Kapitel 2
„Wir sind fast da", sagte Leon beiläufig und lächelte mich an. Dabei drehte er sich extra um und sah mir für einen kurzen Moment direkt in die Augen. Leon war ein höflicher Mensch. Er konnte sogar charmant sein, wenn er wollte, aber das war sowieso keine Seltenheit. Es war eine größere Gefahr auf seiner Schleimspur auszurutschen als an einem Broken-Heart-Syndrom zu sterben.
Schon von weitem konnte ich das Gebäude sehen, wohin er mich führte. Es war das Haus seines Vaters, der ab und an dort arbeitete. Dieses Haus war ein einziger Traum. Ein riesiges Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, darin ein Kingsize Bett, wenn sein Vater länger als einen Nachmittag arbeitete, ein Bad mit einem Whirlpool und das Beste: eine Dachterrasse mit Aussicht über die Innenstadt.
„Ich war noch nie hier." Mein Blick fiel auf den Baum, der im Garten stand. Leider ohne Blüten.
„Das weiß ich", sagte Leon gewissenhaft ohne mich anzusehen, „aber ich weiß, dass es dir hier gefallen wird. Du hast ja damals schon positiv reagiert, als ich dir von diesem Grundstück erzählt habe."
Ich spürte, dass sich meine Wangen erröteten, sie wurden ganz heiß, weshalb ich Leon für diesen einen Moment nicht ansehen konnte. Es war nicht so, dass es mir peinlich war, aber ich wollte einem typisch-Leon-Kommentar ausweichen, denn ich war nicht wirklich in der Lage einen Konter auf die Beine zu stellen. „Ich bin gespannt wie das Haus von innen aussieht."
Leon nahm mich an der Hand und zog mich zum Eingangsbereich. Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen, aber da standen tatsächlich ein alter Schallplattenspieler und ein Schallplattenständer im Wohnzimmer.
„Mein Vater liebt alte Musik." Er holte eine bekannte Schallplatte aus dem Ständer und zeigte sie mir. „Kennst du die Band?" Er sah mich mit großen Augen an, als wüsste er, dass ich sie kannte.
„Natürlich", antwortete ich, während er am Plattenspieler herumhantierte und versuchte die Platte einzulegen, „Ist eine gute Band. Welches ist dein Lieblingslied?"
Die Platte war endlich eingelegt und das erste Lied füllte den Raum mit Musik. "Mein Lieblingslied, hmmm, ich denke das ist wohl ‚I want to break free', deines?"
Ich mochte viele Lieder dieser Band, da war es schwer sich für ein Lied zu entscheiden. Das war generell schwer bei allen Songs und Bands, mir fiel es immer schon schwer mich auf eine Band festzulegen, denn es gab so viele gute Musiker, die verschiedenes produzieren und immer einen anderen Stil verwenden. Musik war eine schöne Sprache, manche verstanden sie, manche wiederum nicht.
„The Show must go on", sagte ich kurz und prägnant, ohne groß unnötige Spannung aufzubauen.
Leon lächelte mich warmherzig an und nahm dann meine Hand. „Ich ziehe dich ungern wieder in deine depressive Stimmung, aber wir wollten reden." Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, während er mir tief in die Augen blickte. Komischerweise kam in mir ein unangenehmes Gefühl im Bauch hoch, als würde mich ein Insekt von innen auffressen.
Ich nickte nur. Wie ich das Reden über meine Probleme mit Menschen hasste, aber ich tat es trotzdem – zumindest redete ich mit Leon, denn bei ihm hatte ich das Gefühl, dass er mir zuhörte. Ich dachte, dass es ihm wichtig war, wie ich mich fühlte, anders als meine Psychologin, die nur ihren Job erledigte, um schnell ihr Geld verdienen zu können. Ein leises Seufzen entkam meinen trockenen Lippen, während ich nach oben blickte und überlegte, wie ich diese Situation am besten erklären sollte.
„Ich habe eine Idee", sagte Leon schnell, während er mich an der Hand zog und mich auf den Balkon, über eine Treppe nach oben führte.
Eine große Stadt malte sich bis in den Horizont, Wolkenkratzer küssten den Himmel, und der Großstadtlärm war kaum wahrzunehmen. Der Wind streifte durch meine langen roten Haare und ich fühlte mich ein wenig wie ein Vogel, der hoch in den Lüften schwebte. Eine Stadt voller Leben. Das war Corazon, die Stadt, in der ich lebte. Ich atmete einmal tief die kalte Luft ein und blies sie sanft wieder aus.
