Kapitel 38
„Ich dachte, ich erkundige mich mal, wie es dir so geht. Schließlich sind wir doch alte Freunde", hörte er den Mann am anderen Ende der Leitung sagen. Dabei vernahm er den Hohn, der in dessen Stimme mitschwang und am liebsten hätte Ben sofort wieder aufgelegt. Doch irgendetwas hinderte ihn daran. Er wusste nicht, was es war. In in ihm keimte eine Wut auf, die er nicht so nicht fassen konnte, weshalb er erst einmal stehen blieb und Grayson sprechen ließ.
Er konnte es nicht glauben. Reichte es nicht, dass er schon Tristan terrorisiert hatte? Musste er mit ihm auch noch anfangen?
„Was willst du?", presste er zwischen den Zähnen hervor, denn Benedict fiel es im Moment schwer, sich zusammenzureißen. Am liebsten wäre er explodiert. Dieser Mann hatte sich zu viel herausgenommen. Und dass er bei ihm anrief, brachte das Fass zum Überlaufen. Das alles musste aufhören. Ganz dringend.
Mittlerweile konnte er sich vorstellen, was Tristan alles durchmachen musste die letzten Jahre. Allein deshalb versuchte der Mann erst einmal ruhig zu bleiben, obwohl es ihn einiges an Beherrschung kostete.
„Was sollte ich denn wollen, Ben? Ich möchte nur wissen, wie es dir geht. Schließlich sind wir doch alte Freunde, nicht?" Grayson lachte wieder.
„Außerdem bin ich neugierig, was du von Tristans Taten hältst. Schließlich war doch er immer der Vernünftigere von euch gewesen, nicht? Zumindest, soweit ich das damals von eurem verlogenen Vater mitbekommen habe."
Nein, das war zu viel. Nun war seine Toleranzgrenze eindeutig erreicht.
„Ich weiß nicht, was du willst oder was du dir erwartest, aber du kannst dir sicher sein, dass du nicht erneut gewinnen wirst." Aus ihm sprach mehr Mut, als er zunächst dachte und Ben hoffte, dass er dies das restliche Gespräch über beibehalten konnte.
„Was ich will?", stellte ihm Lapointe die Gegenfrage und Ben musste sich zurückhalten, nicht einfach in den Hörer zu schreien.
„Dafür, dass dein Plan damals nicht aufgegangen ist, dafür können weder Tristan noch ich nichts."
Erneutes Lachen.
„Wer sagt denn, dass das nicht geplant war? Nun, ich muss zugeben, dass ich damals wirklich dachte, du wärst tot, mein lieber Benedict. Da ist mir wohl ein kleiner Fehler unterlaufen. Aber das ist nichts, was sich nicht korrigieren lässt. Aber vielleicht habe ich Tristan sogar mit Absicht am Leben gelassen. Er hat sich so für euch eingesetzt. Für seine süße, kleine Familie. Nur ist ihm das nicht gelungen."
Dieser herzlose Bastard.
„Und ich weiß, dass du jetzt weißt, was er in den letzten Jahren alles getan hat. Und ihr wisst mir beide zu viel. Deshalb seid ihr mir ein Dorn ihm Auge." Ben klammerte sich an den Stuhl vor sich und schluckte schwer. Da war er wieder, der Tremor. Ihm war schlecht.
Nein, er musste jetzt seinen ganzen Mut zusammennehmen.
„Du kannst mir jetzt mit sämtlichen Drohungen kommen. Dir sollte aber klar sein, dass mir das alles keine Angst macht. Nicht mehr." Er hatte ganz schön große Angst, aber er versuchte das nicht nach außen dringen zu lassen. Das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
„Und wehe du rufst hier noch einmal unter dieser Nummer an", drohte er dem Mann, der immer noch glaubte, sich lustig über sie machen zu können.
„Ich würde aufpassen, was du sagst Ben. Ich würde aufpassen, nicht, dass deinem kleinen, süßen Freund nicht doch etwas zustößt."
Das war das Letzte, das Ben ihn sagen ließ. Danach legte er einfach auf, knallte das Telefon zurück auf den Tisch. Dabei versuchte er durchzuatmen und sich nicht von den gesagten Worten einschüchtern zu lassen. Dieser Albtraum musste aufhören. Sie mussten endlich alle zusammen etwas unternehmen.
Es war endlich an der Zeit.
Doch Ben eilte im nächsten Moment ins Badezimmer, da die Übelkeit immer schlimmer wurde und seinen Körper zu übermannen schien. Er stolperte zu der Toilette, konnte sogar dafür garantieren, dass sich am Weg dorthin einige blaue Flecken zugezogen hatte, und übergab sich am Ende in die Schüssel. Er hoffte nur, dass Eddie nichts davon mitbekommen würde. Wobei dieser bekam alles mit. Zu hundert Prozent sogar.
