Kapitel 41
Dem Arzt war nicht klar, wie lange er auf diesem Balkon gestanden hatte, um alles hinauszuschreien, was sich all die Jahre in ihm angesammelt hatten. Um die Wut rauszulassen, die sich erneut in ihm gesammelt hatte, nachdem er vorhin die ganze Wahrheit erfahren hatte. Er wusste nicht, ob er das ertragen konnte, ob er damit leben konnte, eine Spielfigur auf so vielen Spielbrettern gewesen zu sein. Er hatte das Gefühl, alles um ihn herum stürzte ein. Eine Mauer, die schwer getroffen worden war und dadurch in sich zusammenbrach.
Er war erschöpft, er hatte keine Kraft mehr. Immer wieder wiederholten sich die Worte in seinem Kopf, dass das alles niemals notwendig gewesen wäre, wenn man ihm Bescheid gesagt hätte. Immer und wieder tauchten diese Worte vor seinen Augen auf und ließen ihm keinen Frieden.
Würde er denn jemals Frieden leben können, nachdem er wusste, was alles getan wurde, um Lapointe im Auge zu behalten?
Tristan empfand für diese Handlungen kein Verständnis. Er brauchte keines dafür zu haben. Er hatte genug gekämpft. Für sich allein. Vielleicht wäre es für immer besser gewesen, sich niemals an die Behörden zu wenden, doch wer wusste schon, wann sie sich an ihn gewandt hätten.
Als er nicht mehr konnte, kauerte der Mann sich auf den Boden und zog dabei die Beine an, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.
So klein, wie er damals versucht hatte, sich in der Schule zu machen. Oder auch während der Zeit, in der er bei Grayson gelebt hatte.
Er fühlte sich klein. Unbedeutend, einfach nicht wichtig.
„Ich hätte euch besser beschützen müssen." Es war die Stimme seiner Mutter, die ihn wieder in das hier und jetzt zurückholte und dafür sorgte, dass er den Blick hob. Seine Sicht war vom Tränenschleier noch verschwommen. Im Moment fühlte er sich wie der kleine Junge von damals, der es nicht schaffte, sich selbst in der Schule zu verteidigen. Melinda war zu ihm gestoßen, dabei war ihm gar nicht bewusst, wie lange er von den anderen weg war, ob und wie lange sie nach ihm gesucht hatten.
Sie setzte sich neben ihren Sohn und ihren Lippen entkam ein leises Seufzen. Dabei blickte die Frau hoch in den Himmel und versuchte die passenden Worte zu finden, die sie ihrem Kind in diesem Augenblick weitergeben konnte. Eigentlich hatte Melinda das immer gut gekonnt, doch dieser Moment unterschied sich deutlich zu den Situationen, die er damals durchgemacht hatte. Das hier war ein ganz anderes Level. Und trotzdem war er ihr Sohn und sie wollte ihm eine gute Mutter sein.
„Ich habe all die Jahre darum gekämpft, euch wieder in meinem Leben haben zu dürfen. Und ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich alles gegeben habe. Das habe ich womöglich nicht, denn ich bin mir sicher, dass es auf irgendeinem Weg gewiss gegangen wäre. Ich habe nur nicht jede Möglichkeit bis zum Ende ausgeschöpft. Und das tut mir leid. Ich habe dich und Ben im Stich gelassen. Das ist etwas, das kann und werde ich mir niemals verzeihen."
Ihre Worte schienen aufrichtig, vollkommen ehrlich. Tristan glaubte ihr. Er wischte sich über das nasse und rote Gesicht, lehnte dieses kurzerhand an ihre Schulter, suchte den Halt seiner Mutter. Jenen Halt, der ihm all die Jahre gefehlt hatte. Er hatte das gebraucht. Er hatte sie gebraucht.
„Es ist eine ganze Menge schief gelaufen und vielleicht hätte ich mit euch gehen sollen. Bevor das alles passiert ist. Ich meine, ich hätte mit euch allen gehen sollen. Damit euer Vater sich mit diesem Problem alleine rumschlagen kann."
Sie wusste Bescheid? Sie hatte gewusst, dass Robert Livingston in großen Schwierigkeiten gesteckt hatte?
„Eigentlich war das sogar geplant gewesen. Weißt du noch, als wir euch erzählt haben, dass wir uns Europa ansehen wollen? Mein Plan ist es gewesen, mit euch für immer dort zu bleiben und zu euren Großeltern zu ziehen. Euer Vater hat uns nichts als Probleme bereitet. Aber ich schätze, ich habe mir mit allem viel zu viel Zeit gelassen."
Melinda zuckte mit den Schultern.
„Das hat mich das Leben zwei meiner Kinder gekostet. Ich bin selbst schuld daran. Und du sollst wissen, dass du damals mehr getan hast, als du je hättest tun müssen. Tristan du hast uns gerettet. Auch wenn du das vielleicht nicht wahrhaben willst."
