Kapitel 25
„Weißt du, mit der Gehhilfe komme ich mir vor, wie ein alter, gebrechlicher Mann", kam es von Ben, der frustriert wirkte.
„Mir geht das alles auf die Nerven. Warum kann ich nicht einfach normal laufen, wie alle anderen Menschen?" Tristan war bewusst, dass das anstrengend für seinen Bruder war und am liebsten würde er ihm diese Last abnehmen, aber ihm waren die Hände gebunden. Er war zwar Arzt geworden, um zu helfen, aber Wunder konnte er leider keine vollbringen.
„Mein Körper fühlt sich an, als wäre er achtzig Jahre alt", murrte sein Zwilling weiter und blieb auf dem Weg stehen. Sie waren hinausgegangen – Tristan hatte Mittagspause und die verbrachte er mit seinem Bruder. Katie stand im OP und nachdem er sichergegangen war, dass sie nichts brauchte, war er zu dem Jüngeren gegangen. Er hatte mit ihm gegessen und dann hatte er sich ihn geschnappt, damit sie sich ein wenig die Beine vertreten und ein paar Schritte gehen konnten. Es war ein gutes Training, ganz egal, wie sehr es Ben frustrierte.
Tristan seufzte, blieb neben seinem Bruder stehen, überlegte einen Moment, stellte sich dann aber direkt neben ihn und hakte sich bei seinem Arm ein.
„Mag sein, dass sich dein Körper gerade quer stelt, aber im Kopf bist du jung geblieben, Ben. Und ich finde, das ist sogar noch wichtiger." Irgendwie musste er doch versuchen, die Situation zu retten. Irgendwie musste er seinen Bruder doch aufmuntern können.
Doch von dem kam nur ein Brummen als Antwort.
„Ja, in meinem Kopf bin ich noch verdammte vierzehn, weil ich genau vierzehn Jahre meines Lebens verpasst habe. Ist doch auch nicht cool."
Heute war also ein schlechter Tag. So sehr sich Ben gestern gefreut hatte, ihn nach diesem Wochenende wiederzusehen, so mies gelaunt war er heute und Tristan konnte es ihm nicht übel nehmen. Zwar war noch Winter, aber das Wetter war im Moment recht mild, weshalb er mit dem Gleichaltrigen die nächste Parkbank im Garten des Krankenhauses ansteuerte, damit sie sich setzen und eine Pause machen konnten.
„Ich kann ja verstehen, dass dich das alles frustriert, Ben", meinte er einfühlsam und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dabei sah er ihn besorgt an und überlegte, was er tun konnte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Oder sollte er ihm den Tag lassen und seinem Frust Luft machen lassen? Vielleicht war das sogar die bessere Idee.
„Aber ich bin doch jetzt schon ein gutes, halbes Jahr wach. Ich bin froh, dass ich noch sprechen konnte und das nicht neu lernen musste. Aber ich habe trotzdem alles neu lernen müssen. Meine Hände waren zu nichts zu gebrauchen, meine Beine wollen mich nicht von A nach B tragen und in meinem Kopf herrscht auch ein riesiges Chaos. Mittlerweile zwar etwas weniger, aber immer noch genug. Vor allem seit diesem Wochenende. Mich lässt das alles nicht los."
Ein Seufzen kam ihm über die Lippen und er senkte seinen Kopf, sah dabei auf den Boden und nickte stumm.
„Mich lässt das alles auch nicht kalt", erklärte er ihm und seufzte.
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich vielleicht doch mehr hätte tun können. Viel mehr", sprach der Arzt die Wahrheit aus und zuckte dabei leicht mit den Schultern. Er hatte sich vorgenommen, mehr über das zu sprechen, was ihm durch den Kopf ging und wie er sich fühlte. Er wollte seinen Mitmenschen gegenüber einfach nur ehrlich sein und hoffte, dass das so ankam, wie er es sich vorstellte.
„Dabei konntest du doch nichts tun. Wir hätten alle doch niemals eine Chance gehabt. Das waren sechs starke Männer, Tristan. Wir waren Kinder, was hätten wir schon ausrichten können? Aufgrund des Feiglings, den wir als unseren Vater schimpfen, hätten wir doch nie etwas schaffen können. Es wäre seine Aufgabe gewesen, seine Familie zu beschützen."
Ben vergrub sein Gesicht in seinen Händen und schüttelte den Kopf. Er konnte die Verachtung diesem Menschen gegenüber bei seinem Bruder deutlich spüren.
„Weißt du, ich war an dem Grab", sagte Ben und schluckte. Das alles fiel ihm schwer.