Er konnte nichts vor ihm verstecken.
Das Coolpack auf seiner Nase half ihm nur bedingt, die Nase tat ihm trotzdem höllisch weh. Doch viel mehr als seine Nase, schmerzte ihm die Tatsache, dass Tristan neben ihm saß und vollkommen beschämt und geknickt auf den Boden starrte, während er nervös seine Finger knetete. Sie waren vorhin im Krankenhaus angekommen, ihre Mutter würde bald nachkommen, währenddessen hatte ein Lehrer sie begleitet und sich darum gekümmert, dass Ben bald untersucht werden konnte. Dabei war der Schüler sich sicher, dass die Nase gebrochen war. So, wie das weh tat, konnte nur das der Fall sein. Doch Tristan hatte seitdem kein Wort mehr gesprochen. Stattdessen hatte er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen und kämpfte mit sich selbst. Bestimmt gab er sich die Schuld für die ganze Situation, dabei war es Ben gewesen, der zuerst zugeschlagen hatte.
Tristan traf keine Schuld. Er hatte ihn einfach nur vor diesen Idioten beschützen wollen.
Das hatte sein Zwilling verdient. Er hatte großartige Arbeit geleistet, die dann kaltherzig zerstört worden war von ein paar Jungs, die nicht damit klar kamen, dass Tristan viel schlauer war als sie alle zusammen. Und da rechnete Ben sich mit ein. Tristan war in seinen Augen hochintelligent, hatte seine Talente und das sollte wertgeschätzt und gefördert werden. Man sollte seine Arbeiten nicht zerstören und ihn dabei runtermachen.
Das hatte er nicht verdient.
Also hatte er die Gruppe von Jungs, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, Tristans Universumsprojekt kaputt zu machen, zu einem Kampf herausgefordert. Er hatte haushoch verloren, aber das war es ihm wert gewesen, denn der Fokus war nicht mehr auf Tristan gelegen. Sie waren alle erst zwölf Jahre alt, aber einige von ihnen benahmen sich wie Babys.
Deshalb hatten sie es auch verdient, auf die Fresse zu bekommen.
Zumindest in Bens Augen.
„Hey, wenn wir hier raus sind, dann helfe ich dir, das Universum wieder zusammenzubasteln, okay? Ich bin mir sicher, dass wir das wieder hinbekommen. Außerdem habe ich dann auch bestimmt viel Zeit, wenn ich Hausarrest kriege." Ben versuchte das Ganze mittlerweile mit Humor zu sehen, weshalb er seinem Bruder einen sanften Stoß gegen die Schulter gab. Er wollte ihn nur aufmuntern, ihn wieder lachen sehen.
Und dass er womöglich bis ans Ende seines Lebens Hausarrest bekommen würde, nahm er in Kauf. Für seinen Bruder würde er alles tun. Alles, um ihn beschützen zu können. Sie waren Zwillinge und sie halfen sich gegenseitig. Tristan war da, wenn er Schwierigkeiten hatte, seine Hausaufgaben zu erledigen, und Ben war für ihn da, wenn die anderen ihn wieder mobbten und ihm schaden wollten. Das glich sich aus. Also machte es Benedict nichts aus, diese Strafe auf sich zu nehmen.
Sie waren Brüder. Und Brüder hielten zusammen.
„Ach, vergiss es einfach. Das Ding kann in den Müll", kam es resigniert von dem Älteren, der bestätigend nur den Kopf schüttelte.
„Nein, Quatsch. Schlag dir das sofort aus dem Kopf, okay? Alles, was ich vorhin getan habe, habe ich getan, weil ich es wollte, Tristan. Du kannst gleich damit aufhören, dir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Wir wissen beide, dass diese Vollidioten das verdient haben. Lass alles andere meine Sorge sein."
Doch Tristan schien sich nichts sagen zu lassen, stand stattdessen auf und verschwand auf eine der Toiletten. Verdammt. Nein, das konnte er nicht so auf sich sitzen lassen. Damit gab er sich nicht zufrieden.
Er wollte seinem Zwilling hinterher, doch da war schon ein Pfleger, der ihn dazu aufforderte, ihm in den nächsten Behandlungsraum zu folgen. Es blieb ihn nichts anderes übrig, als zu folgen und sich endlich versorgen zu lassen. Schließlich war da immer noch die Nase, die schmerzte.
Es dauerte eine Weile, bis alles erledigt war, seine Nase war gebrochen, konnte aber von selbst heilen, weshalb eine Operation nicht von Nöten war. Doch das alles interessierte Ben nicht, auch nicht die Predigt seiner Mutter, die in der Zwischenzeit eingetroffen war.
