Kapitel 8
„Ich dachte, ich statte dir einen Besuch ab, mein Lieber. Ich dachte, ich sehe nach dir und erkundige mich, wie es dir geht. Außerdem habe ich dir etwas mitgebracht und ich habe Neuigkeiten für dich." Die Stimme, die in dem Krankenzimmer aufgetaucht war, konnte Tristan sogar zuordnen, denn er war sich sicher, dass er diese Sprechweise niemals in seinem Leben vergessen würde. Er war sich sicher, dass sich diese Stimme für immer in seine Gedanken und Erinnerungen gebrannt hat.
Der Junge lag auf dem Bett, hatte dem Mann den Rücken zugekehrt und wagte es nicht einmal, zu atmen. Er versuchte so zu tun, als würde er schlafen, obwohl er sich sicher, war, dass der Typ wusste, dass er wach war und ihn hören konnte. Tristan wagte es dennoch nicht, sich zu bewegen oder gar ein Wort zu sagen. Natürlich konnte er den Notfall-Knopf drücken, dann würde garantiert jemand kommen und nach ihm sehen, aber wie sollte er erklären, wer dieser Mensch war, der ein recht freundliches und vertrautes Gesicht war?
Niemand würde ihn für jemanden Böses halten, außerdem war Heilig Abend. Hier im Krankenhaus waren sie im Moment mit anderen Sachen beschäftigt. Es gab genug Notfälle und viele Pflegerinnen und Ärztinnen dachten an ihre Familien, waren teilweise gar nicht anwesend, also wollte der Teenager keine großartigen Probleme machen. Dabei hätte er jetzt die Möglichkeit, etwas zu sagen und die Situation klarzustellen.
Aber er hatte sich aktiv dagegen entschieden, denn er hatte einen eigenen Plan und Entschluss gefasst. Er wollte diese Sache angehen. Er wollte alleine Rache an jenem Mann nehmen, der bei ihm im Zimmer stand und bei allen anderen so tat, als wäre er ein Freund der Familie. Deshalb durfte er erst überhaupt zu ihm, denn Grayson Lapointe war nicht das erste Mal hier bei ihm, schon davor hatte er Tristan einige Male besucht.
Grayson Lapointe war jener Mann, der diese Katastrophe überhaupt herbeigeschworen hatte. Er war der Grund dafür, dass seine Familie tot war und er hier im Krankenhaus fristen musste, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren und man wusste, wie es für ihn weitergehen würde. Man war sich immer noch nicht sicher, wer hinter dieser ganzen Tragödie steckte und man hatte schon versucht, Tristan mehrmals zu befragen, aber er hatte kein Wort gesagt. Kein einziges, seitdem er aus dem dreitägigen Koma erwacht war.
Tristan hatte seit dem Vorfall kein einziges Wort verloren. Zu niemanden. Er war stumm. Dabei wäre er der Einzige, der all dem ein Ende bereiten und dafür sorgen könnte, dass Grayson Lapointe und seine Gefolgsmänner die Strafe erhielten, die sie verdient hatten für solch eine grausame und widerliche Tat. Nein, er hatte sich entschlossen, sich persönlich und sich an allen Menschen zu rächen, die daran beteiligt gewesen waren. Mit seinen vierzehn Jahren hatte Tristan Livingston schon feste Pläne.
Es war nicht so, dass er Angst hatte vor diesem Mann, natürlich hatte er die, aber er wollte sie ihm gegenüber nicht zeigen. Er wollte nicht, dass er sah, wie er ihn fürchtete. Gleichzeitig wollte er nicht, dass er sah, wie er ihn verachtete und sich anmerken lassen, was er mit ihm vorhatte.
Der Junge hörte die Schritte näherkommen, es waren feste, selbstbewusste Schritte und er spürte, wie Grayson an dem Rand des Bettes stehen blieb.
„Ich habe dir etwas besorgen können. Ich dachte mir, dass sie dir viel bedeuten könnte." Tristan wurde hellhörig, denn er fragte sich, was der Mann damit meinen konnte, öffnete erst die Augen, die er die ganze Zeit über geschlossen hatte, er hatte den Anschein wahren wollen, dass er eigentlich schlief.
Der Braunhaarige merkte, wie der Mann ihm näher kam und ihm sogar eine Hand auf die Schulter legte, nur um dann einen kleinen Koffer neben das Bett auf den Boden zu stellen und sich wieder zu entfernen. Tristan spannte sich in diesem Moment direkt an und versuchte, dem Drang zu widerstehen, nicht gleich nach ihm zu greifen und zu versuchen, ihm weh zu tun. Dabei war er ihm haushoch unterlegen, denn Grayson hatte ihm schon vor über einem Monat gezeigt, wozu er in der Lage war und obwohl er es versucht hatte, hatte er als Vierzehnjähriger absolut keine Chance gegen ihn gehabt. Niemand hatte das. Niemand in seiner Familie.
