Kapitel 31
Er hatte nicht sonderlich viel mit sich genommen, aber er hatte noch nicht die Kraft gehabt, seinen Koffer und die wenigen Kisten auszupacken. Sie standen alle in dem kleinen Zimmer, das er sich im Studentenwohnheim mietete, und warteten darauf, dennoch ihren Platz zu finden.
Nur seine Violine hatte ihren Weg nach draußen gefunden, denn Tristan hatte sich dazu entschieden, sie zu spielen, um zumindest ein wenig runterzukommen. Seit etwa einer Woche befand er sich an der Universität in Yale und eigentlich war er nie so froh gewesen, Distanz zwischen ihm und jemanden gebracht zu haben.
Zwar konnten die Meilen zwischen Québec und New Haven noch mehr sein, die Entfernung noch größer, aber es war ein Anfang. Außerdem hätte er dieses Angebot, dieses Stipendium niemals ausschlagen können. Es war seine Chance, einen Neuanfang zu wagen.
Es war ein neues Leben, entfernt von seiner Heimat, der Stadt, in der er aufgewachsen war. Weit weg von seiner Vergangenheit und vor allem weit von jenem Mann entfernt, der ihm das Leben die letzten vier Jahre zur Hölle gemacht hatte.
Er wollte Grayson Lapointe hinter sich lassen. Er war erwachsen, hatte seinen Schulabschluss in der Tasche und die Möglichkeit, Medizin an einer renommierten Universität in den Staaten zu studieren. Es war seine Chance.
Aber er hatte nicht darüber gesprochen. Er hatte kein Wort zu irgendjemanden verloren. Er war, nachdem er seine wichtigsten Sachen gepackt hatte, in einer Nacht und Nebelaktion in sein Auto gestiegen und war die vielen Meilen gefahren, um neu anfangen zu können.
Das Zimmer konnte er sich von dem Erbe leisten, das seine Familie ihm hinterlassen hatte. Er würde sich einen Nebenjob suchen, um nicht ständig darauf zurückgreifen zu müssen und Erspartes zu haben. So ein Medizinstudium war kein Zuckerschlecken, dessen war er sich bewusst, aber er war bereit, alles zu geben, um dieses Studium erfolgreich abzuschließen.
Er war gewillt zu lernen. Dafür musste er aber wieder sprechen, das war ihm klar. Wenn er eines Tages Arzt werden wollte, dann war es wichtig, dass er seine Sprache wieder fand, um mit den Leuten um sich herum besser kommunizieren zu können. Es war nicht leicht, aber etwas, was er gerne in Kauf nahm.
Hier war niemand, der ihm das Leben schwer machen konnte. Zumindest ging er davon aus.
Er hoffte es.
Tristan war in sein Spiel vertieft. Der Abend war angebrochen und ab dem morgigen Tag hatte er seine ersten Vorlesungen, weshalb er versuchte, die ruhigen Stunden zu nutzen, um etwas runterzukommen. Natürlich war es ihm wichtig, seine Kommilitonen nicht zu stören, hielt aber inne, als er ein mehrfaches Klopfen an der Tür vernahm.
War er zu laut gewesen? Hatte er zu lange gespielt? Das waren die ersten Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen und eigentlich war er bereit gewesen, sich zu entschuldigen, denn es war nicht in seinem Sinne, jemanden zu stören. Er mochte zwar ein guter Musiker sein, aber zum Spielen war es dann doch besser, er suchte sich einen anderen Ort.
Der würde sich mit Sicherheit finden lassen.
Deshalb ging der junge Student zu der Tür, im Glauben, einen Gleichaltrigen vor sich stehen zu haben, jedoch stockte ihm der Atem, als ihm bewusst wurde, wer da vor ihm stand, nachdem er geöffnet hatte.
Das konnte alles doch nicht wahr sein, oder?
Wie kam er hierher?
Warum suchte er ihn auf? War sein Verschwinden nicht erklärend genug gewesen?
Dieses Spiel würde niemals enden.
Grayson Lapointe stand vor ihm und Tristan musste sich zusammenreißen, umgriff seine Violine und seinen Bogen fester, in der Hoffnung, sich so besser unter Kontrolle zu haben. Am liebsten wäre er dem Typen an die Gurgel gesprungen, war es in den letzten Jahren doch vermehrt vorgekommen und dieses Mal scheute er nicht davor. Nur die Tatsache, dass sie sich hier in der Öffentlichkeit befanden und sie dadurch zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, hielt ihn davon ab.
Lapointe hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn gespielt enttäuscht an, wobei Tristan das leichte Grinsen auf dessen Lippen nicht entging.
„Ich muss sagen, ich bin wirklich enttäuscht von dir, Tristan", lauteten die Worte des Mannes an ihn, der den Kopf schüttelte und ohne zu zögern, sich an ihm vorbei schob und sich in sein Zimmer drängte. Tristan ließ ihn gewähren, denn ihm war klar, dass das alles sonst nur eskalieren würde. Seine Augen verengten sich, er schüttelte den Kopf.
„Ich meine, ich bin auch stolz auf dich. Ein Stipendium für diese Uni bekommt bei weitem nicht jeder. Aber ich bin enttäuscht, dass du nicht mit mir darüber gesprochen hast. Ich bin eigentlich fast traurig darüber, dass du mir nichts davon erzählt hast. Von deinen Plänen." Der Mann ließ es sich nicht nehmen, sich im Raum umzusehen und somit noch tiefer in seine Privatsphäre einzudringen.
Alles, was Tristans Kehle zunächst verließ, war ein Knurren.
„Ich dachte, ich hätte dir immer vermittelt, dass wir über alles sprechen können." Was sollte das hier überhaupt werden? Er war nicht sein Vater. Er war es nicht gewesen und würde es in Zukunft nie sein.
Tristan hatte die letzten Jahre den Mund gehalten, das alles über sich ergehen lassen, in der Hoffnung, eines Tages doch Rache an Grayson nehmen zu können. Am richtigen Zeitpunkt zuschlagen zu können. Er hatte es mehrfach sogar versucht, doch geglückt war ihm davon nie ein Versuch. Es waren vier Jahre voller Krieg und Schlachten gewesen. Vier Jahre, in denen er gegenüber der Öffentlichkeit geschwiegen hatte, um sich selbst helfen zu können. Vier Jahre, an denen er deutlich an sich selbst gewachsen war.
„Ich habe dir eine ordentliche Wohnung besorgen können, damit du nicht in diesem versifften Wohnheim leben musst. Wir wissen doch beide, dass du besseres gewohnt bist. Warst du doch immer." Grayson entkam ein Lachen und Tristan entschied sich, zumindest die Violine wieder zurück in ihren Koffer zu legen. Den Bogen behielt er dennoch in seiner Hand.
„Ich benötige keine Hilfe von dir", hörte man ihn sagen. Es hatte einiges an stimmlichen Übungen gebraucht, bis er zuerst überhaupt etwas rausbringen konnte und in diesem Moment war seine Stimme alles andere als gefestigt. Doch Tristan war es leid. Er war es so leid, die Marionette dieses Mannes zu sein.
„Oh. Das kleine Vögelchen kann ja doch zwitschern. Das letzte Mal habe ich dich damals in jener Nacht sprechen gehört. Wobei, das war dann doch mehr ein Schreien." Grayson lachte immer noch, machte sich offensichtlich über ihn lustig. Dabei kam der Mann auf ihn zu, der in etwa so groß war, wie er und wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen. Doch Tristan machte einen Schritt zurück und wich ihm somit aus, sorgte dafür, dass der Ältere ins Leere griff. Das Grinsen ließ er sich dennoch nicht nehmen.
