Kapitel 9
Tristan massierte sich die Schläfen, während er versuchte, die Bildaufnahmen des Kopfes seines Patienten sich anzusehen und festzustellen, was diesem fehlte, aber er merkte selbst, dass er nicht bei der Sache war. Seine Gedanken schwirrten überall, aber nicht dort, wo sie sein sollten. Ihm war klar, dass das alles andere als gut war, denn er sollte sich auf die Arbeit konzentrieren und nicht mit seinen privaten Problemen beschäftigt sein, während er im Krankenhaus und somit im Dienst war. Die Patienten zählten auf ihn und er konnte sich keine Fehler leisten, nachdem er große Ziele vor Augen hatte und es schaffen wollte, eines Tages Oberarzt genannt zu werden. Aber im Moment hatte Tristan nicht den Kopf dafür.
Natürlich war der Urlaub mit Katie wunderbar gewesen. Er hatte das gebraucht, aber es hatte einiges in ihm aufgewühlt und dafür gesorgt, dass viele Fragen aufkamen, er sich mit Dingen beschäftigte, die er bislang immer verdrängt hatte.
Der Arzt hatte sich dazu entschieden, seine Großeltern und seine restliche Familie in Ungarn ausfindig zu machen. Das kam mit viel Arbeit einher, nachdem er sich dafür seiner Vergangenheit, zumindest bis zu einem gewissen Teil, stellen musste.
Es war ihm ein Bedürfnis, herausfinden, woher seine Mutter kam, ob seine Großeltern noch lebten und wie er diese dann kontaktieren konnte. Das alles war nicht einfach, für ihn und weil er den Urlaub mit Katie nicht verderben wollte, hatte er sich vorgenommen, sich erst bei ihrer Rückkehr mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen. Obwohl es ihn schon eine Menge Überwindungskraft gekostet hatte, Telefonnummern herauszusuchen, um mit den Ämtern in Kanada Kontakt aufzunehmen.
Er musste Dokumente seiner Mutter anfordern, was ein bürokratischer Aufwand war und ihn sich immer unwohler fühlen ließ, da er nicht wusste, wie er mit der ganzen Situation umgehen sollte.
Sein Blick wanderte wieder zu den ausgewerteten Bildern, aber im Kopf war er nicht anwesend. Er hätte mit der Sache zumindest ein paar Tage oder Wochen warten sollen. Sein Geburtstag lag nicht allzu lange zurück, der rückwirkend betrachtet wunderschön gewesen war, denn Katie hatte dafür gesorgt, dass er einen tollen Tag verbrachte, und er hatte ein wunderbares Geschenk von ihr erhalten.
Der Neurochirurg legte die Bilder ab und sein Blick wanderte zu jenem Geschenk, dass er seitdem um das Handgelenk trug und es mittlerweile als Glücksbringer sah. Außerdem fühlte er sich dadurch seiner Familie zumindest ein Stück näher, obwohl er nur die Initialen bei sich hatte. Aber es genügte, damit er sich ein wenig besser fühlte.
Erst als die Tür zum Raum aufging, schaffte es Tristan, sich aus den Gedanken zu holen, und merkte schnell, wer der Besucher war, der freudestrahlend ihm entgegenkam und sofort die Arme um ihn schlang, nachdem sie sich hinter gestellt hatte. Er bekam einen Kuss auf die Wange und das allein veranlasste ihn dazu, ein wenig zu lächeln.
„Na, wie läuft es?", wollte die Blondine wissen, wobei Tristan sich ein wenig aufrichtete und durchatmete. „Naja, ich kann mich gerade irgendwie auch nur schwer konzentrieren", meinte er ehrlich und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
„Total verständlich. Du arbeitest auch schon wieder seit Stunden durch und hattest vorhin eine OP. Du brauchst eine Pause. Ich bin hier, um dich abzuholen. Damit wir essen gehen können", erklärte ihm seine beste Freundin, die immer noch an ihm hing und ihn anstrahlte. Seit ihrem Urlaub war es ein wenig anders zwischen ihnen beiden. Tristan hatte das Gefühl, dass sie sich in irgendeiner Form nähergekommen waren. Sie beide waren sich schon die ganze Zeit nahegestanden, aber nachdem sie zwei Wochen im Ausland verbracht hatten und somit nur unter sich gewesen waren, war es anders. Intensiver. So, als würden sie sich wieder einander annähern, wobei Tristan das nicht so einordnen und sagen konnte, ob es denn das Richtige war. Schließlich hatten sie sich aus guten Gründen getrennt und sich dazu entschieden, nur Freunde zu bleiben, warum sollten sie jetzt erneut zueinanderfinden und doch wieder ein Paar werden? Darüber hatte der Arzt sich in den letzten Tagen Gedanken gemacht und je mehr und länger er sich den Kopf deshalb zerbracht, umso komplizierter erschien ihm die ganze Situation. Er hatte absolut keine Ahnung, ob Kathleen ebenso dachte, oder fühlte wie er und sie darauf ansprechen, das wagte er nicht. Zumindest noch nicht.
„Vielleicht hast du recht", meinte er leise und packte die Bilder wieder zurück in die Akte. „Das kann ich mir nachher auch noch ansehen, ist ja jetzt kein Notfall", meinte er und drehte sich zu seiner Freundin und Kollegin um, griff nach ihren Händen und sah zu ihr auf, nachdem er immer noch auf dem Hocker saß und sie stand.
