Kapitel 5
Weshalb auch immer er das alles mitmachte, Tristan wollte Katie glücklich sehen und ihr somit jeden Wunsch erfüllen. Es war ihr gemeinsamer Urlaub und deshalb war es wichtig, dass beide Parteien zufrieden waren. Wenn sich Kathleen wünschte, in Belfast ins Titanic Museum zu besuchen, dann erfüllte er ihr diesen, ohne mit der Wimper zu zucken. Es waren wohl weiterhin Gefühle für diese Frau im Spiel, anders war sein ein Verhalten nicht zu erklären. Fakt war, dass sie ihm sehr viel bedeutete und Tristan bereit war, für sie eine Kugel abzufangen, wenn es sein musste.
Für ihn zählte nicht mehr. Er war interessiert an Geschichte, an dem, was geschehen war, er wollte erfahren, wie sich alles abgespielt hatte, vollkommen abseits von dem, was einem in dem Film gezeigt wurde. Deshalb bestand ihr zweiter Tag in Irland darin, das Museum in Belfast zu besuchen und anschließend die restliche Stadt zu erkunden. Und weil der Arzt ein ziemliches Organisationstalent war, gelang es ihm mit Katies Hilfe, Tickets online zu buchen, um nicht lange anstehen zu müssen, sondern direkt ins Museum einzutreten.
„Das ist alles so traurig", hörte er Katie sagen, die die ganze Zeit über ziemlich bedrückt war. Sie saugte aber die Informationen auf, wie ein Schwamm. Tristan war stets hinter ihr, sie hatten gemeinsam die Informationstafeln gelesen. Sie sprachen darüber, diskutierten und wenn er tief in sich hineinblickte, hinterließ das alles doch einen miesen Beigeschmack. Ein unangenehmes Gefühl.
Ein Gefühl, das ihn schon wieder länger verfolgte, denn diese ganze Tragödie erinnerte ihn daran, was ihm widerfahren war, und das sorgte dafür, dass er für eine Weile recht abwesend in der Gegend herumstand und seinen Gedanken nachhing. Es war so viel passiert und womöglich würde aufgrund dessen eine ganze Menge geschehen. Tristan war sich sicher, dass Lapointe nicht zuschlagen würde, während sie in Europa waren. Hier hatte dieser Mann keine Kontrolle, niemanden, der ihn unterstützte. Das hier war nicht sein Gebiet. Dennoch genoss er ihren Urlaub mit ziemlicher Vorsicht. Er versuchte, nicht auf sein Handy zu sehen, seltener, als er so schon machte. Die Nachrichten, die Grayson ab und an hinterließ, sowohl in Briefen als auch digitale Kurznachrichten, um ihm weiszumachen, dass er ihn weiterhin beobachtete, ließen ihn nicht kalt. Das alles durfte er nicht unterschätzen und er wusste, dass Handlungsbedarf notwendig war. Aber nicht hier, nicht jetzt.
Er hatte einen Plan, einen, den er schon seit einer gewissen Zeit in die Tat umsetzte, aber er war nicht fertig. Sein Ziel hatte er noch nicht erreicht. Es gab so viel zu tun. Möglicherweise konnte der Arzt danach endlich wieder in Frieden leben. Ein ruhiges Leben führen. Eines, ohne Albträume, ohne Angst oder der Paranoia, dass er ständig unter Beobachtung stand. Ein Leben ohne diesen Terror.
Er schreckte hoch, als er eine Hand an seinem Arm spürte und blickte sich einen Moment verwirrt um, entdeckte dann aber Katie, die ihn besorgt anlächelte.
„Tristan? Ist alles in Ordnung? Du wirkst so abwesend." Der Mann antwortete zunächst nicht, sondern sah seine Freundin an. Er atmete tief durch und versuchte sich zu fassen, sich zusammenzureißen und an einen klaren Gedanken zu kommen. Er blickte sie an, wobei ihm klar war, dass sie ihm genau ansah, dass ihn etwas beschäftigte. Verständlicherweise. Sein Geburtstag und der Jahrestag des Vorfalls standen ihm wieder kurz bevor und heute, fast fünfzehn Jahre später wusste Tristan immer noch nicht, wie er damit umgehen sollte. Eine Therapie hatte er nie gemacht, um sich damit auseinanderzusetzen und aufzuarbeiten, was geschehen war. Tristan versuchte, die ganze Zeit alleine mit diesem Trauma klar zu kommen.
Er wollte sich nichts anmerken lassen. Stattdessen legte er seine Hände auf ihre Schultern und rang sich ein Lächeln ab, um ihr zu zeigen, dass es ihm gut ging.