„Ich habe gesagt, ich brauche deine Hilfe nicht. Verschwinde von hier." Er war nicht sicher. Er war nirgends sicher. Dieser Mann würde ihn überall finden. Und das immer.
Er musste es zu Ende bringen.
Irgendwie. Irgendwann.
Lapointe war wieder zu weit gegangen. Er war ihm gefolgt und hatte sich eingemischt. Schon wieder.
„Nicht so gereizt, mein Liebster. Wäre ich nicht gewesen, können wir uns beide sicher sein, dass du heute sicher nicht hier wärst." Tristan verdrehte innerlich nur die Augen und entschied sich dazu, nicht zu antworten. Er würde bestimmt bald gehen. Er brauchte sich nur in Geduld üben.
Grayson griff in seine Hosentasche und holte zwei Schlüssel hervor, die er ihm auf den Schreibtisch legte.
„Ich bin nur hier, um dir zu deinem Studienbeginn zu gratulieren, nachdem du es nicht für nötig gehalten hast, dich bei mir zu verabschieden. Hier hast du deinen Schlüssel für deine Wohnung und für dein neues Auto. Damit du mich besuchen kommen kannst."
Er kam ihm wieder gefährlich nah, doch Tristan blieb ruhig stehen und ließ es über sich ergehen, die Wange von dem Älteren getätschelt zu bekommen. Schon lange war er nicht mehr so angewidert von ihm gewesen.
„Ich werfe deine neue Adresse in dein Postfach. Das Auto steht am Campus-Parkplatz. Ich bin mir sicher, du wirst es finden. Ansonsten wünsche ich dir noch viel Erfolg bei deinen Vorlesungen und Prüfungen und so weiter und so fort." Er würde gehen. Sein Herz hämmerte ihm immer noch stark gegen die Brust und es fiel ihm schwer, sich zu kontrollieren. Am liebsten würde er ihm hinterhergehen und ihm das Genick brechen.
Er wusste, wie das geht. Zumindest in der Theorie. Er hatte sich Wissen aneignen können in den letzten Jahren.
Er musste ruhig bleiben. Einfach nur ruhig bleiben.
Er brauchte diese Wohnung nicht. Genau so wenig benötigte er ein neues Auto.
Das konnte, von ihm aus, jemand anderes haben. Sollte Grayson Miete für etwas zahlen, das nie benutzt wurde. Es war ihm egal.
Er wollte nicht mehr abhängig von diesem Menschen sein. Weder finanziell noch emotional.
Das hier war sein Neuanfang. Sein neues Leben.
Es dauerte eine Weile, bis Tristan sich aus seiner Starre löste und es schaffte, die offen gelassene Tür wieder zuzusperren und erst einmal durchzuatmen. Er brauchte ein paar Minuten, um runterzukommen.
Seit fast vier Jahren spielte er dieses Spiel mit. Vielleicht wurde es aber Zeit, dass er endlich zuschlug.
Dann, wenn Grayson es nicht erwarten würde.
Er brauchte nur alles ordentlich zu planen. Irgendwann würde für alles die Zeit kommen.
Der Student setzte sich an seinen Schreibtisch, betrachtete eine Weile die Schlüssel vor sich, ehe er sich dazu entschied, diese einfach in den Papierkorb neben sich zu schieben. Danach glitt sein Blick zu einer Kiste, die offen da stand und er fand darin ganz oben eine eingerahmte Zeichnung von sich. Er hatte seine zwei Brüder, Noah und Raphael, genau wie seine Mutter und seine kleine Schwester gezeichnet. Es wirkte wie ein glückliches Familienfoto, nur, dass er ihre Gesichter aus seiner Erinnerung heraus gezeichnet hatte. Fotos von seiner Familie besaß er nicht mehr.
