Prioritäten
Mikas Bett ist so viel gemütlicher als mein eigenes. Während er uns Snacks aus der Küche besorgt, fahre ich meinen Laptop hoch. Wir wollen mit Pari telefonieren. Ich bin so erschöpft in letzter Zeit, dass mich in der nachts nichts mehr wecken. Aber morgens immer kaputt, wenn der Wecker klingelt. Trotzdessen.
Die Tür schwingt auf und Mika stellt eine Schale mit frischem Mikrowellenpopcorn neben mir ab. Ich greife rein, werfe mir eine handvoll in den Mund. Der zuckrige Mais ist knusprig und warm.
Mika lehnt sich zurück, stopft sich ein Kissen in den Rücken und zieht sein Handy aus seiner Hosentasche. Er starrt auf sein Smartphone und hat die Stirn gefurcht.
"Alles gut bei dir?", will ich wissen, setze mich im Schneidersitz schräg vor ihn. Die Popcornschüssel wechselt ihren Platz und wandert in meinen Schoß. Er sperrt das Display und beugt sich vor, um sich auch eine gute Hand aus der Schüssel zu klauben.
"Ich weiß nicht, was ich Kitty schreiben soll", erklärt er seine gedämpfte Stimmung. "Ich will ihr sagen, dass wir in Frankfurt waren und was heute passiert ist. Aber wie?" Ratsuchend schaut er zu mir. Ich signalisiere ihm mit einer Geste, dass er mir sein Telefon geben soll.
"Wie wäre es, wenn du ihr erstmal bloß schreibst, dass du in Frankfurt warst, bei deinem Vater?", schlage ich vor und formuliere eine ganz schlichte Nachricht, in der wirklich nur das steht. "Sie wird dir sowieso Fragen stellen. Auf die Art weiß sie erstmal Bescheid und du kannst später Schritt für Schritt mit ihr durchgehen, was war."
Ich gebe ihm sein Handy wieder, ohne die Nachricht abzuschicken. Das soll er selbst tun. Er liest es ... Nach einer Weile nickt er.
"Danke", meint er beiläufig und ändert den genauen Wortlaut ab, bevor er auf Senden tippt.
"Es ist dann soweit", informiere ich ihn. Wir setzen uns nebeneinander und platzerieren den Laptop zwischen uns. Pari ruft genau pünktlich an. Ich klicke auf das grüne Symbol, um anzunehmen, und blicke in das hübsche Gesicht meiner besten Freundin. Sie ist ein süßer Anblick heute, ihre Haare sind leicht zerzaust und sie hat etwas Farbe im Gesicht bekommen. Vermutlich war sie schon draußen unterwegs heute. Ihre Wangen sind zart gerötet.
"Hey, Süße", begrüßt sie mich und lächelt. "Hey, Mika-Pika."
"Süße, es ist so schön, dich zu sehen", erwidere ich ihre Begrüßung freudig. Sie sieht so viel besser aus als zuletzt in Berlin, kurz vor ihrer Abreise. "Geht's dir gut?"
Pari seufzt und schüttelt den Kopf.
"Es geht so. Ich war heute Morgen mit meiner Tante Mahteb auf dem Markt. Sie macht gerade Kalam Polo Schirasi für uns. Mich hat sie aus der Küche gejagt, weil ich ihr zu langsam war beim Formen der Fleischbällchen. Meine Cousine Eflin sagt, ich soll mich nicht ärgern. Angeblich lässt sie sich eben nicht gern helfen."
"Aber du denkst, das hat was mit dir zu tun", stellt Mika freiheraus fest und Pari erstarrt kurz.
"Okay, stimmt", räumt sie ein. "Ich nehme das viel zu persönlich. Wie war euer Tag bisher?"
Statt ihr zu antworten, gucke ich Mika an. Er sieht flüchtig zu mir und wendet sich mit spürbarem restlichen Unwillen an Pari.
"Wir waren heute in Frankfurt am Main und ich hab zum allerersten Mal mit meinem Vater geredet."
Pari reißt ihre braunen Rehaugen auf.
"Was?", hakt sie irritiert nach.
"Ja, war nich' geplant", erklärt Mika leise und vermeidet es, in die Webcam zu schauen. "Kitty hat rausgefunden, wo er wohnt, und dass er Familie hat. Ich wollte nur mal vorbeifahren, wir haben dein Auto genommen. Wir haben geparkt, und dann ist er plötzlich rausgekommen. War Zufall."
"Wie war's?", fragt Pari vorsichtig. Auch sie weiß: Wann immer Mikas Vater zur Sprache kommt, muss man wie auf Eierschalen gehen. Er selbst erwähnt ihn nie, aber sowohl sie als auch ich haben uns schon öfter in die Nesseln gesetzt. Ein unbedachter Vergleich, ein spontaner Scherz - mehr braucht es nicht und die ganze Wut, die sich in Mika angestaut hat, erreicht ihren Siedepunkt.
Er schüttelt den Kopf auf ihre Frage hin, was natürlich keine echte Antwort ist.