„Alles gut. Ich denke, ich habe mich einfach nur in ein paar Gedankengängen verloren. Nichts Schlimmes." Sanft fuhr er ihr durch eine ihrer blonden Locken und nickte einmal bekräftigend, um ihr zu zeigen, dass alles bestens war. Obwohl es dem nicht so war. Tristan war nie jemand gewesen, der so offen über seine Gefühle sprach. Es fiel ihm schwer, jene Erinnerungen hochzuholen, die ihn in bis in seine Träume verfolgten. Von Lapointe konnte er sowieso nicht anfangen, das würde es nur schlimmer machen.
„Komm. Ich denke, wir können gehen", schlug sie vor, als sie nach seiner Hand griff.
„Hast du denn genug gesehen?" Seine Ex-Verlobte lachte und winkte ab.
„Wenn ich jetzt noch länger hier bleibe, fange ich wirklich an zu weinen. Und ich denke, das wollen wir nicht. Ich bin dafür, dass wir gehen und uns weiterhin in der Stadt umsehen. Steht denn sonst noch etwas auf dem Plan?" Sie sagte das alles nur, um ihn aus der Situation zu retten, um ihn aus seinem eignen Konflikt zu befreien. Katie hatte ein Gefühl dafür entwickelt, wann es Tristan nicht sonderlich gut ging. Er hatte nicht einmal sagen müssen, was los war, wie er sich fühlte und was in ihm vorging. Katie hatte es irgendwann hingenommen, aufgehört Fragen zu stellen und sich stattdessen darum zu kümmern, dass er auf andere Gedanken kam. Es war faktisch ihr sechster Sinn. Sie konnte das nämlich nicht nur bei ihm, sondern bei allen Menschen in ihrem Umfeld.
„Was hältst du von den botanischen Gärten?", kam es nach einer kurzen Überlegung von Tristan, während sie Hand in Hand den Ausgang der Ausstellung suchten.
„Vielleicht ist das eine nette Abwechslung zu dem, was wir jetzt gesehen haben. Ja, ich denke, das brauchen wir jetzt unbedingt." Katie schien überzeugt von der Idee und womöglich hatte sie damit sogar recht.
„Das oder wir fahren etwas aus der Stadt raus und machen einen großen Spaziergang im Cave Hill Country Park. Die Zeit hätten wir ja", schlug er als Nächstes vor. Sie waren früh aufgestanden, denn zwischen Dublin und Belfast lagen doch gut zwei Stunden mit dem Auto, momentan schlug die Uhr etwa zwölf und damit hatten sie genug Zeit, bevor es für sie zurückging. Kathleen schien tatsächlich darüber nachzudenken, was sie unternehmen wollte.
„Ach, ich denke, ich wäre für den großen Spaziergang. Dort können wir sicher auch schöne Fotos machen. Ein paar Erinnerungen schaffen", entschied Katie einen Moment später und Tristan fuhr sich mit einer Hand durch das längere, braune Haar.
„Ihr Wunsch sei mir Befehl, Dr. Dunham." Tristan konnte erneut lächeln. Sie hatten nur diesen bedrückenden Ort verlassen müssen, damit er wieder auf die Höhe kam. Katies Laune trug sowieso dazu bei, um sich besser zu fühlen, und er zumindest ein wenig entspannen konnte. Ihm war bewusst, dass er dieses Gefühl der Verfolgung nie ablegen konnte, bis das alles nicht beendet war.
Sie wanderten den Cave Hill hinauf, machten daraus einen gemütlichen Spaziergang, wobei Katie die Situation nutzte, um einige Fotos zu schießen. Tristan musste von ihr Bilder knipsen und das altbekannte Selfie durfte natürlich auch nicht ausbleiben. Er war zwar kein Fan davon, aber er wusste, dass es wichtig war, Erinnerungen zu schaffen, die man physisch in der Hand halten konnte. In diesem Fall Fotos, die man ausdruckte und in ein Album klebte. So, wie es Kathleen gerne tat. Sie hatten von ihren Reisen, ihren kleinen Abenteuern und Ausflügen und von völlig normalen Alltagssituationen Alben zuhause herumstehen. Katie hatte all diese selbst gestaltet und obwohl sie sich erst seit guten vier Jahren kannten, war in dieser Zeit eine ganze Menge geschehen. Momente, die die Blonde festgehalten hatte und durchaus gerne zu den Alben griff, um sich die Fotos mit ihm anzusehen.
