Kapitel 22
Beth
Normalerweise verbrachte ich gerne Zeit mit Novels Geschwistern. Aber heute war alles anders. Ich nahm schweigend neben Leila platz und griff nach ihrer Hand. Sie schien sich augenscheinlich beruhigt zu haben, aber ich wusste, dass sie das lediglich spielte. Für den Vater der überraschend heimgekehrt war. Camilla steckte zuerst ihren Kopf durch die Tür, bevor sie sich mit ihrer bauschigen Roben durch die Tür schob.
„Gut, dass er noch nicht hier ist", stellte Camilla fest, worauf alle ihre Ohren spitzten. Novel und Avel waren noch nicht hier, aber selbst die Kaiserin saß bereits im Salon. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass sie den Erzherzog meinte. „Ich habe Nachricht aus Frankreich", berichtete sie und setzte sich zur Kaiserin an den Tisch. „Dorian hat eine Woche bei Freunden verbracht. Er ist zwar mittlerweile wieder abgereist, aber ihm scheint es so weit an nichts zu fehlen", berichtete sie leise. Die Kaiserin hob ihren Blick und der Schmerz, der in ihren Augen stand, ließ sich in Worten nicht beschreiben. Er trieb mir selbst Tränen in die Augen und ich unbewusst hielt ich die Luft an.
„Darf ich den Brief sehen?", fragte sie und Camilla zog ihn aus ihrer Rocktasche. Die Kaiserin verzog für einen Moment missbilligend den Mund, bevor sie Camillas Hand drückte. „Danke", flüsterte sie leise, worauf sich Camilla erhob. „Darüber, dass du mit der liberalen Bewegung in Frankreich in Kontakt stehst, sprechen wir noch", drohte die Kaiserin schwach, starrte aber unentwegt weiter auf das Briefpapier. Camilla verdrehte demonstrativ die Augen und Novels Geschwister grinsten. Verlegen sah ich zu Boden. Camilla hatte so viele Freunde und Bekannte auf der ganzen Welt. Sie war liebenswürdig und genoss einen ausgezeichneten Ruf bei Hof. Morgen sollte ich vorsichtig bei Leila nachfragen, ob zwischen Novel und Camilla wirklich nie etwas war. So langsam konnte ich das nämlich nicht mehr glauben. Leila erhob sich und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Seht Ihr, Mama? Dorian geht es gut und uns wird es auch bald wieder gut gehen"
Novel
Ich eilte die Treppe hinunter und wäre beinahe mit Papa zusammengestoßen. Verlegen verbeugte ich mich leicht. Nach seinem Ausbruch beim Lunch hatte ich keine Ahnung, wie ich ihm begegnen sollte und mich eigentlich darauf verlassen, dass Mama den Ton angibt. Warum ich auch immer zu spät kommen musste!
„Das war nicht der Start, den ich mir gewünscht hatte", gestand er und deutete mir weiter zu gehen. Widerwillig ging ich neben ihm her. Natürlich war dieses Zusammentreffen nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen. Aber er vergaß, dass auch wir Vorstellungen von ihm hatten. „In Dorians Fußstapfen zu treten wird nicht leicht werden, nicht wahr?", riet er, worauf ich ihn skeptisch ansah. Sollte das eine Loyalitätsprüfung werden? Wenn er hoffte, dass ich mich auf seine Seite schlug, dann hatte er sich gewaltig getäuscht. Meine Familie bedeutete mir alles und noch gehörte er für mich nicht dazu. „Dorian war ...", zögerlich hielt ich inne. Wie sollte ich in Worte fassen, was er uns allen bedeutet hat? „ ... immer für uns da. Vor allem Leila trifft es schwer, dass er gegangen ist", ergänzte ich schließlich worauf Papa die Lippen zusammenpresste. Er nickte verhalten. Das wollte er mit Sicherheit nicht hören. „Bitte verlangt nicht, dass wir so tun, als hätte es die letzten 20 Jahre nicht gegeben", sagte ich leise. Erst wenn wir mit Leone gesprochen haben, würden wir endgültig wissen, ob Dorian für immer fort bleiben würde. Solange schuldeten wir es ihm, ihn an Mamas Seite zu sehen.
