XXIV
Vor meiner Türe steht niemand. Ich blicke hinaus in die kobaltblaue Dämmerung, spähe nach links, nach rechts und dann hinauf in den Himmel, der wolkenlos oder vielleicht komplett mit Wolken bedeckt einen eintönigen, dunkel strahlenden Farbton angenommen hat.
Die Krähe auf meinem Postkasten stößt ein heiseres Krächzen aus und fliegt auf. Dabei schillert ihr Gefieder Indigo zwischen den Grasklumpen der Brachwiese und dem anschließenden Schilf dahinter. Der Zaun um mein Grundstück ist verschwunden. Es ist unheimlich still, kein Windhauch zieht durch die Äste der Bäume und nicht einmal der Schnee knistert zwischen den Hecken.
Ich trete aus dem Haus und folge der Krähe. Nichts anderes bleibt mir übrig. Die stumme Landschaft breitet sich vor mir aus und ich stocke nur kurz, ehe ich in die Brachwiese steige, wo selbst die im Winter zusammengesunkenen Halme so groß sind wie ich. Jeden Augenblick rechne ich mit einem Angriff, mit einem grauenerregenden Rascheln, Kichern oder Kreischen. Meine Axt liegt schwer in meinen Händen und obwohl ich das Holzhacken gewohnt bin, sind meine Muskeln müde. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, wo ich bin, oder was ich hiermit versuche zu erreichen, aber ein innerer Sog zieht mich weiter und weiter und weiter.
Immer wieder blitzt das Indigo der Krähenflügel in der Ferne auf und ich erreiche den See. Zugefroren und unberührt liegt er in der reglosen Welt hinter dem Klopfen an meiner Türe und lädt mich dazu ein, ihn zu betreten. Erneut zögere ich, prüfe die Umgebung, ausgelaugt, erschöpft.
Schlimmer als die Angst zerrt eine unbeschreibliche Verzweiflung an mir, verlangt nach einer Auflösung und ähnlich wie nach dem Erscheinen meiner Besucherin, nach Erlösung aus der Anspannung. Mein Atem ist flach und angestrengt, in meinen Lungen krampft es und meine Kehle zieht sich mit jedem bleiernen Schritt zusammen. Ich schiebe mich durch das letzte Schilf und betrete den See, die Axt in Anschlag, um mich zur Not verteidigen zu können.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich mit meinem Vater einen so vollkommen zugefrorenen See erblickt habe. Wie ich gestaunt habe, voll Ehrfurcht und Ungläubigkeit, dass die Welt zu solchen Wundern fähig ist. Der ganze See hat geseufzt mit seinen überirdischen Stimmen, tief im Eis, versteckt zwischen Luftblasen und Rissen.
Immer noch erwarte ich einen Hinterhalt, ein vielgesichtiges Monster mit Menschenaugen und tausend stiftartigen Zähnen, die seinen Kopf von Ohr bis Ohr spalten. Noch immer denke ich an verzerrte zum Schrei geöffnete Gesichter, mit leeren Höhlen als Augen und hunderten Fingern, die aufgehört haben, Musik zu spielen und mich mit ihrem Nichtstun verhöhnen.
Ich senke den Blick auf meine Füße, merke, dass das Eis vollkommen durchsichtig ist, und atme heftig durch den Mund. Meine Lungen geben langsam auf und die Panik sitzt mir jetzt so heftig im Nacken, dass mein ganzer Körper vor Anstrengung zittert. In der endlosen, unendlich tiefblauen Weite gleiten riesenhafte Schemen durchs Wasser, träge und rhythmisch, so wie langsame Herzschläge Blut durch die Adern pumpen.
Ein klirrendkalter Schweißtropfen rinnt über meinen Nasenrücken und landet auf dem Eis und obwohl er ebenso geräuschlos ist, wie alles in dieser Welt, gerät die Flut unter mir in Aufruhr. Schatten und schillernde Funken blitzen durcheinander, tauchen ab und wieder auf, zu schnell für meine Wahrnehmung, lassen ihr keine Zeit, sie zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen.
