Apfel und Stamm
Es vergehen mehrere Stunden, bis wir im hessischen Taunus Halt machen. Vor einem schicken Herrenhaus im altenglischen Stil.
"Hier wohnt dein Alter?" Ich staune über den prunkvollen Bau, schalte den Motor aus, und lasse meinen Blick an der der roten Backsteinfassade hinaufgleiten bis zu den obersten weiß-gerahmten Fenstern hoch.
"Kitty hat mir schon Fotos gezeigt", sagt er. Doch es ist ihm anzuhören, dass es eine völlig andere Sache ist, diesen Familien-Landsitz gerade in all seiner Herrlichkeit direkt vor sich zu sehen. Ich will lieber nicht wissen, wie viele tausend Euro an Unterhalt, die Mikas Vater seiner Mutter theoretisch schuldig wäre, in diesem Haus drinstecken.
Mein Kumpel öffnet die Tür auf der Beifahrerseite. Ich folge seinem Beispiel und wir steigen aus. Es ist früher Nachmittag. Sonne und Wolken wechseln sich am Himmel schnell ab. Ich lehne mich gegen Paris Clio und lasse das Anwesen auf mich wirken.
Das Quietschen eines jungen Kindes reißt mich raus. Es rauscht pfeilschnell über den saftigen Rasen hinterm Zaun, ich kann kaum sagen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Der kleine Wirbelwind tollt gemeinsam mit einem fast doppelt so großen Bernersennenhund durch den hübsch begrünten Garten.
Ich schaue zu Mika, dessen Augen verräterisch glänzen.
Kein Wunder. Dieser sorglose, süße Fratz hätte er sein können. Hätte sein Vater sich nicht dagegen entschieden ...
Die Eingangstür schwingt auf. Der Mann, der hinaustritt, ist unverkennbar der, wegen dem wir hier sind. Mika und er sehen sich ziemlich ähnlich, sogar auf die Entfernung. Bisher dachte ich immer, er wäre seiner Mutter Sascha wie aus dem Gesicht geschnitten, was auch stimmt. Aber offensichtlich hat er von seinen beiden Eltern äußerlich nur das Beste geerbt.
Ihre Statur ist praktisch gleich, hochgewachsen und von Natur aus relativ breit um die Schultern. Auch ihr Gang ... Ich beobachte, wie Mikas Vater nach seinem Kind ruft. Dem kleinen, glücklichen Kind. Nicht nach seinem erwachsenen Kind, das neben mir steht und mittlerweile angefangen hat zu zittern.
"Alles okay?", frage ich behutsam und berühre ihn am Arm. Er nickt mit aufeinandergepressten Lippen. Also schaue ich wieder rüber zum Haus, so wie er es tut.
Der markanteste Unterschied zwischen den beiden Männern - abseits vom Alter - ist, dass sein Vater schlimmen Haarausfall hat. Mika wird dementsprechend aller Wahrscheinlichkeit nach verschont bleiben davon. Ich frage mich, ob Kitty deswegen im Stillen gejubelt hat, als ihr das bei ihren Recherchen aufgefallen ist, und schelte mich sofort für meine abschweifenden Gedanken und dieses Vorurteil über sie. Nur, weil sie Mode liebt, ist sie ja nicht gleich oberflächlich.
Inzwischen hat Mikas Dad uns entdeckt. Wir sind ja auch irgendwie auffällig, wie wir hier stehen. Weder das Auto noch unsere Klamotten - noch meine Hautfarbe - passen in diese noble Gegend.
"Er kommt her", warne ich Mika. Sein Vater läuft zwar langsam, hält aber gezielt auf uns zu.
"Hallo", begrüßt er uns und es dauert einen Moment, bis er den Mund dann wieder aufbekommt. "Du bist Saschas Sohn, nicht wahr?"
Mika bringt keinen Ton raus. Als sein Vater die Hand austreckt, versenkt er die Fäuste geballt in seinen Jackentaschen.
Der wiederum sieht ihm nur konsterniert dabei zu.
"Möchtet ihr reinkommen?"