„Und weißt du, was da auf dem Grabstein steht? Liebender Vater und Ehemann. Tut mir leid, aber dieser Mann war alles, aber sicher nicht liebend. Zumindest nicht uns gegenüber. Wer weiß, vielleicht hatte er sogar Affären. Ich hätte es ihm zugetraut."
Diese Worte lagen ihm doch schwer im Magen, denn er war nie an diesem Grab gewesen, hatte es nie über das Herz gebracht. Das wäre ihm alles zu viel geworden. Er hätte damit niemals umgehen können. Mittlerweile war der Mann so weit, dass er sich darauf einlassen konnte, wenn sein Bruder und seine Freundin an seiner Seite waren. Aber davor wäre das alles sicher niemals notwendig gewesen.
„Er hat einiges falsch gemacht und am Ende war er auch kein Vater. Zumindest uns gegenüber nicht. Mir gegenüber nicht und dir war er sowieso keiner", meinte Tristan leise und beobachtete seinen Bruder dabei, wie dieser sich doch etwas nervös umsah. Das tat er schon den ganzen Tag, ständig hatte er den Blick überall und wirkte manchmal vollkommen abwesend, nur hatte er noch nicht den Mut gehabt, nachzufragen, was los war.
Wartete er auf jemanden?
„Ich möchte es besser machen, sollte ich jemals Kinder haben", meinte Ben doch etwas ruhiger, sah dabei zu seinem Bruder und versuchte sich an einem Lächeln, das ihm aber nicht gelingen wollte.
„Und ich weiß, dass du ein ganz toller Patenonkel werden wirst für den kleinen Vittorio. Und du wirst ein noch viel besserer Vater werden, solltest du jemals Kinder bekommen", verkündete ihm sein Bruder, der das so aufrichtig meinte, wie er es aussprach. Tristan glaubte Benedict sogar, denn wenn ihn jemand einschätzen konnte, dann war das sein eigener Zwilling.
Und das tat gut, das zu hören. Sicherlich wollte er eines Tages eine Familie mit Katie gründen, aber sie waren doch weit davon entfernt. Er wollte diese Frau vorher heiraten und im Moment stand bei ihnen beiden die Karriere im Vordergrund, aber die Sache mit Ben und die Vergangenheitsbewältigung. Sie waren weit weg davon entfernt, eine Familie zu gründen. Aber das war in Ordnung so.
„Weißt du, ich könnte mit deinen Ärzten und Theraputen sprechen", wechselte der Ältere nun das Thema, lehnte sich auf der Bank nieder, steckte die Hände in die Taschen seines Kittels und streckte die Beine durch.
„Vielleicht könntest du schon bald entlassen werden und ein neues Leben anfangen. Du hast ja die Gehhilfe und versuchst, auch immer mehr frei zu laufen. Du wirst immer selbstständiger. Man spricht also davon, dass du bald nach Hause gehen kannst. In dein neues Zuhause, Ben."
Möglicherweise war das die Nachricht, die Ben heute brauchte, um weitermachen zu können, um die Motivation nicht zu verlieren. Das war doch wichtig, klare Ziele vor Augen zu haben.
Und tatsächlich schien das etwas zu bringen, denn kurz hellte das Gesicht des anderen auf und man sah ihm deutlich an, dass er genau diese Worte brauchte, um am Ball zu bleiben.
„Meinst du das wirklich ernst? Du verarschst mich doch", kam es ihm über die Lippen, doch Tristan schüttelte nur den Kopf.
„Wie könnte ich meinen eigenen Bruder nur auf den Arm nehmen?", stellte er ihm die Gegenfrage und schenkte ihm dabei ein aufrichtiges Lächeln.
„Das ist mein voller Ernst, Ben. Eddie arbeitet daran, dass du dich auch wohlfühlst in der Wohnung und wir geben ebenfalls alles, damit du dich zurecht findest bei deinem Neustart." Ein Seufzen kam ihm über die Lippen und er richtete sich wieder auf.
„Das wäre wirklich wundervoll. Ich würde mich sehr darüber freuen. Ich bin zwar gerne in deiner Nähe, Brüderchen, aber ich kann dieses Krankenhaus nicht mehr sehen. Ich kann kann keines mehr sehen", gab er offen und ehrlich zu.
„Deshalb arbeiten wir alle miteinander daran, dass du bald entlassen werden kannst. Du hast großartige Fortschritte gemacht und das sollte auch belohnt werden. Wir alle machen uns auch keine Sorgen, dass du dich nicht zurecht finden würdest." Dieses Gespräch war wichtig, sehr wichtig sogar, doch er erwischte Benedict wieder dabei, wie dieser sich erneut nervös umsah und nach jemanden Ausschau zu halten schien.