Ich erinnere mich an den Tag auf dem Schiff, als ich mit meinem Vater das erste Mal in See gestochen bin. Winzig und vergraben in einem Anorak, der nichts bis auf meine Augen und die Nase sichtbar gelassen hat. Ich bin auf dem Dach gesessen, habe mich an die Reling geklammert und hypnotisiert auf die gigantischen Schemen unter Wasser gestarrt, die unserem Kahn gefolgt sind. Wale, Robben, Schatten von Wesen, die ich mir erdacht habe.
Ich höre meinen Vater lachen, spüre seine Hand auf meinem Kopf und dann seinen Finger auf meiner kleinen Nase. Spüre diese Berührung so heftig, dass ich mir ins Gesicht fasse und Tränen betaste, die anstatt seiner Finger über meine Wangen streichen.
Die Körper unter dem See werden unruhig, große, schillernde Schuppen, von denen eine jeder größer ist, als mein Gesicht, werden sichtbar, schieben sich zu einem Schemen zusammen, der kurz aus lichtschluckender Tiefe nach oben stößt und in buckelnder Bewegung wieder verschwindet. Das Wallen des Wassers bebt gegen die Eisdecke und setzt sich bis zu meinen Knien fort. Doch anstatt Grauen zu verspüren, begleitet mich ein tiefer Drang, meine Wange an das Eis zu drücken und nach den Bewegungen dieser Lebewesen zu haschen.
Ich knicke ein und fange mich mit der freien Hand ab. Jeder Millimeter meiner Haut ist gegen die Kälte gepresst, die sich in meine Finger verbeißt und ist damit das erste extrinsische Gefühl, das ich empfinde, seit ich an diesem Sonntag durch meine Tür geschritten bin. Ich hole mit einem unkontrollierten Schluchzen Luft und rapple mich auf. Mein Handabdruck verbleibt auf dem Eis und lockt neugierige Augen an, die unzählig und undefinierbar in den wallenden, schwarzen Fluten zu mir nach oben spähen. Mich beobachten.
Der innere Sog aber zieht mich weiter, drängt mich vorwärts, immer weiter und weiter und ich drehe mich ein einziges Mal um. In weiter Ferne erkenne ich den Weg, den ich durch das Schilf und die Brachwiese genommen habe. Das einzige flackernde Stück Farbe, das nicht in tiefes Blau getaucht ist, ist das orangene Rechteck meiner Türe, meiner Küche, meines Zuhauses. Aber auf einen Schlag haben sich die Gefühle der Furcht vertauscht. Zuvor ist mir die Welt hier draußen noch unheimlich erschienen, jetzt möchte ich unter allen Umständen mehr und mehr Abstand zwischen mich und dieses feurige Rechteck bringen.
Also drehe ich um und marschiere weiter, die Axt schon lange nicht mehr in Anschlag, eher als erdendes Gewicht in meiner Hand.
Unter mir wühlen lange, schlangenähnliche Körper durch den See, riesige, silbrige Augen mit leeren Pupillen glotzen durch das dunkle Blau bis ich das Ende des Sees erreiche und an eine Gruppe an Bäume herantrete. Durch das verschneite Geäst erblicke ich eine weite Ebene, die ich nicht kenne, weil sie hinter dem See gar nicht existieren dürfte. Aber inmitten dieser Ebene steht ein weiteres Rechteck, dieses ist schmal und schiefergrau, wie ein Felsblock.
Meine Axt schleift über den Boden und fällt mir schlussendlich aus der erschöpften Hand. Ich erblicke zangenförmige Abdrücke in der Schneedecke und lasse meinen gesamten Atem durch den Mund ausströmen.