Er stand auf dem Flur mit den Angehörigen eines Patienten, der vor wenigen Minuten, während der Not-Operation, verstorben war. Er versuchte die richtigen Worte zu finden, um ihnen zu erklären, dass jeder Arzt alles gegeben hatte, um ihren Sohn zu retten. Dieser hatte bei einem Autounfall schwere innere Verletzungen erlitten und war in einem kritischen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert worden. Gab es für so etwas die richtigen Worte? Konnte man da diese überhaupt finden? Tristan fiel das alles schwer, er hatte sich mit sozialer Interaktion schon immer geplagt. Bereits als Kind, aber er wusste, dass es notwendig war, wenn man Arzt werden wollte und das war sein Ziel gewesen. Jetzt war er so knapp davor.
Doch bevor er ein Wort sprechen konnte, stand plötzlich eine junge, blonde Frau neben ihm und zog die Aufmerksamkeit der aufgebrachten Eltern auf sich. Sie erklärte ihnen in Ruhe und vor allem einfühlsam, was geschehen war und Tristan selbst brauchte einen Moment, bis er verstand, wer bei ihm stand. Er kannte zwar ihren Namen nicht, aber es handelte sich dabei um eine Kommilitonin, die ihre Ausbildung ebenfalls hier in diesem Krankenhaus ablegte. Er war ihr schon einige Male über den Weg gelaufen. In Kursen, am Campus, in den Fluren der Universität. Sie hatten nie wirklich viel miteinander gesprochen.
Deshalb verwunderte es ihn, dass sie eingegriffen hatte, nachdem sie bemerkte, dass Tristan es nicht schaffte, den Menschen zu erklären, dass ihr Sohn nicht mehr zu ihnen nach Hause zurückkehrte. Sie hatte es gemerkt und wollte ihm zur Hilfe kommen. Hoffentlich bekam das sonst niemand mit. Es war doch seine Aufgabe. Man hatte es ihm nach der OP aufgetragen. Es dauerte ein paar Minuten, aber nachdem die Eltern gegangen waren, wandte sich die ihm bekannte Fremde an ihn und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Irgendwie war sie bereits so etwas wie eine Konstante in seinem Leben und das, obwohl sie kaum miteinander zu tun hatten.
„Mach dir keinen Kopf. Es gibt viel, das sie uns an der Uni beibringen, aber das sind so Dinge, die nicht dabei sind. Mach dir also nichts daraus." Er spürte eine Hand auf seinem Oberarm und wich deshalb zurück, da ihm das doch unangenehm war. Tristan senkte den Blick und atmete tief durch. Einerseits fühlte er sich in ihrer Nähe gleich viel besser, gleichzeitig wurde er ganz schrecklich nervös. Aber das hatte die Fremde an sich. Sie schaffte es, dass die Leute, die sich in ihrer Nähe befanden, direkt wohler fühlten. So viel hatte er in den letzten Jahren beobachten können. Sie sprachen zwar nicht miteinander, aber er erwischte sich immer wieder dabei, wie er sie aus der Ferne beobachtete.
„Danke", kam es von ihm, nachdem er die Worte wiedergefunden hatte. Sie hatte ihm den Hintern gerettet und zumindest dafür gesorgt, dass die Professionalität nicht gänzlich verschwand.
„Schon gut, hat mich gefreut, dass ich helfen konnte. Auch wenn der Grund dafür doch ziemlich traurig war. Armer Kerl... und die armen Eltern. Ich bin mir sicher, ihr habt euer Bestes im OP gegeben." Der junge Student nickte nur stumm, um so ihre Aussage zu bestätigen.
„Ich muss jetzt auch weiter. Ich werde in der Notaufnahme gebraucht." Er räusperte sich und wandte sich dem Gehen zu. Es gab tatsächlich noch eine Menge zu tun, bevor seine Schicht endete.
„Das kommt ganz gut, denn da muss ich nämlich ebenfalls hin", erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln und deutete in die Richtung der Aufzüge.
„Wir könnten ja zusammen hinunterfahren und auf dem Weg dorthin können wir uns schon einmal überlegen, wie wir das angehen wollen." Tristan hob nur verwundert den Blick und sah sie verwirrt an. Was sie wohl damit meinte? Tristan ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Person, die vor ihm stand, seine Partnerin war, mit der er die Ausbildung absolvieren würde. Er hatte nur früher angefangen, weil gewisse Ärzte begeistert von seinem Talent und Können waren, weshalb er mit dem Vorgang hier durchaus vertraut war. Nur hatte er vergessen, dass er mit der Zeit einen Partner an die Seite gestellt bekam.