Melinda legte vorsichtig einen Arm um den Körper ihres Sohnes.
„Wir haben viel verloren und wir haben alle unsere Konsequenzen davon getragen. Wir haben alle neu anfangen müssen. Wir sind alle auch daran gewachsen und haben es trotzdem irgendwie geschafft."
Tristan schluckte schwer, wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, blieb an sie geschmiegt und versuchte, sich zu beruhigen.
„Und jetzt sind wir wieder zusammen. Ich kann nicht versprechen, dass es so wird wie damals, weil das wird es nicht. Aber wir können etwas ganz neues schaffen. Zusammen."
Vielleicht hatte sie ja recht.
„Und deine Familie ist viel größer, als du dir das vorstellen kannst, Tristan. Du hast in Ungarn einen Haufen Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln. Deine Großeltern. Sie alle freuen sich darauf, dich und Benedict kennenlernen zu dürfen." Sie lächelte und irgendwie kostete das alles ihn ein sanftes Hochziehen seiner Mundwinkel. Er war doch dran gewesen, diese Menschen zu finden, aber dann war Ben aufgetaucht und er hatte sich dazu entschieden, sich vorerst auf ihn zu konzentrieren.
„Besonders deine Großmutter möchte unbedingt wissen, wie ihre ältesten Enkel so drauf sind."
Vorsichtig legte Tristan seine Arme um den Körper seiner Mutter und versuchte sie so an sich zu drücken.
„Ich hab dich vermisst, Anya", flüsterte er ihr zu und schluckte.
Dabei spürte er, wie er einen Kuss von ihr auf die Schläfe bekam.
„Ich dich auch. Euch beide, Tristan. Ich habe immer an euch gedacht und habe immer versucht informiert über euch zu bleiben. Und du sollst wissen, dass ich so unfassbar stolz auf euch bin."
„Auf Tristan kann man doch auch nur stolz sein. Das Supersöhnchen ist Arzt geworden. Er hat das Medizinstudium ohne Probleme gemeistert." Es war Bens Stimme, die in der Tür des Balkons ertönte und grinste. Er kam dabei auf sie zu und sah zu ihnen hinab.
„Und auf dich bin auch stolz, Benedict. Nicht jeder kann behaupten, so wunderbar zurück ins Leben zu finden. Und das in so kurzer Zeit. Ihr seid beide so unfassbar starke Männer geworden. Und das meine ich auch so, wie ich es sage", kam es von Melinda, die sich von dem jüngeren Zwilling aufhelfen ließ.
Tristan kämpfte sich zurück auf die Beine und musste feststellen, dass Noah da war, ebenso Katie und Eddie. Sie waren alle hierher gekommen.
„Und wir haben eine neue Familie gefunden. Ich glaube, ohne Katie und Eddie wären wir beide ziemlich verloren gewesen. Und sie wächst ja nun auch weiter." Ben kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus, bedeutete den anderen, dass sie näher kommen sollten, damit sie sich alle umarmen konnten. Katie stellte sich dabei direkt zu Tristan, sie gaben dabei einander einen Kuss und eigentlich hatten sie alle recht.
Es war nicht alles richtig gelaufen. Aber sie sollten versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, obwohl das für ihn ein langer und schwieriger Weg werden würde.
Ben und Eddie küssten sich machten sich klar, dass sie einander liebten, nur Noah verdrehte etwas genervt die Augen, ließ sich dann doch auf die Umarmung ein. Sie waren eine Familie und sie wurde größer. Er und Katie erwarteten ein Baby, etwas, das Melinda sicher schon wusste, dennoch wollten sie es in den nächsten Wochen offiziell machen, damit es jeder mitbekam. Er war sich sicher, dass Katie bereits die Babyparty plante.
„Wir lassen nicht mehr zu, dass dieser Schwerverbrecher uns auseinanderreißt. Wir schnappen uns den Kerl, damit er auch endlich das bekommt, was er verdient", hörte er Melinda sagen, die ziemlich siegessicher in der Sache zu sein schien.
Tristan war sich nicht sicher, ob das alles so einfach werden würde, aber vielleicht würde das alles endlich besser werden.
Möglicherweise würde er es endlich schaffen, zur Ruhe zu kommen und das alles hinter sich zu lassen.
Er hatte eine große Familie hinter sich stehen, die ihm dabei half, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Außerdem gab es eine Menge, auf die er sich nun konzentrieren musste.
Allem voran auf die Tatsache, dass er selbst in einigen Monaten Vater wurde und somit seine eigene Familie gründete.
Er wollte für seine Familie wieder ein glücklicher Mensch werden. Er wollte für sich glücklich werden.
Tristan wollte leben.
Er hatte sich dafür entschieden.
Für das Leben.
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