Als ihm klar wurde, was man ihm gebracht hatte, konnte Tristan gar nicht anders, als sich aufzurichten, nur um nach dem Koffer zu greifen, diesen zu öffnen und dann seine Violine hervorzuholen. Er hatte sie geschenkt bekommen, als er sich mit etwa fünf Jahren dazu entschlossen hatte, sie spielen zu lernen. Für seine Mutter. Denn sie hatte ihm immer erklärt, wie sie den Klang dieses Instrumentes liebte und große Rolle sie in der ungarischen Volksmusik spielte. Da, wo sie herkam. Tristan wollte damals schon seinen Wurzeln auf den Grund gehen, erfuhr aber schnell, dass seine eigene Mutter sich mit ihren Eltern zerstritten hatte und es daher gar keine Chance geben würde, dass sie nach Ungarn reisen würden. ‚Vielleicht eines Tages', hatte sie gesagt, aber Tristan ist in den letzten Jahren klar geworden, dass dieses ‚eines Tages' womöglich nie passieren würde. Genau, wie er von nun an immer alleine Weihnachten feiern würde.
Genau, wie dieses Weihnachten. Es hatte sich vor einigen Wochen, am 11. November, an seinem vierzehnten Geburtstag, alles geändert.
Jetzt gab es nur ihn.
Tristan betrachtete das Instrument in seinen Händen und hatte im selben Moment mit den Tränen zu kämpfen, Nein, er wollte nicht weinen. Er sollte nicht weinen. Nicht vor ihm. Er durfte keine Schwäche zeigen, er wollte keine Schwächen zeigen. Er weinte auch nur noch, wenn er vollkommen alleine war, ihn niemand sehen oder hören konnte.
„Dachte ich es mir doch", hörte er Grayson sagen, der bei seinen eigenen Worten lachte.
„Armer, kleiner Junge. Du hast wohl gedacht, ich würde das vergessen? Ich würde dich vergessen? Im Gegenteil. Ich habe mich für dich sogar eingesetzt und damit kommen wir zu der Nachricht, die ich dir überbringen will."
Tristan schluckte, nahm aber den Blick nicht von seiner Violine, die in den letzten zehn Jahren doch einiges erlebt und mitgemacht hatte. Er hatte sie immer gespielt, wenn er konnte, sobald er Freizeit hatte oder nur üben wollte, wenn er seiner Mutter eine Freude machen wollte oder er mit seinen Geschwistern es lustig fand, eine Familienband zu gründen.
Aber all das hatte er nicht mehr.
„Ich habe das Sorgerecht für dich bekommen. Was bedeutet, dass du zu mir kommen und bei mir wohnen wirst. Ist das nicht wunderbar?" Tristan hörte die Worte und seine Augen weiteten sich ordentlich, als er realisierte, was Grayson in so freundlichen Worten versuchte ihm mitzuteilen. Obwohl er deutlich den Hohn dabei heraushören konnte und das böse Grinsen auf seinem Gesicht erkannte, ohne ihn wirklich anzusehen.
Tristan konnte spüren, dass Grayson sein Spiel noch lange nicht beendet hatte.
Aber vielleicht konnte nun er persönlich, mit seinem Spiel anfangen. Vielleicht würde hiermit sein Rachefeldzug beginnen, auch wenn er sich einen genauen Plan überlegen musste, wie er von nun an vorgehen würde. Obwohl ihm übel war und er am liebsten schreien würde, blieb er wie versteinert auf diesem Krankenbett sitzen. Er hielt seine Violine in der Hand, während er nur ins Leere starrte und versuchte, sich in Gedanken schon darauf vorzubereiten, was ab sofort auf ihn zukommen würde.
Er hätte die Möglichkeit jetzt sich zu wehren. Etwas zu sagen und dafür sorgen, dass Grayson die Strafe bekam, die er verdient hatte. Doch er tat nichts. Er blieb nur sitzen und wartete ab, bis Lapointe zur Tür gekommen war.
„Ich komme dich morgen in der Früh abholen, dann können wir zusammen Weihnachten feiern. Damit keiner von uns so alleine ist."
Tristan konnte bei weitem nicht sagen, was der Mann mit ihm vorhatte, was er mit ihm tun würde oder ob er nicht doch nur gute Miene zum bösen Spiel machte, er wusste es nicht, aber er wollte es herausfinden.
Der Teenager rührte sich nicht. Zumindest solange nicht, bis er sich sicher war, dass die Schritte des Mannes verklungen waren, nachdem er sich entfernt und die Station verlassen hatte. Selbst dann blieb Tristan eine Weile sitzen, bis er irgendwann aufsprang, sich näher ans Fenster stellte und hinaussah, während er die Violine anfing zu stimmen und dann kurz darauf Stille Nacht – Heilige Nacht zu spielen.