„Ich habe wieder genug für uns beide mit", erklärte er ihr mit einem sanften Lächeln. Er hatte gestern Abend gekocht, für sie beide und es eingepackt, damit sie es heute zu Mittag essen konnten. Wenn er so darüber nachdachte, war er sich sicher, dass er eine Pause dringend brauchte und jemanden, mit dem er reden konnte.
„Ich habe vorhin ein paar Telefonate geführt", ließ er die Frau wissen, nachdem er aufstand und seine Sachen nahm. „Wegen meiner Großeltern. Ich habe in Québec bei den verschiedensten Ämtern angerufen und darum gebeten, mir irgendwelche Dokumente und Informationen über meine Mutter zukommen zu lassen. Das ist alles gar nicht so einfach, wenn ich ehrlich bin", sprudelte es aus ihm heraus und er schüttelte den Kopf. Er wollte Katie nicht im Unklaren lassen und ihr das Gefühl geben, dass er ihr nichts erzählte.
„Aber das ist doch gut. So kommt zumindest etwas ins Rollen. Und wenn du irgendwie Hilfe gebrauchen kannst, weißt du, dass du dich auch an mich wenden kannst", versicherte sie ihm, nachdem sie den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen.
„Ich weiß. Und dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Ich fürchte nur, dass ich das jetzt alleine machen muss."
„Wenn es dir hilft, kann ich auch ein paar Telefonate führen. Das macht mir absolut nichts aus. Wenn du möchtest, können wir uns am Abend ja nochmal hinsetzen und uns ansehen, was wir tun können, welche Möglichkeiten haben. Du weißt schon." Das war das, was Tristan an Katie so unfassbar liebte. Ihren grenzenlosen Optimismus. Dafür bewunderte er sie, da er sich immer wieder fragte, woher sie all die Kraft nahm.
„Das klingt nach einer guten Idee", meinte er recht steif, er wusste selbst nicht, was er davon halten sollte, aber er wusste ihre Hilfe zu schätzen und wollte diese in Anspruch nehmen. Denn ihm war klar, dass er da nicht alleine durchmusste.
„Perfekt. Dann heute Abend ein Date bei dir. Bestellen wir Pizza?"
Diese Aussage brachte den Arzt zum Lächeln. Es passierte nicht oft, dass er aus ganzem Herzen lächelte, aber Katie schaffte es immer und immer wieder. Sie war unglaublich. Es gab kein anderes Wort für sie. Unglaublich. Und ihr schien dieses Lächeln Antwort genug zu sein.
Gemeinsam liefen sie die Gänge des Krankenhauses entlang, mit dem Ziel, die Cafeteria zu erreichen. Plötzlich kam ihnen eine der älteren Pflegerinnen entgegen und bedeutete, dass sie mit ihnen sprechen wollte. Genau genommen, wollte sie mit Tristan reden, aber nachdem es die beiden oft nur im Doppelpack gab und das jedem hier an ihrem Arbeitsplatz klar war, akzeptierte Gloria die Tatsache, dass Kathleen dabei war.
„Ich will auch gar nicht lange stören, Tristan", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich weiß, ihr seid auf dem Weg in die Mittagspause, aber es gibt da einen Patienten, der hat sich hierher ins Krankenhaus verlegen lassen." Mit diesen Worten bekam der Neurochirurg einen Ordner in die Hand gedrückt. „Er lag sehr lange Zeit im Koma, ist auch noch gar nicht lange wach, er ist im Übrigen auch schon hier und er besteht darauf, dass du dich um ihn kümmerst. Er verlangt immer wieder nach dir." Tristan schlug die Akte auf und ging die medizinischen Fakten schnell durch, um sich einen Überblick zu verschaffen, immerhin wollte er wissen, womit er es zu tun hatte.
Er las etwas von einer retrograden Amnesie, dass der Patient etwa vierzehn Jahre im Koma gelegen hatte und dass er dabei war, zu rehabilitieren. Er las, dass er in einem Krankenhaus in Québec gelegen hatte.
„Hey, sieh mal, Tristan. Der hat ja den gleichen Nachnamen wie du", hörte er Katie sagen. „Und er kommt aus Québec. Was für ein Zufall, oder?" Tristan sah seine Kollegin kurz an, die vor Verwunderung aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskam.
„Kennst du diesen Mann vielleicht?", wollte Gloria wissen.
Doch Tristan sagte zuerst nichts, er warf nur wieder einen Blick in die Patientenakte und musste feststellen, dass hier viele Gemeinsamkeiten vorhanden waren.
Denn der Patient, der sich aus Québec hierher nach New York verlegen ließ, hieß Benedict Livingston und war am 11. November 1994 geboren. Genau wie er.
„Ich glaube, wir essen etwas später. Der Sache müssen wir jetzt auf den Grund gehen", hörte er Katie sagen, während er sich selbst so fühlte, als wäre er wie in Watte gepackt, denn die Situation schien ihn maßlos zu überfordern.
„Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du einem Menschen triffst, der den gleichen Nachnamen trägt wie du, der am gleichen Tag geboren ist wie du und der auch noch aus der gleichen Stadt stammt. Es wirkt fast so, als wäre es ein verlorenes Familienmitglied."
Und dann – plötzlich - legte sich in Tristans Kopf ein Schalter um und er merkte nur, wie um ihn herum alles verschwamm und er das Gefühl hatte, dieser Welt endgültig zu entgleiten.
Er war sich sicher, dass er diesen Ben kannte. Und zwar besser, als man dachte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro