Kapitel 20
Im Endeffekt waren sie beide froh, wenn das Wochenende vorbei war und sie nach Hause fuhren. Tristan merkte, dass Katie sich alles andere als wohl fühlte bei ihrem Vater und doch setzten sie eine freundliche Miene auf und taten so, als würden sich freuen, bei ihm zu sein. Es war nur für zwei Tage und danach sahen sie einander wieder eine Zeit lang nicht. Das war das, was Katie und Tristan anstrebten. Vielleicht wäre aber ein Kontaktabbruch nichts Schlechtes. Möglicherweise könnte es seiner Freundin guttun, wenn sie die Menschen aus ihrem Leben verbannte, die ihr nicht guttaten. Dazu gehörte nun einmal auch Daniel Dunham, ihr Vater. Nachdem sie gestern bei ihm angekommen waren, war die Freude auf der Seite des Vaters groß, sie waren essen gegangen, denn Daniel kochte nicht. Dieser Mann nahm sich nicht die Zeit, sich in die Küche zu stellen und ein Gericht zu zaubern. Er aß lieber auswärts, bestellte sich oder nahm sich Essen mit, aber die Küche zu benutzen, darauf würde er nie kommen. Allerhöchstens für die Kaffeemaschine, würde Dr. Dunham diesen Raum betreten. Für mehr aber auch nicht.
Aber damit hatte alles angefangen, Katie war von ihrem Dad die ganze Zeit mit anderen verglichen worden, darunter auch mit Tristan selbst. Er verstand nicht, wie man das seinem eigenen Kind antun konnte, kannte die Situation jedoch, immerhin hatte sein Vater dies bei Ben und ihm getan. Dabei hätte es nie einen Grund gegeben, die Zwillinge miteinander zu vergleichen. Sie waren zwar Brüder, waren am gleichen Tag auf die Welt gekommen, aber sie hatten beide einen unterschiedlichen Charakter und natürlich Interessen, weshalb es für einen normal denkenden Menschen nicht in Frage käme, die beiden auf eine Ebene zu stellen. Jeder von ihnen hatte seine Stärken und Schwächen, Tristan und Benedict hatten einander immer ausgeglichen, hatten für jedes Problem eine Lösung gefunden und waren damit glücklich. Ihr Vater lebte nicht mehr, deshalb gab es niemanden, der ihnen das antun konnte. Doch Daniel fand immer einen Weg, seine Tochter schlecht zu reden oder ihr klar zu machen, dass es andere besser konnten als sie selbst. Das verletzte nicht nur sie, sondern auch Tristan, weshalb er beim heutigen Brunch auch versucht hatte, dazwischen zu gehen und dem Chirurgen klar zu machen, dass er sich bitte zurücknehmen sollte, denn die Worte verletzten in erster Linie sein Kind. Katie hatte ihm schon zu verstehen gegeben, dass sie nur wegwollte, weshalb er den Plan fasste, ein paar Stunden mit ihr in die Stadt zu fahren und etwas zu bummeln.
Davor wollte seine Freundin kurz nach Hause, um sich etwas Bequemeres anzuziehen und ihre Tasche für dieses Abenteuer zu tauschen. Er war damit einverstanden und bestimmt brauchte Kathleen einfach ein paar Minuten, um im Badezimmer durchzuatmen und auf den Boden der Tatsachen zu kommen.
Er würde sicher auch das Gespräch mit ihr suchen, ihr erklären, dass es besser wäre, wenn sie sich dazu entschied, den Kontakt zu ihrem Vater zu verringern oder gar abzubrechen.
„Es tut mir leid, was in dem Restaurant passiert ist", sagte er zu ihr, als sie ihr Zimmer betraten, das ihnen zur Verfügung stand, wenn sie zu Besuch waren.
„Es braucht dir nichts leidzutun, ich fürchte, man kann ihm gar nichts sagen. Ich möchte dieses Wochenende nur hinter mich bringen und morgen wieder nach Hause fahren. Mein Vater ist unverbesserlich und das wissen wir beide sehr gut." Die Blonde versuchte sich an einem Lächeln, das ihr aber nicht so gelingen wollte. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange, stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.
„Aber ich weiß, dass du es gut meinst und mir helfen möchtest. Und es ist schön zu wissen, dass man einen Menschen hat, der sich für einen einsetzt und auch einsteht." Ihre Worte klangen sanft, aber der Arzt vernahm einen gewissen Schmerz dahinter.
„Ich weiß und wenn du sagst, dass du fahren willst, dann tun wir das. Niemand zwingt dich hier zu sein, Katie."
Tristan seufzte und legte seine Hände vorsichtig an ihre Hüften, mit der Angst, er könne etwas anstellen, das sie nicht wollte oder sie sich sogar unwohl dabei fühlte. Das war nicht in seinem Ermessen.
„Es geht schon. Bis morgen stehe ich das alles noch durch, okay? Und wenn nicht, bist du der Erste, der es erfährt."
Danach wandte sich die Frau von ihm ab, ging zu ihrer Reisetasche und holte ein paar gemütlichere Klamotten hervor, nachdem ihr Vater darauf bestand, immer fein und nobel essen zu gehen. Dafür wollte er, dass sie sich schick machten. Aber zum Bummeln brauchte sie so schicke Sachen definitiv nicht und wenn man ehrlich war, Katie sah in allem verdammt gut aus. Zumindest in seinen Augen.
„Ich bin dann mal im Bad und wenn ich fertig bin, können wir los."
Tristan nickte, vernahm dann aber ein Vibrieren in der Innentasche seines Sakkos. Dabei stellte er fest, dass es sein Handy war und als er es hervorholte, stand da Bens Name auf dem Display und ihm wurde mitgeteilt, dass er von diesem angerufen wurde.
„Heb ruhig ab und telefoniere mit ihm. Wir haben es nicht eilig. Wir haben heute alle Zeit der Welt, nachdem ich Dad eigentlich aus dem Weg gehen möchte."
Ihr sanftes Lächeln beruhigte ihn, weshalb er nickte, ihr einen Moment nachsah und sich dann dazu entschloss, den Anruf anzunehmen. Schließlich konnte es etwas Wichtiges sein.
Er versprach Ben, immer für ihn da zu sein. Also auch dieses Mal.
„Hey, Ben", begrüßte er seinen jüngeren Bruder, bekam aber als Antwort nur ein schweres Atmen. Etwas, das ihn die Augenbrauen hochziehen ließ und dafür sorgte, dass die Sorge sich in ihm ausbreitete.
„Ben?", fragte er erneut nach seinem Zwilling, sein Herzschlag wurde mit einem Mal schneller. War das überhaupt Ben auf der anderen Seite der Leitung? War ihm etwas zugestoßen? Ging es ihm gut? All diese Fragen schwirrten dem Arzt durch den Kopf, während er in seinem Inneren den Entschluss fasste, sofort loszufahren, um zu seinem Bruder zu gelangen.
„T-Tristan?", es war die zittrige Stimme des Jüngeren, die ihn erreichte und ihn erst einmal aufatmen ließ. Es war kein Fremder, es war Benedict, der zu ihm sprach. Das, was er heraushören konnte, klang eindeutig nicht beruhigend.
„Ben, ich bin da. Was ist denn los?", wollte er wissen und entschied sich, zu seiner eigenen Sicherheit und Beruhigung an den Rand des Bettes zu setzen und Ruhe zu bewahren.
Er wollte Ben die Sicherheit schenken, die er brauchte und ihm zeigen, dass er nicht allein war. Wo war Eddie? Sollte dieser nicht bei ihm sein?
„Ist dir etwas geschen? Ist etwas vorgefallen?"
Es war ein Schluchzen, das seinem Zwilling über die Kehle kam und je länger Tristan warten musste, umso schwerer wurde es ihm ums Herz. In ihm schnürte sich alles zusammen, er hoffte, dass es nichts Schlimmes war.
„H-Hast du vielleicht Zeit? Ich...ich muss nämlich mit dir reden, Tristan." Der Arzt wurde immer noch nicht schlau aus seinen Worten, nickte stumm, dabei wissend, dass sein Bruder ihn jetzt nicht sehen konnte.
„Aber klar. Wir sind gerade wieder nach Hause gekommen, wir waren mit Daniel brunchen. Ich habe Zeit. Für dich habe ich immer Zeit. Das weißt du hoffentlich."
Sicherheit. Ben brauchte im Augenblick Sicherheit. Wäre er in seiner Nähe, würde er sofort zu ihm fahren und von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen, aber sie trennten einige Stunden, weshalb das Telefon herhalten musste.
Erneut herrschte eine gewisse Pause zwischen den beiden Männern und für Tristan war diese Ruhe unerträglich. Er konnte sich bei weitem nicht vorstellen, was vorgefallen sein könnte. Schwebte Ben in Gefahr? Klar war, dass er sich Sorgen machte. Ihm war bewusst, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
„Ich glaube...", setzte Ben an, brachte den Satz jedoch nicht zu Ende. Man hörte ihm deutlich an, dass er vollkommen fertig war mit der Welt. Er schien selbst einen Moment zu brauchen, bis er sich beruhigen konnte.
„Ich glaube, ich erinnere mich, Tristan." Diese verzweifelten Worte aus dem Mund seines Bruders zu hören, versetzte Tristan einen ordentlichen Stich in die Brust. Er wusste sofort, was er damit meinte.
Nur fragte er sich, was diese Erinnerung wieder hochgeholt hatte und dafür sorgte, dass Ben völlig aufgelöst war. Dabei saß er sicherlich alleine auf seinem Krankenbett.
„Möchtest du mir erzählen, was geschehen ist?" Der Chirurg versuchte Ruhe zu bewahren, obwohl er innerlich aufgewühlt war und selbst nicht wusste, wie er auf all das reagieren sollte. Am liebsten hätte er sich ins Auto gesetzt und wäre nach Hause gefahren. Er konnte Kathleen nicht alleine lassen, er konnte sie nicht zurücklassen.
Erneut herrschte Stille zwischen den beiden Brüdern.
„Ben?" Tristan saß verkrampft auf dem Bett, seine freie Hand hatte er zu einer Faust geballt, das Atmen fiel ihm schwer.
Es dauerte eine Weile, bis es der Braunhaarige wieder schaffte, ein paar Worte zu sprechen. Anspannung lag zwischen ihnen, keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte.
„Ich...Es war ein ganz normaler Vormittag. Ich habe meine Übungen gemacht und habe einen kleinen Spaziergang gemacht auf den Gängen auf der Station. Mehr nicht. Ich habe nur das gemacht, was Henry und ihr mir gesagt habt." Er klang immer noch völlig aufgelöst, aber etwas ruhiger als vor wenigen Momenten.
Tristan entschied sich dazu, zu schweigen und ihn aussprechen zu lassen.
„Und plötzlich ist da ein Pfleger an mir vorbeigeeilt. Er hatte Blutkonserven bei sich. Keine Ahnung, wofür die gebraucht wurden, aber es kam zu einem Unfall. Da war auf einmal ganz viel Blut auf dem Boden, er ist wohl gestolpert oder mit jemanden zusammengestoßen. Ich weiß es nicht." Der Ältere konnte sich vorstellen, wie verzweifelt Ben im Augenblick auf seinem Bett sitzen musste, nicht wissend, wohin mit sich.
Musste so etwas immer dann geschehen, wenn er nicht da war?
Wieso konnte er jetzt nicht zu ihm?
Selbst wenn die Erinnerungen in dem Fall nicht wiedergekommen wären – ein schöner Anblick war das gewiss nicht, nachdem literweise Blut auf dem Fußboden verteilt wurde. Er hatte so etwas einige Male erlebt, so etwas passierte, es wirkte wie ein Massaker und dauerte eine Weile, bis man es sauber bekam.
„Auf einmal waren da diese Bilder und ich glaube, mich daran zu erinnern, was an unserem vierzehnten Geburtstag passiert ist. Ich konnte mich bis jetzt an vieles erinnern, was davor geschehen ist, aber nicht an jenen Tag selbst. Verstehst du?"
Tristan schluckte, schaffte es nicht, eine Antwort zu formulieren.
Nun war es Ben, der nach ihm fragte, denn die Stille zwischen ihnen wurde größer.
„Tristan? Bist du noch dran?"
Sein kleiner Bruder musste mit diesen schrecklichen Bildern alleine klar kommen. Das konnte er nicht zulassen. Ben hatte das nicht verdient.
Das war die Hölle für ihn. Zu wissen, dass sein Bruder sich an alles erinnern konnte, was geschehen war, brachte ihn beinahe um. Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr, musste feststellen, dass es kurz nach eins am Nachmittag war. Wenn er jetzt losfuhr, konnte er in gut drei Stunden bei ihm sein. Dann konnte er ihn in die Arme schließen und festhalten, ihm klar machen, dass er nie wieder zulassen würde, dass ihm so etwas zustieß. Er wollte für Benedict da sein. Das hätte er schon damals müssen, doch sein Kopf hatte ihm einen eigenen Streich gespielt. Er hatte ihn vergessen. Jetzt gab es einiges, das sie zusammen aufarbeiten mussten.
„Tristan?", hörte er ihn erneut fragen und das sorgte dafür, dass er sich zusammenriss, und versuchte, die richtige Antwort zu finden.
„Ja, ja. Ich bin da, Ben. Ich bin da", versicherte er ihm, dabei merkend, dass er ebenso völlig fertig mit der Welt war. Er strich sich mit der freien Hand über das Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich ausgelaugt, erschöpft und durcheinander. Es gab einiges, das er sortieren musste und das war definitiv einfach.
„Es ist nur so, dass ich zwar diese Bilder im Kopf habe, aber ich weiß nicht, ob sich das genau der in der Reihenfolge abgespielt hat. Würdest du mir denn dabei helfen?"
Tristans Herz setzte für einen Augenblick aus, denn er konnte nicht glauben, was Ben von ihm verlangte. Er wollte das alles ein weiteres Mal erleben? Durchgehen, was geschehen war, ab dem Zeitpunkt, an dem die Männer bei ihnen zuhause eingefallen waren, bis Tristan als Letzter in seiner Familie das Bewusstsein verlor?
Das alles wollte Ben wissen? Verdenken konnte man es ihm nicht. Die Wahrheit war wichtig, aber am Ende war Ben noch immer sein kleiner Bruder und diesen wollte er beschützen. Mit allem, was ihm möglich war.
„Ich weiß, dass das der unpassendste Moment in der Menschheitsgeschichte ist und dass du gerade auch nicht physisch anwesend sein kannst, aber kannst du mir diesen Gefallen tun? Bitte. Wenn sich jemand richtig an das Ereignis erinnern kann, dann du." In Benedicts Stimme war ein eindeutiges Flehen zu erkennen und sein Herz wurde mit jedem Atemzug immer schwerer.
War er überhaupt in der Lage, das mit ihm zu besprechen? Sich mit ihm zu erinnern? Sie hatten das schon einige Male gemacht, seitdem sie sich wiederhatten. Aber bislang waren es immer schöne Erinnerungen gewesen. Ereignisse, die sie am Ende zum Lachen gebracht hatten. Sie hatten sich nur an die schönen Dinge zusammen erinnert. Nicht die Schlechten. Tristan hatte es vermieden, diese überhaupt zur Sprache zu bringen, ihm war es wichtig, Ben glücklich zu sehen und ihn nicht mit der Dunkelheit zu umgeben, in die seine eigenen Gedanken zum Teil gehüllt waren. Ihm war klar, dass er sich nicht immer davor drücken konnte, dass eines Tages der Moment kommen würde, an dem Negatives ans Tageslicht kam. Tristan war genauso bewusst, dass diese besondere Erinnerung eines Tages zurückkam. Amnesie konnte ein ziemlicher Verräter sein. Sie schaffte es, einen vergessen zu lassen, aber irgendwann, wenn das Schicksal zuschlug, gelang es ihr diese unangenehmen Dinge hochzuholen.
Bei Ben war es der Anblick und Geruch von Blut gewesen. Einer ganzen Menge an Blut.
Tristan wusste, dass er da jetzt durchmusste.
Dennoch zögerte er, versuchte Gedanken zu sortieren und einen Plan aufzustellen. Sie sollten bei diesem Ereignis ihre Ruhe haben.
„Klar. Wir können das tun." Er vergrub sein Gesicht in seiner Hand, massierte sich mit den Fingern die Schläfen, versuchte Ruhe zu bewahren.
„Gib mir einen Moment, okay? Ich bin sofort wieder da."
Ben zögerte nicht lange mit seiner Antwort.
„Klar. Ich warte."
Tristan nahm das Telefon von seinem Ohr, warf einen Blick auf das Display, schob den Anruf mit seinem Bruder in den Hintergrund, um das Nachrichtenfenster mit Katie zu öffnen. Sie hatte ihr Handy sicher bei sich im Badezimmer. Sie nutzte es, um Musik zu hören, während sie sich frisch machte.
Kurz darauf fing Tristan an, eine Nachricht an seine Freundin zu schreiben.
Tut mir leid, vielleicht musst du ein wenig länger warten. Ben und ich müssen etwas Wichtiges besprechen. Ich bin danach sofort wieder bei dir und wir gehen unserem Plan nach. Ich liebe dich.
Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, stand der Mann auf, ging zur Schlafzimmertür und verschloss sie von innen, damit keiner hereinkommen und sie dabei störte. Das war jetzt wichtig. Verdammt wichtig sogar.
Als er sich sicher war, dass sie ungestört waren, zog er die Vorhänge zu, um sich besser konzentrieren zu können. Danach ließ sich Tristan auf den Boden nieder, lehnte sich an das Bett und zog die Beine an, ehe er sich das Handy wieder ans Ohr hielt und einen tiefen Atemzug nahm.
„Ich bin bereit, wenn du es bist, Ben."
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