„Komm, wir sind ohnehin bereits spät"
Ich drückte Beth einen Kuss auf die Wange, die mich verhalten anlächelte. Sie würde sich bald an dieses Durcheinander an Geschwistern gewöhnt haben. Camilla lächelte mich verschwörerisch an und ich schüttelte leicht den Kopf in ihre Richtung. So gerne Mama Nachricht von Dorian hatte, so ungern wird sie erfahren, dass Camilla schon wieder mit Demokraten korrespondierte. So ganz eins waren mir ihre Bekanntschaften auch nicht.
Sie hatte mir den Brief bereits gezeigt, aber wir wollten uns die guten Neuigkeiten für später aufsparen. Anscheinend haben sie Mama nicht merklich aufgeheitert. Sie starrte Papa mit einer ausdrucklosen Miene an, als er sie auf die Wangen küsste.
„Wo ist deine Geliebte?", fragte sie unverblümt und Papa zog die Augenbrauen nach oben. Ob ab jetzt jedes gemeinsame Dine in einem Streit enden wird? „Es ist in Ordnung, wenn sie mit uns isst", fuhr Mama fort und nahm wieder platz. Es konnte nur besser werden. Wir ließen uns alle an der kreisrunden Tafel nieder und Papas Augen legten sich sofort auf Beth. „Ihr seid also Novels Verlobte", stellte er fest und lächelte Beth breit ein. Sie nickte leicht und ihre Wangen röteten sich. „Ja, Majestät", beeilte sie sich zu sagen. Etwas in Papas Gesichts zuckte, als er seinen Titel hörte. Ob er es vermisst hatte Mitglied der kaiserlichen Familie zu sein? „Ihr seid auch aus Italien?", fragte Papa weiter und Beth wurde unruhig. Sie bejahte erneut, sah aber bereits unsicher zu mir. Wir mussten Papa in das Geheimnis einweihen, aber noch nicht heute.
Camilla
Es war der Kaiserin anzusehen, dass ihre zuwider war, mit ihrem Exmann zu sprechen. Deshalb gab ich mir Mühe, Novel in einem Gespräch zu unterstützten. Beth schwieg erneut. Anscheinend war sie immer noch nicht darüber hinweggekommen, dass man ihre Spionagetätigkeit aufgedeckt hatte. Das war töricht. Aber Novel würde das Schiff schon schaukeln.
„Ich habe dir vergessen zu sagen, dass die Queen dir ihre Grüße ausrichtet", wandte sich Paget vorsichtig an die Kaiserin. Sollte sie sich langsam entspannt haben, war aller Fortschritt verloren. Ihre Miene spannte sich an. „Untersteh dich ihr auszurichten, ich hätte den Gruß erwidert", antwortete sie eisig und Paget seufzte auf. Bevor er jedoch das Wort ergreifen konnte, hob die Kaiserin abwehrend die Hand. „Du hast an ihrem Hof logiert und pflegst Kontakt zu ihr – das ist mir gleich. Aber ich werde es nicht tun. So wie ich es auch die letzten zwanzig Jahre nicht getan habe", fauchte sie und ich wünschte, die beiden hätten sich die Zeit genommen, sich auszusprechen, bevor sie uns ständig zu gemeinsamen Mahlzeiten verdonnerten.
„Sollen wir uns zurückziehen?", bot ich an und hoffte die Situation so für die anderen noch zu retten. Die Kaiserin so leiden zu sehen ging mir bereits nah und ich war nicht ihr leibliches Kind. Paget strich sich einmal über das Gesicht und ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. „Ich bestreite nicht, dass ich Fehler gemacht habe", gestand Paget und sah vor allem Leila dabei an, „Aber ich bin hier, um Euch zu unterstützten. Also sagt mir, wie ich euch helfen kann, anstelle euch zu belasten"
Überrascht tauschten wir einige Blicke aus. Ihm schien nicht bewusst zu sein, dass unsere schlechte Verfassung Großteiles darauf zurückzuführen ist, dass Dorian uns Hals über Kopf verlassen hatte. Denn mit Sicherheit wollte er nicht andeuten, dass er Dorian zurückholen könnte. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir euch ein paar Fragen beantworten", tat die Kaiserin vorsichtig einen ersten Schritt und sah ebenso verunsichert zu ihrem Mann.
„Wenn Ihr nicht bei Mama wart, wo wart Ihr dann, als Leila und ich geboren wurden?", machte Étienne den Anfang. Paget ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und starrte für einige Augenblick an uns vorbei. „Das weiß ich leider nicht", gab er zu, worauf ich überrascht die Augenbrauen zusammenzog. Er wusste es nicht? Wie konnte er vergessen haben, wo er war, als er zum dritten Mal Vater wurde? „Aber als mich Mathews Nachricht Wochen später erreichte, war ich in Sizilien", setzte er hinterher und ein Teil der Anspannung fiel von uns ab. Ob er das so dramatisch geplant hatte? Paget war rätselhafter, als ich es mir vorstellen konnte und als sein unscheinbares Aussehen vermuten ließ.
„Warum seid Ihr überhaupt gegangen?", reagierte Leila leise und als ich die Tränen in ihren Augen sah, überlief mich selbst ein Schauer. Als ich das erste Mal zurück nach Italien gefahren bin, habe ich meinem Vater dieselbe Frage gestellt: Warum hast du mich fortgeschickt. Ich bekam eine ähnlich schlechte Antwort: „Weil jemand Kenneth jagen musste und ich diese Aufgabe niemanden anvertrauen konnte" Die Mundwinkel der Kaiserin zuckten. Zu gerne hätte ich gewusst, was ihr dabei durch den Kopf ging. Ob sie ihm glaubte?
„Warum seid Ihr dann nicht zurückgekehrt?", beharrte Leila auf ihre Antwort. Die Kaiserin wurde plötzlich blass. Alle Gesichter wandte sich Paget zu, der unbehaglich auf seinem Stuhl herumrutschte. „Zuerst hatte ich mich geschämt. Es war bereits nach einigen Wochen klar, dass Kenneth Spanien verlassen hatte und ich keine Spur hatte. Deshalb bin ich den Handel mit Spanien eingegangen und habe Grace bei ihnen gelassen. Das hätte bedeutet ich wäre ohne mein Kind und ohne Sieg nachhause gekommen", betonte er und sah dabei kurz zur Kaiserin. Ich hatte Grace nur selten gesehen und wenn, war sie der Kaiserin kaum von der Seite gewichen. Es war offensichtlich, dass sich die beiden nah standen. „Um noch irgendetwas zu erreichen, bin ich herumgereist. Da ich nichts fand, schickte ich auch keine Nachricht. Aus Monaten wurden Jahre und irgendwann ein Jahrzehnt. Mathew verleugnete mich, weil ich nicht den Mut besaß, mich den Löwen hier zu stellen. Als er dann gestorben war, kam Dorian und ich hatte erneut die Chance verpasst, zurückzukehren", Paget zuckte mit den Schultern und ließ seinen Blick zwischen uns hin und her wandern. Mit keinem einzigen Wort hatte er die Kaiserin erwähnt und trotzdem hatte ich das Gefühl, alleine ihr Urteil zähle.
„Ich bin noch nicht so weit", flüsterte sie schließlich und erhob sich langsam. Sie starrte auf ihren Ehemann hinunter ich konnte sehen, wie sich Zorn und Trauer und Hilflosigkeit abwechselnden. „Bitte entschuldigt mich" Die Jungs erhoben sich pflichtbewusst und sahen auf den Boden. Es war ihnen anzusehen, dass sie gerne ihre Mutter getröstet hätten, aber diese Gelegenheit war nun Mal einmalig. „Ich begleite Euch, Majestät. Diese Dinge gehen mich nichts an", beeilte ich mich zu sagen und erhob mich ebenfalls. Im Vorbeigehen drückte ich Leilas Schulter. Mein Blick fiel auf Beth und ich hielt vor ihrem Stuhl inne. „Beth? Kommt Ihr?", fragte ich scheinheilig. Noch war sie nicht Kaiserin, deshalb sollten wir alle darauf Acht geben, welche intimen Informationen wir ihr geben. Novel drückte seiner Verlobten bestätigend einen Kuss auf die Wange, bevor er mich dankbar anlächelte. Er griff nach meiner Hand und hauchte einen Kuss darauf. Ich errötete.
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