So, dass es alle auf der Station hören konnten.
Und er spielte so, als wäre es das letzte Lied, das je seine Finger und diese Violine verlassen würde.
Tristan schreckte aus seinem Albtraum hoch und versuchte sich zunächst nur zu orientieren. Im ersten Moment hatte er Panik, da er nicht zuordnen konnte, in was für einem Zimmer er sich befand, wer neben ihm lag und welche Zeit sie hatten.
Für einen Moment dachte er, wieder vierzehn zu sein, aber nachdem er seinen Atem unter Kontrolle gebracht hatte und er sich in der Dunkelheit ein wenig umsah, erkannte er, dass er in Dublin in einem Hotelzimmer lag. Neben ihm Katie, seine Freundin, die mit ihm diese Reise angetreten hatte. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich und ein Blick auf die Uhrzeit verriet ihm, dass es kurz nach drei in der Nacht war. Zumindest konnte er ein paar Stunden schlafen, da er sich sicher war, dass er von nun an kein Auge mehr zubekommen würde. Denn dieser Albtraum, nein vielmehr war es ein Flashback, war wieder zu real gewesen, seine Vergangenheit holte ihn ein und er wusste, dass sie ihn womöglich niemals ruhen lassen würde. Vierzehn Jahre war der ganze Vorfall her, seit zehn Jahren war er endlich auf freiem Fuß, auch wenn das nicht bedeutete, dass die Vergangenheit und dieser Mann ihm seine Ruhe ließ.
Grayson Lapointe wusste immer, wo er war.
Das verriet ihm eine Nachricht auf seinem Handy, als Tristan die Glückwünsche durchging, die ihm Freunde und Kollegen hatten zukommen lassen, denn darunter war eine ihm bekannte Nummer, auch wenn er sie nie eingespeichert hatte. Im Grunde löschte er diese Verläufe sofort, aber die Nachricht ließ ihn schlucken. Wie jedes Jahr.
Happy Birthday, Tristan. Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag? Ich erinnere mich gerne an jenen Tag vor vierzehn Jahren zurück. Möchtest du nicht gemeinsam mit mir in Erinnerungen schwelgen?
Er sah kurz panisch zu Katie, aber als ihm klar wurde, dass sie weiterhin tief und fest schlief, widmete er sich wieder dem Handy und ließ die Worte noch einmal auf sich wirken. Danach kümmerte er sich darum, dass diese Nachricht nie wieder auf diesem Gerät zu finden war. Er ging die restlichen Glückwünsche durch, bedankte sich bei einigen und endete dann im Chat mit Katie, die ihm vorhin die Fotos von den letzten Tagen und Stunden geschickt hatte, damit er sie ebenfalls besaß. Ihre gemeinsamen Selfies brachten ihn wieder zum Lächeln. Er wünschte sich besonders in solchen Momenten, Katie alles erzählen zu können, sich ihr anvertrauen zu können. Wenn er sich der Frau vollkommen offenbaren und ihr erklären würde, was er nicht schon alles im Leben getan hatte, würde sie sich von ihm abwenden und in ihm ein Monster sehen.
Deshalb hatte Tristan sich schon vor Jahren dazu entschlossen, niemals genau über die Vorkommnisse und die Zeit danach zu sprechen. Dafür musste er in Kauf nehmen, dass dadurch die Beziehung zu der Frau, die er liebte, in die Brüche ging. Denn sie konnte mit ihm nur zusammen sein, wenn er aufrichtig und vollkommen ehrlich zu ihr war. Und das konnte er nicht. Er schaffte es nicht.
Trotzdem war sie weiterhin an seiner Seite und obwohl sie Schluss gemacht und die Verlobung aufgelöst hatten, war so, als hätte sich nie etwas geändert. Möglich, dass Kathleen das genauso haben wollte, da sie genauso an ihm hing, wie er an ihr.
Und das war Grund genug für Tristan, weiterzumachen. Für sie weiterzumachen und ihr das zu schenken, was sie brauchte.
Irgendwann legte der Mann das Handy wieder auf den Nachttisch neben sich, ließ sich in das Kissen nieder und drehte sich so, sodass er die Blonde ein wenig betrachten konnte. Er wusste, dass sie das nicht mochte. Im Moment hatte sie etwas Beruhigendes an sich, weshalb Tristan seine Hand vorsichtig in ihre gleiten ließ und die Augen schloss, denn so konnte er sich sicher sein, dass sie kein Trugbild war, sondern bei ihm war. Er versuchte, wieder Schlaf zu finden, obwohl er genau wusste, dass dies nicht möglich war.
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