Er ging gar nicht mehr auf seine Worte ein, sondern wirkte etwas gedankenverloren.
„Hey, Ben", sprach er seinen Zwilling an und schluckte dabei.
„Ist alles in Ordnung? Mir ist schon den ganzen Tag aufgefallen, dass du ständig wohl nach etwas Ausschau hältst. Erwartest du jemanden?" Plötzlich wurde der Braunhaarige doch ziemlich nervös und Tristan befürchtete schon das Schlimmste, als er das Zittern der Hände seines Bruders vernahm. Irgendetwas war doch nicht in Ordnung. Hier stimmte etwas gewaltig nicht.
Doch Ben schien gar nicht zu reagieren, es gar nicht wahrzunehmen, dass er darauf angesprochen wurde, weshalb Tristan, wenn auch recht besorgt, die Hand erneut auf seine Schulter legte, um ihn durch den Körperkontakt wieder in die Gegenwart zu verfrachten. Ganz gleich, was er durchmachte. Ihm musste klar werden, dass er nicht alleine war. Tristan war hier und würde alles erdenklich Mögliche tun, damit es ihm besser ging.
Ben zuckte bei seiner Berührung nur zusammen und wirkte verängstigt.
„Ben, was ist denn los? Ist irgendetwas passiert, als wir nicht hier waren?", wollte er wissen, dieses Mal mit etwas mehr Nachdruck. Er wollte doch nur helfen.
Doch Ben wirkte immer noch paranoid, schien sich umzusehen, um sicher zugehen, dass da keiner da war, der nicht da sein durfte.
„Ich..ich weiß nicht", kam es nervös von dem anderen. Beide sahen auf seine Hände, die von dem Tremor übermannt worden waren.
„Ben, was ist denn los? Du weißt doch, dass du mit mir über alles sprechen kannst", versicherte er ihm und das unwohle Gefühl kam in ihm hoch. Verdammt – machte Lapointe seine Versprechungen etwa wahr und suchte seine Liebsten auf? Das wäre das Schlimmste. War Ben etwas zugestoßen während seiner Abwesenheit? Während er ihn nicht beschützen konnte?
„Ich weiß nicht, ob das wirklich geschehen ist oder ob ich mir das nicht sogar eingebildet oder geträumt habe", fing er an zu erklären und blickte unsicher seinen Bruder an, der wohl der einzige war, der ihm in dieser Situation helfen konnte.
„Ich schlafe seit Samstag ziemlich schlecht. Albträume. Oder so etwas Ähnliches. Flashbacks. Aber letzte Nacht war irgendwie extrem", flüsterte er und brachte nun mehr Licht ins Dunkle.
„Möchtest du darüber reden?", bot ihm Tristan an und er schluckte. Das konnte alles unangenehm werden.
„Nein, du verstehst nicht, Tristan. Ich habe das Gefühl, dass da letzte Nacht jemand da war. In meinem Zimmer. Während alles ruhig war. Ich kann dir nur nicht sagen, ob ich es mir eingebildet habe oder ob das ein Traum war oder doch jemand wirklich hier war. Ich weiß es nicht."
Tristans Herz fing heftig an, gegen seine Brust zu schlagen. Das gefiel ihm alles andere nicht, denn er wusste, in welcher Gefahr sie alle doch schwebten. Und er war faktisch machtlos.
Zumindest fühlte er sich im Moment machtlos.
„Und kannst du sagen, wer das sein könnte?", wollte Tristan wissen und schluckte schwer. Das alles war nicht in Ordnung.
Ben schwieg einen Moment, schien damit zu kämpfen, seinen Tremor unter Kontrolle zu bekommen.
„Ich glaube, es war eines der Männer von damals, Tristan. Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß, dass es nicht der Anführer war von dieser Gruppe, aber es war eines der Männer. Keine Ahnung. Das alles wirkt so surreal, weshalb ich glaube, dass das alles nur ein wirrer Traum oder eine Einbildung meiner Schlaflosigkeit war."
Andere würden das jetzt als Beruhigung sehen, Tristan wusste, dass daran sicher etwas dran sein konnte. Er wusste, dass Grayson noch nicht aufgehört hatte zu spielen. Es war noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Womöglich würde das alles erst ein Ende finden, wenn er es schaffte, nach all dem selbst einen Schlussstrich zu ziehen. Tristan wusste, dass das alles nicht einfach werden würde. Vor allem, wenn er das hinter sich bringen wollte, ohne, dass es irgendjemand aus seinem näheren Umfeld mitbekam. Oder die Polizei, das FBI. Niemand durfte je davon erfahren.
Nun war es er, der unruhig wurde und scheinbar nicht wusste, wohin mit sich. Für Tristan stand fest, dass das definitiv keine Einbildung seines Bruders war.
