprochen hat, ist nur wenige Minuten mit der U-Bahn entfernt und bereits gut gefüllt, als ich sie betrete. Auf den ersten Blick wirkt die Menschentraube wie ein ziemlich homogener Haufen. Die meisten sind in Davids und somit auch in meinem Alter. Garantiert ehemalige Kommilitonen von ihm.
Ich spreche eine Frau mit braunen Locken an, die mich anlächelt und auf meine Frage, ob sie David irgendwo gesehen hätte, zum Tresen im hinteren Teil des Gastraums deutet. Nachdem ich mich bei ihr bedankt habe, quetsche ich mich an ihrem Begleiter vorbei, der mich ebenfalls anlächelt. An der Bar entdeckt mich David sofort.
"Hey!", begrüßt er mich. "Schön, dass du's geschafft hast. Was möchtest du trinken?"
Ich entscheide mich für einen Cranberrysaft ohne Wodka. David brüllt dem Bartender meine Bestellung zu. "Darf ich euch vorstellen? Natsumi, das ist Iara, sie ist auch Azubi bei der Agentur; Iara, das ist Natsumi, meine Freundin."
"Hallo", sage ich und umarme die kleine Asiatin mit den schwarzen, seidigen Haaren und dem frechen Fransenpony. Ich kenne sie schon von seinen Posts auf Insta. "Dein Make-Up ist hübsch", mache ich ihr ein Kompliment für ihren silbernen Glitzerlidschatten.
"Es ist so cool, dich kennenzulernen!", freut sie sich. "David hat einiges erzählt von dir."
"Wie professionell ich arbeite, hoffe ich", meine ich augenzwinkernd und nehme meinen Saft entgegen.
"Ja!", bestätigt sie. "Aber auch, dass du immer allen so ein gutes Gefühl von Verlässlichkeit gibst, so als würdest du das Ding schaukeln. Egal, wie verfahren die Situation auch zu sein scheint."
Seine Beschreibung lässt mich lächeln und ich lasse David dran teilhaben, der mich ehrlich anstrahlt, was mir irgendwie gut tut. Er ist deutlich aufgetaut seit unserer ersten Begegnung. Nach wie vor ist er ein eher ruhigerer Charakter, was viel Gelassenheit reinträgt in die Zusammenarbeit. Das tut dem Team gut. Niemand ist so gelassen wie er. Auch ich nicht. Aber es ist schön zu wissen, dass er mich als besonders verlässlich ansieht.
Der Gastgeber des Abends berührt mich an der Schulter.
"Du hättest deinen Freund ruhig mitbringen können. Das hatte ich vergessen zu sagen."
"Alles gut", erwidere ich knapp. Damit muss ich leben, wenn ich die Trennung wirklich weiter unter Verschluss halten will. Bekannte werden mich fast immer nach Tua fragen. Sie haben mich schließlich kennengelernt zu einem Zeitpunkt, wo er und ich noch ein Paar waren.
Natsumi deutet in Richtung eines Tisches, um den sich einige Leute tummeln, Männer wie Frauen.
"David spielt hier noch ein bisschen weiter das Empfangskommitee. Ich wollte gerade zurück zu meinen Freunden. Möchtest du mitkommen? Wir finden einen Platz für dich."
Ich nicke dankbar und lasse mich von ihr zu der Gruppe rüberschleifen. Natsumi stellt mich allen vor. Ein paar von ihnen spielen Mikado. Denen schließe ich mich prompt an. Wer welchen Pegel erreicht hat, lässt sich gerade aus so einem Spiel wie Mikado immer schnell schließen, und weil ich mich gegen alkoholische Getränke entschieden habe liefere ich mir letztlich ein spannendes Duell mit Natsumi. Sie gewinnt, aber der Tisch entscheidet einhellig, dass ich für meinen herausragenden zweiten Platz ein weiteres Getränk spendiert bekommen soll. Meine Wahl fällt auf den alkoholfreien Cocktail, den Natsumi noch vor sich stehen hat, und den ich bei ihr probieren durfte. Ein Coconut Kiss. Süß und sahnig, um meine knappe Niederlage zu feiern.
Ihre Freunde nehmen mich toll in ihrer Mitte auf. Wir plaudern über uns, Arbeit/Studium/Ausbildung, Politik, und auch über gebrochene Herzen. Aber bei Letzterem halte ich mich zurück. Die Luft scheint mir so stickig geworden zu sein, dass ich mich kurz entschuldige, um nach draußen zu treten, wo ich David wiederbegegne, der mich zu sich und seinen Kumpels ruft. Sie reichen einen Joint rum. Verführerisch, doch ich lehne ab und werfe einen kurzen Blick auf mein Handy. Drei Stunden bin ich jetzt etwa hier. Das waren drei gute Stunden. Ohne diese enorme Kraft, die mich in die Tiefe zieht. Ich habe dem Sog zumindest heute wieder für ein paar Stunden getrotzt. Und es werden mehr Tage wie dieser folgen. Und irgendwann wird alles wieder normal sein. Und ich werde mich nicht mehr so leer fühlen.
Ich beantworte Tariks Nachricht, in der er mich fragt, wie es mir geht.
Iara: Ich bin okay gerade. Bin unterwegs, gehe ein bisschen unter Leute. Es ist nicht viel, was ich hier tue, um mich und die Situation besser zu verstehen. Ich muss mich schon immer noch damit konfrontieren, wie es jetzt weitergehen soll, aber ich bin heute einen Schritt gegangen, der sich gar nicht mal übel anfühlt. Die bittere Medizin habe ich auf morgen verschoben.
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