Er wollte doch nur zu seinem Bruder.
Benedict suchte ihn im ganzen Krankenhaus und fand ihn erst im Garten auf einer Bank sitzend. Er setzte sich nicht neben ihn hin, sondern blieb vor ihm stehen und hielt ihm die Hand hin. Tristan wirkte immer noch geknickt.
„Hör zu. Ich meinte das vorhin wirklich ernst. Und ich werde mir noch zehnmal die Nase brechen lassen, wenn es sein muss, um dich beschützen zu können. Es ist mir egal. Du bist mein Bruder. Und Brüder sind füreinander da, okay?", lauteten seine starken Worte, die dafür sorgten, dass der Ältere zu ihm aufsah.
„Ben, ich möchte aber nicht, dass du das für mich tust."
„Aber wenn es notwendig ist, damit es diese Trottel verstehen, dann mache ich es. Ganz einfach."
Tristan seufzte.
„Das sollte aber nicht die Lösung sein."
Nun atmete Ben lautstark aus.
„Ich weiß. Aber Anya wird in der Schule auch mal Klartext reden, damit das endlich aufhört. Das hat sie mir versprochen, nachdem sie aufgehört hat, mit mir zu schimpfen. Und ich habe jetzt den nächsten Monat Hausarrest. Also, was hältst du davon, wenn wir einfach Brüdersachen tun und wir damit anfangen, dein Projekt wieder zusammenzubauen? Ich fand es nämlich ziemlich cool. Das coolste von allen."
Tristan sah ihn an und konnte sich mittlerweile ein Lächeln nicht verkneifen.
„Das sagst du jetzt nur, weil du mein Bruder bist."
Benedict zuckte mit den Schultern.
„Ja und? Dafür sind Brüder da. Und du sollst wissen, dass ich dich lieb habe."
„Ich hab dich auch lieb, Ben."
Ben lehnte neben der Toilette an der Wand, versuchte, sich wieder zu beruhigen. Er hatte sich den Mund schon abgewischt und nun war er dabei, endlich etwas Ruhe in das Ganze zu bringen. Es war Zeit zu handeln.
Eddie war in der Zwischenzeit wieder zurückgekehrt und war für Ben noch einmal in das Wohnzimmer zurückgekehrt, um ihn sein Handy zu bringen. Das tat er, ohne groß Fragen zu stellen, obwohl eine gewisse Sorge sicherlich vorhanden war. Schließlich war es ihm gut gegangen, als er die Wohnung verlassen hatte.
Natürlich war sein Freund in Sorge um ihn, aber Ben hatte ihm versprochen, ihm nachher alles zu erklären. Davor musste er etwas anderes erledigen. Deshalb bedankte er sich bei Eddie dafür, dass er ihm sein Smartphone gebracht hatte und obwohl Benedict kurz zögerte, öffnete er das Chatfenster zwischen ihm und seinen Bruder und fing an zu tippen.
Hör zu, ich weiß, dass ich dir das alles nicht sofort verzeihen kann. Dafür werde ich Zeit brauchen, denn wir wissen beide, dass das moralisch alles andere in Ordnung war. Aber wir beide müssen uns treffen. Ganz dringend. Dieser Albtraum muss ein für alle Mal ein Ende nehmen. Und wenn wir diesen Bastard persönlich mit der Polizei jagen müssen. Es ist mir egal. Mir ist klar, warum du das getan hast, und ich kann mittlerweile nachvollziehen, wie du dich damals gefühlt hast. Trotzdem hast du Grenzen überschritten. Wie auch immer. Brüder sind füreinander da. Brüder helfen einander. Ich hab dich lieb.
Er las sich die Nachricht noch einmal flüchtig durch, bevor er sie absendete, und legte das Handy weg. Danach erhob sich Ben, spülte sich den Mund ordentlich aus, ehe er zurück ins Wohnzimmer zu seinem Freund zurückkehrte, der ihnen schon das Essen auf den Tisch gestellt hatte. Doch bevor er sich mit ihm hinsetzte, um mit ihm zu essen, erzählte er ihm von dem Telefonat mit Lapointe und der Nachricht, die er an seinen Zwilling geschrieben hatte.
Es war an der Zeit, dass dieser Mann endlich die Strafe bekam, die er verdient hatte. Obwohl er sich das sicher anders vorstellte als sein Bruder.
Aber das spielte keine Rolle. Nicht mehr. Er war für seinen Bruder da, so wie es immer gewesen war und unterstützte ihn dabei, endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können.
Es wurde Zeit, dass sie alle miteinander in Frieden leben konnten.
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