Die Polizei hatte ihm welche geben wollen, die man nach der Räumung des Hauses gefunden und gesammelt hatte, doch Tristan hatte sich geweigert, sie an sich zu nehmen. Er wusste, dass sie in einem Archiv auf einer Polizeistation in Québec lagen. Vielleicht war er eines Tages dazu in der Lage, sich diese anzusehen. Irgendwann, wenn der Schmerz nicht mehr so groß war.
Doch heute war er noch nicht bereit dazu.
Er lebte momentan nur von seinen Erinnerungen.
Deshalb holte er das Bild hervor und entschied sich dazu, dieses auf sein Schreibtisch zu stellen.
Nachdem er eine Weile dort gesessen hatte und sich in Gedanken verloren hatte, erhob er sich und griff erneut nach seinem Instrument und stellte sich mitten in den Raum.
Das Spielen war das Einzige, das ihn momentan auffing.
Die Musik war das, was ihn weitermachen ließ.
Ein selbst komponiertes Stück, das zeigte, wie viel Schmerz in ihm steckte.
Schlaflos saß er in einem Sessel in dem kleinen, gemütlichen Wohnzimmer seiner Freunde. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf und Tristan wusste nicht so recht, wo er hingehen sollte, was er überhaupt mit sich anfangen sollte. Es war viel zu viel passiert. Er war müde, erschöpft. Völlig durcheinander. Er wusste, dass er riesigen Schaden angerichtet hatte, aber er wagte es auch nicht, seinen Liebsten unter die Augen zu treten, um ihnen sein Innerstes offen zu legen.
Deshalb lief er weg. Das, was er sein ganzes Leben getan hatte, seitdem er sich alleine durchkämpfen musste.
Es war um so vieles einfacher.
Vollkommen in Gedanken verloren, blickte er zum Fenster hinaus und bemerkte dabei gar nicht, dass sich ihm Schritte näherten.
Erst als er eine vertraute Stimme vernahm, richtete er sich auf und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht.
„Möchtest du vielleicht einen kleinen Spaziergang mit mir machen?", hörte er Josephine fragen, die sich in warme Kleidung hüllte, um hinausgehen zu können.
„Ist alles in Ordnung bei dir?", wollte der Arzt wissen und ging auf sie zu.
„Ja, ich muss mir nur die Füße vertreten. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich liegen soll", erklärte die junge Frau ihm und schenkte ihm ein warmes Lächeln.
„Du siehst aber auch so aus, als könntest du einen Spaziergang gebrauchen. Komm. Wir gehen ein Stück."
Tristan schien zu überlegen. Es war mitten in der Nacht. Vielleicht war das keine gute Idee. Doch andererseits, was hielt sie schon davon ab?
„Und Vergil?"
„Der schläft wie ein Stein. Mach dir keine Sorgen um ihn. Ich mache das nicht zum ersten Mal." Sie reichte ihm seinen Mantel, in den er schlüpfte. Danach folgten seine Schuhe und Tristan nickte, ehe er ihr die Haustür öffnete und ihr nach draußen folgte, damit sie gemeinsam einen Spaziergang machen konnten.
Vielleicht konnte er das gut gebrauchen. Außerdem war Josephine eine wunderbare Gesellschaft. Jemand, mit dem er sich unterhalten konnte. Er konnte ihr vertrauen. Nicht umsonst sah er sie wie eine kleine Schwester an. Außerdem war es wohl ziemlich fahrlässig sie alleine nach draußen gehen zu lassen. Nicht hochschwanger.
„Vielleicht sprechen wir beide darüber, was uns so durch den Kopf geht", schlug die Blonde vor, die ihn mit einem schüchternen Lächeln ansah und die Richtung vorgab. Es war dunkel, aber es dauerte nicht lange, bis sich seine Augen daran gewöhnten.
„Nun, vielleicht hast du recht. Aber gibt es etwas, das dich belastet?", wollte er von ihr wissen und sah sie fragend an.
„Da gibt es eine Menge, Tristan. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass wir beide gerade jetzt wach sind."
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