„Nun, wo soll ich beginnen?", fragte ich, wandte aber meinen Blick auf die Stadt nicht ab.
„Wo auch immer es dir beliebt." Leon lehnte sich über das Gitter, das auf dem Dach befestigt war, und sah nach unten auf die Straßen.
„Also gut ... dass ich glaube, meine Bandkameraden hätte ich verloren, weißt du ja bereits", begann ich verunsichert. Leon nickte.
„Da ist noch mehr ...", sprudelte es aus mir heraus, wobei diese Information ziemlich unnötig war. Ihm war doch klar, dass wir hier nicht zum Spaß am Dach standen, sondern um zu reden. „Ich frage mich, ob sie mich wirklich mochten oder nur meine Nettigkeit ausgenutzt haben."
„Geht das ein bisschen genauer?" Ich zuckte zusammen. Er schenkte mir ein Lächeln.
„Klassenkameraden ...", murmelte ich verunsichert.
„Verstehe."
„Ich fühlte mich aber auch cool im Beisein meiner damaligen Freunde, doch jetzt denke ich, dass diese Euphorie völlig unberechtigt war, denn diese „Freunde", wie ich sie damals nannte, entpuppten sich als hinterlistige Schlangen, die mich von der einen Sekunde auf die nächste enttäuscht und fallen gelassen haben, als wäre ich unnützer Dreck, den man so schnell wie möglich loswerden möchte." Eine Träne kullerte mir über die Wange, während ich über die vergangenen Tage nachdachte. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie nichts mehr mit mir redeten und es tat so weh. Nachdem ich für Leonie so oft da war und ihr dabei half ihren Schwarm zu erobern. Jetzt hatte sie ihn als festen Freund – brauchte sie mich deswegen nicht mehr?
Leon nahm mich in den Arm und streichelte über meinen Kopf. Seine Präsenz beruhigte mich schneller, als ich zu denken vermochte. Für einen Moment schloss ich meine Augen, wobei ich mich tiefer in die Umarmung drückte. Es war warm unter seinen Armen und er roch ein wenig nach Zimt. Für ein weiteres Mal strömte die Luft in mich ein und verließ danach wieder meine Lungen, bevor ich weitererzählte.
„Dadurch, dass ich als Mensch tolerant gegenüber meinen Mitmenschen bin und denen für deren Handeln nicht sauer bin, halten mich einige für dumm, naiv und unerfahren ..."
Leon löste sich aus der Umarmung, legte seine Hände auf meine Oberarme und sah mir tief in die Augen. „Sophia?"
„Hm?"
„Du bist nicht naiv oder dumm oder unerfahren. Auch nicht inkompetent. Scheiß drauf, was andere von dir denken und mach dein Ding. Zieh es durch und konzentriere dich auf dein Ziel. Weißt du ... manchmal sind Menschen eben nicht so klug, um so ein intelligentes Mädchen verstehen zu können. So etwas braucht Zeit und die hat wohl nicht jeder. Das soll nicht heißen, dass du kompliziert bist, ganz im Gegenteil. Jeder Mensch hat so seine Macken, seine Denkmuster und seine Sichtweisen. Deine ist besonders und gibt es nicht oft, deshalb wird sie vielleicht oft falsch gedeutet." Seine Hand strich mir über die Wange, während er mich anlächelte. „Vergiss das nicht. Du bist eine starke Frau. Außerdem kannst du dieses Vorurteil über dich ausnutzen. So fragt dich niemand, ob du dies oder jenes für die Personen machen könntest. Das ist doch positiv, wenn du für niemanden die Hausaufgaben machen musst, oder?" Leon lächelte und seine Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. Wobei seine Augen an diesem Tag wohl gewannen, weil die Sonne von den Wolken bedeckt war.
Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. Das war so schön anzuhören. Ich wollte fast gar nicht, dass er jemals wieder damit aufhörte, so schöne Dinge zu sagen. „Danke", murmelte ich verlegen, wobei ich kurz zur Seite blickte, um seinen Augen auszuweichen. Er stupste mich sanft auf die Wange und ich musste anfangen zu lachen.
„So gefällt mir das!"
„Ach? Das schlimmste kommt aber erst." Es war fast so, als hätte ich diesen Moment der Freude ruiniert, aber Leon war nicht böse. Zumindest glaubte ich, er wäre es nicht.
„Dann hau mal raus." Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Gitter und stützte sich lässig mit den Armen darauf ab.
„In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass mit meinem kleinen Bruder etwas nicht stimmt." Ich hielt für einen kurzen Moment inne und fragte mich selber, ob es richtig war, das zu erzählen.
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