„Was meinst du damit?" Tristan verstand die Situation nicht, doch die Blonde schien geduldig und war bereit, ihm zu erklären, was hier vor sich ging.
„Wir sind Partner, hast du das etwa vergessen? Wir sind damals eingeteilt worden, aber ich nehme dir das nicht übel...ich meine, du hast eine doch recht stressige OP hinter dir. Alles cool, Iceboi."
Er würde dieses Lächeln von da an nie vergessen. Und sie hatte nie aufgehört, ihn Iceboi zu nennen. Vor gut vier Jahren hatte sie ihn das erste Mal so genannt. Von diesem Tag an, hatten sie angefangen gemeinsam zu arbeiten, sich eine Freundschaft aufzubauen. Tristan war es irgendwann gelungen, sich ihr vorzustellen und sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er von da an nicht mehr als Einzelgänger durch das Krankenhaus laufen musste. Er hatte jemanden an seiner Seite, der mit für wichtige Prüfungen lernte und von der er eine ganze Menge beigebracht bekam. An diesem Tag vor gut vier Jahren hatte er Katie Dunham kennengelernt, sie hatte ihm den Kopf verdreht und seitdem war kein Tag vergangen, den sie nicht zusammen verbrachten. Sie hatte ihn damals schon aus der Bahn geworfen und schaffte es heute noch immer und immer wieder. Sie war einfach Katie.
Wie konnte er diesen Tag je vergessen? Vor vier Jahren hatte ihre gemeinsame Reise angefangen, nun waren sie hier, hatten einiges durchgemacht, doch war Tristan nach wie vor nicht bereit dazu, seine Vergangenheit komplett auszupacken. Etwas, das immer zwischen ihnen gestanden war. Katie hatte für alles Verständnis gehabt, aber als er, wie sie sagte, anfing, sich wieder zurückzuziehen, sich zu verändern, ertrug sie es nicht, mit ihm in einer Beziehung zu sein. Vor allem dann nicht, wenn er es nicht schaffte, zu sagen, was ihn beschäftigte. Dennoch hatte Katie ihn zu einem besseren Mann gemacht. Sie hatte dafür gesorgt, dass er mehr aus sich herauskam und sich ein wenig entfaltete.
Oben auf dem Hügel angekommen, hatten sie sich beide auf einer Decke niedergelassen, die Tristan eingepackt hatte, und sie beobachteten die Gegend. Sie nahmen die schöne Aussicht auf und er merkte, wie sich Katie an ihn schmiegte, seine Nähe suchte und er versuchte, ihr diese ebenfalls zu schenken. Sie waren eine Weile still gewesen, hatten das alles genossen, doch Tristan wurde es schwer ums Herz, als aus dem völligen Nichts eine Frage von ihr kam, mit der er niemals gerechnet hatte. Zumindest nicht hier, nicht jetzt.
„Sag mal, Tristan. Warst du je an dem Grab deiner Eltern und deiner Geschwister?"
Das hatte ihn zunächst in eine ziemliche Schockstarre versetzt, sein ganzer Körper spannte sich automatisch an und er zwang sich, Katie dabei nicht anzusehen. Die Frau hatte andere Pläne mit ihm, obwohl sie doch einfühlsam mit ihm sprach und ihn genauso ansah. Sie war im Moment bestimmend und wollte auf diese Frage eine Antwort. Sie wollte nicht, dass er ein weiteres Mal auswich.
Irgendwann gelang es ihm, den Kopf zu schütteln, ließ den Blick dabei gesenkt. Sie kannte einen Teil der Wahrheit. Sie wusste, was ihm damals widerfahren war, zumindest im Groben. Katie kannte die Narben auf seinem Körper, die er seit jenem Tag hatte. Die ganze Wahrheit hatte sie jedoch bis heute nicht erfahren.
„Nein, war ich nie", kam es über seine Lippen und war damit sogar ehrlich. Was das anging, gab es auch nichts, was er verstecken musste.
„Ich habe es nie geschafft, wenn ich ehrlich bin." Ein Seufzen folgte auf beiden Seiten.
„Aber du hast doch die ganze Zeit in Québec gelebt, oder? Du warst doch immer dort, richtig?" Tristan nickte und sah dabei in die Richtung der Stadt, die unter ihnen lag. Eigentlich sprach er solche Dinge nicht von sich aus an. Es war Katie, die das Thema das erste Mal angesprochen hatte, nachdem sie einige Zeitungsartikel darüber gefunden hatte. Dabei hatte sie ihn nur in den sozialen Medien suchen wollen. Profile hatte sie von ihm nicht gefunden, aber dafüber Artikel, die erzählten, was man ihm und seiner Familie angetan hatte.
„Ein...Freund der Familie hatte mich damals aufgenommen. Der hat sich um mich gekümmert, bis ich dann nach meinem Abschluss in die Staaten kam, um zu studieren." Nein, er konnte nicht. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Das würde sie ihn in einem anderen Licht sehen lassen. Und das ertrug er nicht.
Nun war es Katie, die still war. Womöglich wusste sie selbst nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Es war schließlich für sie beide nicht leicht. Denn er war sich sicher, dass sie ihm nicht zu nahe treten wollte, während er damit beschäftigt war, sie nicht mit seiner dunklen Vergangenheit zu verschrecken.
„Denkst du, dass du es irgendwann schaffen wirst, dahin zu gehen?" Eine weitere Frage, die ihn aus der Bahn warf. Tristan wusste einfach nicht, was er antworten sollte.
„Ich weiß es nicht, Katie. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch gar nicht, wo sie liegen... Vielleicht wusste ich es einmal, aber ich denke, das habe ich verdrängt. Irgendwann." Er musste schlucken, wartete darauf, was seine Freundin zu sagen hatte. Dieses Gespräch war ihm unangenehm.
„Aber das ist doch etwas, das sich herausfinden lässt. Und ich weiß nicht...du hast nie darüber gesprochen... aber gibt es da nicht sogar mehr? Ich meine Familienmitglieder? Deine Großeltern? Oder Geschwister deiner Eltern? Irgendjemanden?" Tristan wusste, warum sie das fragte. Sie wollte nicht, dass er allein durch diese Welt ging. Das war er doch gar nicht. Zumindest nicht mehr. Er hatte Katie und durch sie hatte er es geschafft, einige andere Menschen kennenzulernen. Er hatte Freunde gefunden, zu denen er mal mehr, mal weniger Kontakt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er nie darüber nachgedacht, nach weiterer Familie zu suchen. Vielleicht, weil das so schmerzhaft war.
„Ich... ich weiß es nicht. Von der Seite meines Vaters weiß ich, dass da niemand ist. Da sind auch meine Großeltern schon vor langer Zeit gestorben... aber auf der Seite meiner Mutter? Soweit ich weiß, würden die alle in Ungarn leben. Aber wir hatten nie Kontakt zu diesen Menschen. Meine Mutter hatte sich mit ihren Eltern sehr zerstritten, bevor sie nach Kanada ging, um meinen Vater zu heiraten. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen." Erneut seufzte er, lächelte verbittert und blickte dabei auf ihre Hände, denn Katie hatte Ihre auf Seine gelegt, während sie ihm zuhörte.
„Wir waren also nie dort... Alles, was ich von meinen Wurzeln habe, ist also noch die Sprache, die ich beherrsche, ich kenne einige Volkslieder, die ich auf der Violine spielen kann und natürlich das Buch." Ein Schulterzucken folgte auf der Seite des Mannes.
„Hast du denn nie darüber nachgedacht, nach dieser Seite der Familie zu suchen? Ich meine, es ist doch Familie. Vielleicht solltest du es versuchen." Das alles klang doch absurd. Warum sollte er sie heute noch ausfindig machen? Unsicherheit überkam ihn.
„Denkst du wirklich, ich sollte das tun? Aber wie soll ich das anstellen? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie meine Großeltern heißen könnten... ich habe vielleicht den Mädchennamen meiner Mutter im Kopf, aber dieser ist auch ein recht häufiger Name in Ungarn. Das könnte schwierig werden." Katie richtete sich ein wenig auf und sah ihn an. Sie wirkte beinahe schon fest entschlossen, das in die Hände zu nehmen oder ihm dabei zu helfen.
„Aber du kannst es versuchen. Und heutzutage ist doch alles möglich. Ich meine, dann hättest du auch Gewissheit und vielleicht ist da draußen noch jemand, der dich kennenlernen möchte. Versuche es doch, Tristan." Katie lächelte, gab ihm einen Kuss auf die Wange. Für sie stand fest, was nun zu tun war. Was das anging, konnte seine Freundin eine unglaublich gute Motivatorin sein.
Er wusste zwar nicht, woher dieses Gespräch jetzt kam und was genau es hätte bezwecken sollen, aber war es einen Versuch wert? Wagte er es, einen Teil seiner Vergangenheit auszugraben, von dem ihm gar nicht klar war, dass er überhaupt existiert hatte? Waren da sogar lebende Großeltern, die ebenfalls Gewissheit haben wollten?
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