»Du bist so geschickt und leichtfüßig, dass du nie in den Schnee sinkst, kleines Karibu.«
Die Stimme meines Vaters lacht direkt in meinem Nacken und ihm antwortet eine zweite, kindliche Stimme, mindestens genauso erheitert, wenn nicht sogar quietschvergnügt. Es passt nicht in diese blaue endlose Leere, gefüllt mit schweigender Einsamkeit in alle Richtungen. Nach wie vor regt sich kein Lufthauch, keine Wolke wandelt sich und kein Halm rührt sich unter dem Gewicht des Schnees. Kein Specht, kein Schneehase und kein Fuchs zieht seine Fährten durch den unberührten Schnee, nur dieses eine Karibu ist hier durchgekommen. Alleine, einsam, verloren.
Das rot gefärbte Metall meiner Axt sticht aus der eintönigen Farbwelt zu meinen Füßen heraus wie ein Blutfleck. Ich kann ihn nicht länger betrachten und spähe die Fährte entlang, aber sie hört genau dort auf, wo der letzte Zweig des letzten Baumes in die endlose Weite dahinter ragt. Sie hat kein Anfang und kein Ende. Sie ist einfach.
Meine Muskeln zittern jetzt unaufhörlich, vor Erschöpfung und Trauer, endloser Trauer, die sich in der bitteren Weite vor mir gespiegelt findet. Und ich gehe einfach weiter, denn das feurige Rechteck ist lange fort, so wie ich lange, lange fort bin.
Ich schleppe mich durch den tiefen Schnee, der bald sämtliche Vegetation verdrängt hat, und nichts zurücklässt als bleierne Müdigkeit. Der kleine Hain ist in kobaltblauer Dämmerung verschwunden, den See hat es nie gegeben und die Spur des Karibus ist nur noch eine Erinnerung. Das Lachen meines Vaters ist nur noch eine Erinnerung.
Seine Geschichten sind nichts weiter als eine Ansammlung an synaptischen Verbindungen, die kein empirisches Äquivalent in dieser Welt haben, losgelöst aus einem Leben, das ich verlassen habe. Schon lange bevor er gestorben ist.
Da ist der Streit gewesen. Ohne Anfang und ohne Ende. Kein aktives Anbrüllen, sondern ein kontinuierliches Missverstehen und Vergessen. Ein nicht-zuhören und falsch erinnern. Eine Meinungsverschiedenheit, die sich über Jahre gespannt und den Pfahl immer tiefer zwischen das lachende Kind und den liebenden Vater getrieben hat.
Es hat kein Ende und keinen Anfang gegeben. Es ist immer währenddessen geschehen. Zwischen dem Lachen und dem Scherzen, den Umarmungen und den Küssen. Zwischen dem Lob und den Zurechtweisungen, den Hinweisen und Ratschlägen. Verwoben in eine Liebe, die so tief ging, dass ihr Zerfall anfangs gar nicht zu erkennen gewesen ist. Denn das würde eine so tief verwurzelte Zuneigung gar nicht zulassen. Bestimmt nicht.
Nach dem Streit ist das Schweigen gekommen. Hat das gemeinsame Abendessen und die Ausflüge, Bootsfahrten und Kinobesuche begleitet, sich zwischen dem Kochen und dem Fernseher festgesetzt und sich in die immer kürzer werdenden Anrufe genistet, die immer tadelnderen Zurechtweisungen. Dann ist auch das Schweigen verloren gegangen.
Der große Monolith ragt wie ein stumpfer Zahn aus der eintönigen Schneeebene. Wie ein Schlussstrich, wie ein zu lang geratener Punkt am Ende zweier Leben, die so innig von klein auf verbunden gewesen sind. Ich erreiche den bedrohlichen und zugleich lockenden Stein, werde langsamer und bleibe schließlich stehen.
Die Oberfläche des Monoliths ist glatt und doch rau. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich feine Linien, die in die Oberfläche geritzt sind. Ich trete näher heran und weiß instinktiv, dass meine Reise hier ein Ende findet. Ich hebe die Hand und berühre den Schiefer mit meinen nackten Fingern.
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