Nun guckt er mich an und ich spüre den Ekel in mir aufsteigen, denn er tut es nur, weil Mikas abweisende Haltung ihm unangenehm ist. Das riecht man ja neun Meilen gegen den Wind.
"Ich bin Heiko", stellt er sich vor, breitet hilflos die Arme aus und macht einen großen Schritt auf Mika zu, der keine Möglichkeit hat auszuweichen, obwohl er es gern würde. Die Sohlen seiner Turnschuhe scharren über den Asphalt, als er sich mit dem Rücken gegen Paris Auto drückt. Obwohl ich ihm auf keinen Fall bei diesem Treffen dazwischenfunken wollte, schiebe ich mich kurzerhand zwischen meinen Kumpel und seinen Vater. Ich schubse Heiko ein Stück zurück. Nicht doll, aber doch fest genug, dass er erstmal bleibt, wo er ist.
"Sie sind ein Fremder", erinnere ich ihn kühl. Heikos Augen schnellen zu Mika.
"Dann bist du gar nicht -"
"Ich bin Saschas Sohn", kommt es von von ihm selbst und ich trete beiseite. "Aber sie hat voll recht, okay? Du bist ein Fremder." Er zeigt ihm einen Vogel. "Was bildest du dir ein?" Kopfschüttelnd flüchtet er, umrundet das Auto und öffnet die Tür auf der Beifahrerseite.
"Jetzt warte doch, bitte!", ruft Heiko ihm nach. Vergeblich.
"Was dachten Sie denn, wie das jetzt läuft?", zische ich wütend. "Nach über zwei Dekaden ohne jeglichen Kontakt, wollen Sie mal eben ihren verschollenen Sohn umarmen, oder was?"
Heikos Miene verfinstert sich.
"Wer bist du eigentlich? Geht es euch um Geld?!"
Wortlos starre ich ihn an, sehe mitten hinein in seine verkorkste Seele, bis ihm die Angst aus jeder Pore trieft. Bevor ich ebenfalls wieder einsteige, spucke ich ihm vor die Füße. Ich kann nicht anders, das ist gerade der einzige Weg, dem Ekel gebührend Ausdruck zu verleihen.
Ich werfe den Motor an und dann immer mal wieder einen Blick in den Rückspiegel, in dem Heiko nach und nach kleiner und kleiner wird.
Wir fahren nicht weit, bis Mika mich bittet, anzuhalten. Die nächste Möglichkeit ist ein halbleerer Supermarktparkplatz. Vor dem integrierten Backstand haben sie einige Tische in die Sonne gerückt. Mein Kumpel steuert darauf zu und setzt sich. Er zückt ein Päckchen Zigaretten, kämpft eine Weile mit seinem Feuerzeug, ehe er es fluchend auf den Boden schmettert, wo es von der Wucht zersplittert.
Ich ziehe mir den Stühl gegenüber zurück und nehme Platz.
"Was hat er noch gesagt?", fragt Mika mit monotoner Stimme.
"Er hat mich gefragt, ob wir Geld wollen", erzähle ich ihm die ungeschönte Wahrheit. Mika lacht, während ihm dicke Tränen über die Wangen rollen.
"Bitte kauf einen Blaubeermuffin", verlangt er. Ich stehe auf und trete an ihn heran. Mika bleibt sitzen, schlingt aber beide Arme um mich und klammert sich an mir fest wie ein Ertrinkender. Er schluchzt, ich streichle stumm seinen Rücken. "Er weiß nicht, wie ich heiße", flüstert er. "Und er hat nicht mal gefragt."
Einen Augenblick lang sind nur rollende Autos und Einkaufswagen zu hören.
"Ich hole uns jetzt diesen Blaubeermuffin und Tee", wispere ich. "Versuch ein bisschen zu atmen." Ich presse meine Nase in sein blondes Haar. Mikas Shampoo riecht nach Lindenblüten - blumenzart, kühl und süßlich. Er drückt mich noch fester, bevor er mich loslässt.
"Ich bin froh, dass du da bist", sagt er und schaut mich aus schimmernden Augen an.
"Ich geh nicht mehr weg", verspreche ich.
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