Kapitel 11
Alle Beteiligten freuten sich, dass die Zwillinge wieder vereint waren, dennoch hatte es für Tristan einen bitteren Beigeschmack, denn während Ben nur an ihn hatte denken können, seitdem er aufgewacht war aus dem Koma, hatte er ihn vergessen. Vergessen war womöglich das falsche Wort dafür, verdrängt würde ein wenig besser passen. Sein Gehirn hatte versucht, ihn selbst zu schützen, denn so allmählich kehrten alle Bilder von früher zurück, alles schien sich zu fügen und das machte den Arzt sehr, sehr müde. Obwohl man es ihm nicht anmerken konnte, war das für ihn mit einer Anstrengung verbunden, die er nicht erklären konnte.
Doch Ben war da. Er war wirklich da. Es gab ihn und er hatte Erinnerungen an diesen Menschen. Sie waren unzertrennlich gewesen, sie hatten aber nicht unterschiedlicher sein können, hatten es aber immer geschafft, sich gegenseitig zu ergänzen. Ein bisschen fing sein Herz an zu heilen, das spürte er deutlich und von jetzt an wollte er Ben nicht mehr von der Seite weichen.
„Ben, wenn ich das gewusst hätte...", versuchte er ihm klarzumachen, während er die Hand des Anderen hielt und ihm in die Augen sah.
„Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass ich mich daran erinnern konnte oder kann. Dafür gibt es sehr viel, das ich nicht mehr weiß. Ich denke, wir müssen uns da gegenseitig helfen. Außerdem will ich endlich aus dem Krankenhaus raus."
Auch wenn ihn die Situation bedrückte, versuchte Tristan zu lächeln und positiv für sich und seinen Bruder zu sein. Immerhin brauchte Benedict jetzt jede Art von Unterstützung, die er nur bekommen konnte.
„Ich werde auf jeden Fall ein paar Untersuchungen und Tests anfordern, dann sehen wir weiter." Er wollte dem Braunhaarigen versichern, dass er zu hundert Prozent hinter ihm stand, warf aber endlich mal einen Blick zu seiner Begleitung, der ihn nur schief angrinste. Ihm kamen dessen Gesichtszüge bekannt vor, Tristan war sich sicher, dass er ihm schon einmal begegnet war, nur konnte er nicht zuordnen, wo oder wann sie einander über den Weg gelaufen waren.
„Ich bin es, Édouard. Eddie. Wir kennen uns tatsächlich auch von früher. Ich war Bens bester Freund. Wir haben zusammen Fußball gespielt. Also, Ben und ich." Als könnte dieser seine Gedanken lesen, stellte er sich ihm vor und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin, die Tristan mit einem Lächeln annahm und sanft drücke.
„Ist nicht schlimm, wenn du dich nicht erinnerst. Ist lange her. Und im Moment bin ich auch gar nicht weiter wichtig. Ich habe aber Ben versprochen, dass ich ihn begleite auf seiner Reise, also bin ich jetzt auch hier. Ich habe eine Wohnung gefunden, in der ich wohne. Vielleicht kann Ben dort auch bald einziehen." Eddie lächelte und schob seine Hände tief in seine Hosentaschen und grinste vor sich hin, während er zu Ben sah.
„Es ist jetzt wichtig, dass er wieder auf die Beine kommt. Und ich bin mir sicher, dass er das hier besser kann als in Québec. Hier wird er eindeutig glücklicher. Jetzt hat er seinen Bruder wieder, also kann es nur wieder bergauf gehen."
„Das wäre natürlich toll", sagte Tristan und wandte seinen Blick zu Ben, der Katie neugierig musterte.
„Und sie ist deine Kollegin?", wollte man von ihm wissen und der Arzt spürte, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen stieg. Wie erklärte er die ganze Situation jetzt nur? Denn das mit Katie war recht kompliziert. Sie waren kein Paar mehr, liebten aber einander, wollten es womöglich miteinander versuchen, doch wer von ihnen konnte schon garantieren, dass es dieses Mal wieder funktionieren würde und nicht erneut bei der Verlobung scheiterte?
„Hi! Ich bin Katie. Katie Dunham", stellte sich die Blonde selbst freudestrahlend vor und reichte Ben die Hand.
„Freut mich sehr, dich kennenlernen zu dürfen, Ben. Ich muss zugeben... die Ähnlichkeit steht euch ins Gesicht geschrieben."
„Freut mich auch sehr, Katie", hörte er seinen Bruder sagen und Tristan nahm sich den Moment, um durchzuatmen.
„Aber um deine Frage zu beantworten. Ich bin irgendwie alles. Ich bin seine Kollegin, beste Freundin, Ex-Verlobte. Aber ich denke, das ist eine lange Geschichte, die dir Tristan ein anderes Mal erzählen wird." Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter und er wurde das Gefühl nicht los, dass seine Wangen glühten,es gab kein Entkommen, denn Ben und Eddie sahen sich im nächsten Moment fragend und vollkommen verwirrt an.
„Ihr habt ja jetzt alle Zeit der Welt", Eddie wirkte zuversichtlich und bedeutete Katie, dass sie den Raum verlassen sollten.
„Eddie und ich gehen jetzt Mittagessen. Wir bringen euch dann etwas mit. Und ich kümmere mich darum, dass Tristan den restlichen Tag frei bekommt." Katie wirkte ebenfalls gut gelaunt, sie winkte den beiden zu und Tristan drehte sich zu ihr um, sah sie nur verständnislos an.
„Oh nein, Dr. Livingston. Da gibt es jetzt keine Widerrede. Du wirst dir den restlichen Tag frei nehmen und dich um deinen Bruder kümmern. Ich habe hier alles andere unter Kontrolle. Du bleibst schön hier. Ihr habt eine ganze Menge nachzuholen."
Das waren klare Worte. Tristan war sich nicht sich, was er darauf entgegnen sollte, er schritt nur auf die die Frau zu, griff nach ihren Händen und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Danke", flüsterte er ihr zu, sah den beiden nach und schloss die Tür, damit er mit seinem Zwilling etwas Privatsphäre hatte. Es brauchte nicht jeder mitbekommen, was sie zu besprechen hatten. Es gab eine Menge, worüber sie sich unterhalten konnten. Unter vier Augen.
„Ganz schön krasse Geschichte", meinte Ben, als dann Ruhe eingekehrt war, und strich die Decke ein wenig glatt, mit der er zugedeckt war.
„Ich muss zugeben, dass ich nicht gedacht hätte, dass ich dich finden würde. Aber am Ende war das alles viel zu leicht. Ich meine, du giltst als kleines Wunderkind. Die Leute halten viel von dir. Das spricht sich rum. Im Internet ist auch viel dazu zu finden. Eddie hat mir dabei geholfen, weißt du?", es sprudelte so aus Ben heraus und Tristan konnte beobachten, wie dessen Hände anfingen zu zittern. Ein Tremor, ganz klar. Ben stand unter Stress, nichts Unübliches bei einem Patienten wie ihm.
Deshalb setzte Tristan sich zu ihm, legte ihm vorsichtig eine Hand auf seine und sah ihm in die braunen Augen. Sie unterschieden sich zu seinen, denn er hatte Blaue. Ihre Mutter hatte braune Augen gehabt, ihr Vater blaue. Ein krasser Zufall, auch wenn sich Tristan wünschte, ebenfalls die seiner Mutter geerbt zu haben.
Allein der Gedanke an seinen eigenen Vater löste nur Schmerz in ihm aus.
„Ich habe dich verdrängt, Ben", flüsterte er, denn es nagte an ihm, schließlich hatte es sein Hirn geschafft, ihm einen ordentlichen Streich zu spielen.
„Erwartest du jetzt, dass ich auf dich wütend bin?", wollte Ben wissen, dessen Verwirrung man deutlich in der Stimme entnehmen konnte. Tristan sah ihn an und schüttelte stumm den Kopf.
„Aber vierzehn Jahre warst du einfach nicht da. Erst als ich deinen Namen gelesen habe, ist mir alles eingefallen. Du warst sonst nirgends aufgeführt. Und ich weiß nicht warum. Es war immer nur die Rede von unseren anderen drei Geschwistern. Es war so, als hätte es dich nie gegeben." Tristan presste die Lippen aufeinander, versuchte, gegen den Drang anzukämpfen, Tränen in seinen Augen zu bilden. Das schmerzte, das saß tief und er verstand es nicht. Musste er weiter graben?
„Ich habe angefangen nach unseren Großeltern zu suchen. Die Eltern unserer Mutter. Vielleicht leben die noch. Ich habe schon einige Anrufe getätigt, um überhaupt herauszufinden, wie sie heißen und so wie leben könnten und dann tauchst du auf."
„Ziemlicher Zufall, nicht?" Ben grinste leicht und umgriff die Hände seines Bruders.
„Wichtig ist doch nur, dass wir wieder zusammen sind."
Tristan nickte, denn ihm fehlten die Worte. Er verstand so vieles nicht. War es Grayson ebenso entgangen, dass Ben lebte? Warum hatte man seinen Bruder nirgends aufgeführt? Zu ihrem eigenen Schutz? Wusste die Polizei doch mehr, als sie zugeben wollte? Tristan wusste es nicht und es bereitete ihm Kopfschmerzen, jetzt im Augenblick weiter darüber nachzudenken.
„Außerdem musst du dafür sorgen, dass ich aus dem Krankenhaus rauskomme. Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin seit einigen Wochen wach. Ich bin zwar noch ziemlich platt, aber ich halte es nicht mehr aus, Tristan." Ben tat so, als wäre nie etwas gewesen, als hätten sie sich die letzten vierzehn Jahre jeden Tag gesehen. Kurz überlegte der junge Arzt, ob er sich dieser Einstellung nicht einfach hingeben sollte, aber er wusste, dass er dazu nicht in der Lage war. Er kannte sich selbst am besten.
„In deiner Akte steht aber, dass du das Laufen wieder neu lernen musst. Deine Motorik hat ziemlich gelitten, Ben", meinte Tristan.
„Ja, das kriege ich schon hin. Aber du als mein Bruder und Arzt kannst doch dafür sorgen, dass alles beschleunigt wird, oder? Mir fällt die Decke echt auf dem Kopf. Wobei ich nun echt gespannt bin, wie das Krankenhaus hier so ist." Ben grinste immer noch, er schien das alles mit solch einer Leichtigkeit zu nehmen. Aber vielleicht war das die richtige Art, diese Situation anzugehen.
„Ich werde auf jeden Fall alles tun und dafür Sorge tragen, dass du bald nach Hause kannst."
Es war sein Lächeln, diese Freude, die ihm dann doch die Freudentränen in die Augen trieb. Tristan konnte gar nicht anders, als Benedict in die Arme zu schließen und ihn fest an sich zu drücken.
„Ich werde dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst. Und dieses Mal werde ich dich auch beschützen. Dieses Versprechen gebe ich dir hier und jetzt", machte er ihm leise klar und er tat sich schwer, seinen jüngeren Bruder loszulassen. Er hatte einmal versagt, ein weiteres Mal würde er das nicht zulassen.
Sie umarmten sich eine Weile, hielten sich fest und waren füreinander da. Manchmal waren Worte überflüssig – hier war es deutlich der Fall, doch wie es schien, gab es etwas, das Ben auf der Seele brannte.
„Also. Diese Katie. Erzähl mir alles. Von vorne bis hinten. Ich will die ganze Geschichte hören. Ich habe doch gesehen, wie ihr einander anseht."
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