"Soll ich?", frage ich ihn, und bemühe mich um einen neutralen Tonfall. Es ist nur ein Angebot, er kann es genauso gut ausschlagen. Doch ich registriere sein Nicken, also wende ich mich Pari zu. "Er hat ihn sofort erkannt und ihn gefragt, ob er Saschas Sohn wäre. Dann wollte er ihn irgendwie umarmen. Das war so daneben, dass ich ihn zurückgestoßen habe. Es hat mich dermaßen sauer gemacht, ich konnte mich nicht beherrschen. Sie haben sich über 20 Jahre nicht gesehen, da umarmt man sich doch nicht einfach zur Begrüßung, oder?"
Pari verneint.
"Vielleicht dachte er, dass er es trotzdem machen kann, weil er ja doch sein Vater ist", gibt sie aber noch zu bedenken.
"Ist er nicht", widerspricht Mika ihr scharf. "Hat er sich je wie einer verhalten?"
Ich schüttle finster den Kopf zu seinen Worten und deute auf meinen Kumpel, während ich fortfahre: "Er war schon wieder ins Auto gestiegen, da hat Heiko -" Ich unterbreche mich. "So heißt er", mache ich einen Einschub. Zu meiner Überraschung nickt Pari.
"Das weiß ich", versetzt sie und ich frage mich automatisch, woher. Dann fällt mir ein, dass Mika und Pari auch ohne mich viel - und vor allem viel intensiver - Zeit miteinander verbracht haben.
Bisher habe ich nie in Betracht gezogen, dass sie sich damals über Familienangelegenheiten ausgetauscht haben könnten ... Andererseits tun sie das heute immer noch. Sie sind Freunde und waren es praktisch, seit sie sich kennen. Dass sie sich zwischenzeitlich nähergekommen sind, hat nichts daran geändert.
Ich blinzle, fange mich dann aber.
"Jedenfalls hat er den Vogel endgültig abgeschossen, indem er mich gefragt hat, was wir wollen und ob es um Geld gehen würde", rekapituliere ich.
Pari klappt die Kinnlade runter und sie stößt einen empörten Laut aus. In ihren Augen flackert ein Feuer, dass ich darin schon lange nicht mehr habe lodern sehen.
Sie stößt offenbar eine Fluch auf Farsi aus, denn sofort erklingt eine ungehaltene weibliche Stimme aus dem Hintergrund, die sie zurechtweist. Ihre Tante. "Bacpehaneh", ruft Pari zurück in die Wohnung, was Entschuldigung auf Farsi bedeutet. Das hat sie mir irgendwann mal beigebracht. "Verdammt, Mika, das tut mir so leid", wendet sie sich wieder uns zu. "Kann ich was tun, damit es dir besser geht?"
"Ja, dasselbe wie Iara", antwortet er. "Wieder klarkommen und mir in Zukunft 'ne bessere Freundin sein.
"Mika", tadle ich ihn für seinen motzigen Tonfall. Ich will Pari in Schutz nehmen. Und mich selbst irgendwie auch. Aber das lässt er sich nicht bieten.
"Was Mika?", entgegnet er genervt. "Hör auf. Ich streite mich kein zweites Mal wegen demselben Scheiß mit dir."
"Hallo, stopp", verlangt Pari auf einmal ernst. "Wir zicken uns bitte nicht an in diesem Call, okay? Ich bin nach Shiraz geflogen, um mein Leben in Griff zu kriegen. Also ich mache, was du dir von mir wünschst, hast du gehört?" Sie fixiert Mikas Abbild auf ihrem Screen. Das Feuer in ihren großen Augen brennt weiter.
"Gut", gibt Mika zurück. "Es ist viel blödes Zeug in meinem Leben passiert zuletzt. Ich hätte euch gebraucht. Aber ihr steckt beide so tief in eurem Drama, das nervt übel."
"Hier zu sein, hilft", meldet sich Pari wieder zu Wort. "Ich hab den Abstand zu Dag und zum Studium gebraucht. Und ich merke zurzeit aber auch, wie sehr ihr mir fehlt."
Mir steigen Tränen in die Augen, als sie es ausspricht, weil mir in diesem Moment so bewusst wird, dass uns das Schicksal zusammengeführt und auseinandergerissen hat. Sie ist im Iran, und wir sind hier, oder besser gesagt: Mika ist hier, während ich irgendwo in meinen Erinnerungen herumgeistere und zulasse, dass meine kaputte Beziehung mein ganzes Leben verschluckt.
"Süße?", adressiert Pari mich plötzlich. "Bist du okay?"
Ich ziehe die Nase hoch und richte mich ein Stück auf.
"Ihr seid die zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben", sage ich. "Ist mir einfach gerade so klar geworden. Ich hab Stean und Tarik lieb, und den ganzen Rest, ihr kennt ja alle. Aber ihr seid einfach die Wichtigsten. So ganz objektiv."
Mika legt unerwartet seinen Arm um meine Schultern, drückt mich seitlich an sich.
"Jetzt merk dir das", brummt er und als ich ihn anschaue, schenkt er mir ein Lächeln.
Auch Pari grinst in ihre Webcam.
"Wir sind Freunde für immer, Iara. Wir lieben dich."
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