„Hat...hat er denn irgendetwas zu dir gesagt?", wollte der Arzt wissen und schluckte dabei, immerhin fiel ihm das hier alles andere als leicht. Das war im Moment ein noch schwererer Kampf, als das Klarkommen mit den Flashbacks. Tristan trug eine ganze Menge Wut in sich. Wut, Zorn, Hass. Alles auf diese Männer bezogen, die, in seinen Augen, nichts anderes verdient hatten, als das, was man ihnen vor Jahren angetan hatte.
Mit einem von ihnen hatte er schon vor einigen Jahren abgerechnet. Einen von ihnen hatte er in die Finger bekommen. Fehlten nur noch fünf. Aber das war alles nicht so einfach, denn ihm war bewusst, dass diese Typen allesamt untergetaucht waren, nachdem sie diese grausame Tat vollbracht hatten. Womöglich sogar auf Anweisung Lapointes.
Das alles bedeutete Krieg und Tristan war gerne gewillt, diesen zu führen.
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Zumindest könnte ich mich an nichts erinnern", meinte Ben leise und vergrub erneut sein Gesicht in seinen Händen. Auch er versuchte, sich zu beruhigen, wieder runterzukommen. Deshalb rutschte Tristan ein wenig näher und nahm ihn in die Arme, um ihm klar zu machen, dass er nicht alleine war. Etwas, das er hätte schon am Samstag tun sollen. Er war physisch leider nicht anwesend gewesen. Sicher hätte er das können, aber Ben hatte unbedingt sofort darüber sprechen und nicht noch drei Stunden warten wollen. Er verstand das und er hatte ihm diesen Wunsch erfüllen wollen. Das hatte er verdient, ganz egal, wo sie sich beide auf der Erde befanden. Aber nun war er hier und jetzt konnte er ihn in den Arm nehmen. Das war so unglaublich wichtig. Ben brauchte ihn jetzt, obwohl es bedeutete, dass er ihn anlügen musste.
Er drückte ihn sanft an sich, strich ihm über den Rücken und schloss die Augen.
„Schon gut. Das alles war sicher nur eine Einbildung, ein böser Traum. Wir beide machen ein schweres Trauma durch." Der Arzt versuchte, ihn zu beruhigen, richtete sich dann wieder auf und legte ihm eine Hand auf die Wange.
„Und sollte je einer dieser Männer auftauchen, werde ich nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Oder sonst jemanden. Ich lasse diese Typen euch nicht zu nahe kommen. Dafür gebe ich dir hier und jetzt mein Versprechen."
Ben atmete einmal durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Das machte er gerne, wenn er wieder auf den Grund der Tatsachen kommen wollte.
„Aber sie werden nicht auftauchen, stimmts? Ich meine, wie auch? Das wäre doch ziemlich krass, wenn die uns nach all den Jahren kalt machen wollten. Wenn die das wollten, hätten sie das schon lange getan, nicht?"
Wenn er nur wüsste.
„So ist es", log Tristan ihn an und schenkte ihm ein Lächeln.
„Ich lasse nicht noch einmal zu, dass das passiert. Meiner Familie tut niemand mehr weh."
Allein dieser Satz brachte seinen Zwilling dazu, dass er wieder lächeln konnte.
Benedict lehnte sich an ihn, hatte seinen Kopf auf seine Schulter gebettet und genoss diesen friedlichen Augenblick, bis Tristan sich dazu entschloss, ihren Spaziergang hier zu beenden und mit ihm zurück ins Krankenhaus zu gehen. Es war Zeit, dass Ben wieder ins Warme kam und er musste wieder an die Arbeit.
„Können wir uns noch einen Tee holen? Und ich glaube, ich hätte Lust auf Pudding. Schokopudding klingt gerade ganz verlockend", meinte Ben lächelnd, während er sich mit der Gehhilfe wieder zurück ins Gebäude kämpfte.
„Das klingt wunderbar", entgegnete er ihm und begleitete ihn langsam nach drinnen, wobei sein Entschluss sich jede Minute immer mehr festigte.
Er wollte seine Familie beschützen. Er würde dafür Sorge tragen, dass das alles hier ein für alle Mal aufhörte.
Er würde diesen gottverdammten Typen finden und ihm klar machen, dass er sich seiner Familie nicht nähern brauchte. Das Gleiche galt für Grayson. Niemand fügte seiner Familie Schaden zu. Nicht mehr. Es war viel zu viel geschehen. Tristan hatte einen Plan, wie er das alles endlich beenden wollte.
Es war die Zeit gekommen, Rache zu nehmen. Für ihn, aber allem voran für seine Liebsten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro