
Kapitel 4
Zu Hause angekommen, öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer. Endlich Ruhe. Erschöpft mit einem raunenden Seufzen ließ ich mich auf mein Bett fallen, wobei ich für einen Moment meine Augen schloss. Ein kalter Luftzug kitzelte mich im Gesicht, das Fenster war gekippt. Der Duft von leckerem Essen drang in mein Zimmer – war das ein Fischgericht?
Ich spürte, wie mein Atem langsamer wurde und ich mich wie in den Armen meiner Mutter fühlte, die mich hin und her wog. Das Schaukeln war angenehm, es beruhigte mein Gemüt. Schwerelos glitt ich über die Wolken, bis hin zum Horizont, wo die Sonne mit dem Ozean verschmolz. Die Wellen, verursacht von einer vergangenen Flut, legten sich bedacht über das stille Wasser, wobei sich eine Möwe auf einen Pfahl setzte, der aus dem Gewässer ragte, und auf den Meeresgrund starrte, um leckere Beute zu erspähen. Salz vermischte sich mit dem Wind, der sich an meine Wangen schmiegte. Ich lag in einer Hängematte, die zwischen zwei Palmen an einem Strand gespannt war, und beobachtete den Sonnenuntergang, dessen Strahlen schon bald erloschen waren.
„CLARA!" Die Tür fiel gewaltvoll ins Schloss, bevor mein Bruder in mein Zimmer stürmte und unsanft auf mich sprang. Mein Herz pochte fest gegen meine Brust, sodass ich glaubte, dass es bald durch meine Rippen sprang.
„Spinnst du?", fragte ich verwirrt und weniger wütend.
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du schläfst...", winselte Ron, mein Bruder, und sah mich mit großen Augen an. „Aber ich freue mich so, dass du wieder zu Hause bist. Es ist immer so langweilig alleine hier zu sein. Vor allem, wenn Großmutter wieder bei ihrem Aerobic-Kurs ist."
„Schon okay, Ron. Ich bin wohl eingenickt. Hast du Hunger?"
„Jaaa!" Mein Bruder krabbelte vom Bett und hüpfte in die Küche. „Was kochst du heute?"
Ich rieb meine Augen, während ich den Weg in die Küche bahnte. „Mal sehen..." In den Schrank brauchte ich nicht nachsehen, weil ich genau wusste, dass wir nur Spaghetti Nudeln zu Hause hatten. Es war wohl wieder an der Zeit einkaufen zu gehen. „Bist du mit Spaghetti zufrieden?"
Rons Gesicht begann zu strahlen. Sein Lieblingsgericht, schon seit Jahren.
„Also gut, willst du mir helfen?" Nebenbei holte ich die Nudeln und die Tomatensoße aus dem Schrank, das Hackfleisch holte mir Ron, was für mich die Antwort ergab.
Mein Bruder goss Wasser in den Topf und legte eine Hand voll Nudeln hinzu, während ich das Fleisch in einer Pfanne anbrate.
„Wie war es in der Schule?", fragte ich neugierig.
„Ganz okay."
„Ist etwas passiert?"
„Nein... Aber der Unterricht war sehr langweilig."
Ich lachte. „Verständlich. Leider musst du noch einige Jahre zur Schule gehen, dass einmal ein Astronaut oder Mechaniker werden kann!"
Ron blickte beschämt zur Seite. „Das will ich doch gar nicht werden." Seine großen blauen Augen wandten sich wieder zurück zu mir, dann lächelte er mich warmherzig an. „Ich möchte Baggerfahrer werden."
Meine Hand wuschelte durch seine roten Haare, während ich mich hinkniete, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. „Da musst du noch groß und stark werden, dass du so einen riesigen Bagger überhaupt lenken kannst."
„Es gibt ja jetzt gleich Spaghetti, oder etwa nicht?"
Ich stand wieder auf, dabei erhaschte ich einen Blick in den Topf. „Ich denke, gleich ist es soweit."
Als hätte mein Bruder Jahre nichts mehr zu essen gehabt, sprang er auf und ab, während er voller Freude lachte. Er konnte oft ein sehr ruhiger Junge sein, aber wenn er hungrig ist, dann freut er sich wie ein Keks.
„Deck doch schon einmal den Tisch, Zappelphilipp." Bevor ich die Pfanne und den Topf mit den Nudeln darin zu Tisch tragen wollte, würzte ich die Soße noch etwas mit Knoblauch, Salz und Pfeffer, um die Mahlzeit etwas deftiger zu machen.
„Essen ist fertig!"
Am Tisch war Ron der erste, der sich das Essen aus den Töpfen nahm, und auch der erste, der zu essen begann.
„Ich glaube, dass niemand jemals die Kochkünste von Mama übertreffen könnte!", sagte Ron plötzlich.
„Oh, ich wusste gar nicht, dass ich so schlecht koche..." Ich spürte, wie sich der Holzpfahl weiter in das Herz bohrte. Schon lange hatte er sich nicht mehr bewegt und ich dachte, dass er schon längst weg sei. Der Tod meiner – unserer Mutter lag mir schwer am Herzen und lastete auch noch nach einem Jahr auf meiner Seele. Nicht, weil Ron das gesagt hatte, begann ich zu weinen, sondern, weil ich Mom einfach so sehr vermisste. Ohne es zu bemerken, rollte auch schon die erste Träne über meine Wange. Komischerweise war das eine Erleichterung für mich wieder einmal die Tränen den Weg an die Luft bahnen zu lassen. Auch, wenn ich unter psychologischer Betreuung stand, ich konnte eigentlich nicht vor anderen Menschen weinen. Mir war das unangenehm.
„So war das doch gar nicht gemeint! Du kochst natürlich auch gut. Ehrlich!", warf Ron mich aus meinen Gedanken.
Wie automatisiert wischte ich mir mit dem Handrücken über die Wange. Ich fühlte mich schlecht. Nun dachte mein Bruder, er wäre schuld daran, dass ich weinte, aber so war das nicht.
Zögernd drückte ich mich vom Tisch, stand auf und umarmte Ron für eine ganze Weile. Es tat gut ihn in meinen Armen halten zu können. Er war noch meine einzige Familie, die ich hatte. Ich war froh ihn zu haben und noch glücklicher war ich, dass unser Vater, Sebastian Brown, ihn mit seinen wütenden Schlägen verschont hat. Damals war Ron noch ein kleines Baby. Olivia, unsere Mutter, und Sebastian trennten sich vor ungefähr 10 Jahren, woraufhin er nach Carincia gezogen ist. Seit dem haben wir nichts mehr von ihm gehört. War auch besser so. Nach Olivias Tod war das Beste für uns Kinder zu Großmutter zu ziehen. Wir hatten natürlich kein Geld und gingen beide noch zur Schule. Um ehrlich zu sein war das Leben bei Großmutter fast so, als wären wir alleine in einem eigenen Haus, weil sie so gut wie nie zu Hause war. Sie legte etwas Geld zur Seite, damit wir einkaufen gehen konnten, um uns zu Mittag etwas zu kochen. Außerdem wusch sie – wenn sie einmal zu Hause war – die Wäsche und bezog unsere Betten neu.
„Mir geht es genauso, Roro", sagte ich, während ich diese innige Umarmung auflöste und ihm tief in die Augen blickte. „Ich vermisste sie genauso sehr wie du."
Sein Blick fiel zu Boden und wich mir aus. „Warum nur musste sie sterben?"
„Es ist ungerecht, ich weiß, aber versuche dich an die schönen Momente zu erinnern. Weißt du noch unser erster gemeinsames Schneetier? Wir wollten erst eine Giraffe bauen, aber-"
„Der Kopf ist dummerweise immer abgebrochen. Er hat nicht halten wollen." Ron sah mir wieder in die Augen, in denen ich denselben Funken sah, wie vor einigen Stunden in Roberts. War das wirklich der Funken Hoffnung, der in manchen Menschen vorherrscht?
„Ja! Dann haben wir beschlossen, einen Eisbären zu bauen, weil der doch viel besser zum Winter passte."
Kindliches Gelächter hallte durch den Raum. Ich liebte es, wenn Ron lachte. „Der war doch auch nicht viel besser!"
„Nur weil Mama und du auf dem Eisbären reiten wolltet, aber der Schnee nicht stark genug war euch zu tragen." Jetzt musste ich auch lachen. Der Anblick an die Erinnerung war einfach zu komisch, wie sie durch den Schnee gebrochen sind.
„Ich war aber sehr froh darüber, dass wir dann im kalten Schnee vergraben waren", sagte Ron ernst.
„Warum das?"
„Na, weißt du das gar nicht mehr? Mama hat uns dann die beste heiße Schokolade der ganzen Welt und Galaxie gemacht."
Ich nickte, während eine weitere Träne ziellos über meine Wange kullerte und auf meine rechte Hand fiel, die auf Rons Schoß lag. Die Traurigkeit saß in dem Moment noch zu tief, um weiteressen zu können, weshalb ich Ron noch ein weiteres Mal in den Arm nahm.
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