Kapitel 1
„Wie ist es in einer Band zu sein?", fragte der Junge aus meiner Klasse neugierig. Leon war sein Name. Er war sehr aufgeweckt und unglaublich kreativ. Seine ersten Videos schnitt er bereits in sehr jungen Jahren. Seit kurzem verdient er sogar mit seiner Leidenschaft Geld. Einen Wettbewerb hatte er bereits hinter sich, er ist zufrieden mit seiner Platzierung, ebenso mit seinem Preis.
„Musik macht auf Dauer traurig ...", antwortete ich in Gedanken. Dieser Satz hallte noch lange in meinem Kopf, so lange bis ich realisierte, dass ich mich in der Schule befand. Eine rote Strähne war mir ins Gesicht gefallen. Langsam hob ich meinen Kopf an, strich mir mein Haar hinters Ohr und sah Leon endlich in die Augen. „... Es ist wie eine Euphorie, die mit der Zeit verblasst, wenn man merkt, dass die Entscheidung wohl die falsche gewesen sein muss."
Leon runzelte die Stirn und sah mich verwirrt an. „Was meinst du?", fragte er verunsichert. Er schien neugierig und doch wirkte er vorsichtig in seiner Wortwahl, um nicht ein negatives Ende des Gespräches zu provozieren.
„Genauso wie ich es sage, Leon. Es ist genauso." Ich atmete tief ein, als ich für einen kurzen Moment meinen Blick zur Seite gleiten ließ und dabei aus dem Fenster sah. Es hatte zu regnen begonnen. Schade, schon wieder kein Schnee, dabei war es die letzten Tage so kalt gewesen.
„Bist du aus der Band ausgestiegen?", fragte nun Leon, um das Gespräch am laufenden zu halten, doch ich antwortete nicht sofort. Ich sah viel lieber den Regentropfen zu, wie sie langsam vom Himmel zu Boden fielen. Wie schön das nur aussah. Die Regentropfen waren so frei, so leicht, so kalt, so blau und doch transparent. Wasser war fast so wertvoll wie ein Stück Diamant. Diesen Rohstoff gab es überall zu finden, trotzdem nahmen es die Menschen an sich und verkauften Unmengen an Wasserflaschen.
Meine Augenlieder sanken langsam und nahmen mir für einen Moment die Sicht. Es war dunkel. Schwarz wie die Nacht und meine Gedanken drifteten ab. Ich genoss den Moment der Stille, obwohl es im Klassenzimmer ziemlich laut gewesen war. Wie magisch so ein Moment nur sein konnte.
„Sophia?" Ich zuckte leicht zusammen, als Leon plötzlich mit seinen Fingern vor meinem Gesicht schnipste.
„Lass das", giftete ich ihn an. „Ich bin nach wie vor in der Band."
„Aber?" Leon ließ einfach nicht locker. Was wollte er mit diesem Gespräch bezwecken?
„Kennst du dieses Gefühl von Reue?", fragte ich ihn und blickte ihm dabei tief in die Augen. Er nickte. „Dann kennst du bestimmt dieses Gefühl, als ziehe dich jemand hin und her. Ein Tauziehen. Auf der einen Seite die Pro-Seite, kontra auf der anderen. Es fällt schwer sich für eine zu entscheiden, bis man sich selber den Stress macht und sich falsch entscheidet. Diese Art von Reue ist eine der schlimmsten."
„Also bereust du es nicht ausgestiegen zu sein?" Der Junge versuchte mich mit aller Kraft zu verstehen, doch ihm fehlte wohl eine gewisse Art Einfühlungsvermögen.
„Nicht ganz. Ich bereue es eher, dass ich mich zu sehr für die Band eingesetzt habe. Dass ich fast alles auf eigene Faust gemacht habe und es plötzlich kein Miteinander mehr war, sondern reines Chaos. Ich habe mir alle drei zum Feind gemacht und damit muss ich jetzt wohl leben. Ich gegen meine Schandtaten ... Da bin ich selber schuld, muss ich sagen."
„Verstehe ...", murmelte Leon und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als hätte ihm diese Antwort seine Neugierde befriedigt.
„Du verstehst eben nicht." Meine Stimme versagte, als ich wieder dieses drückende Gefühl in meinem Bauch verspürte. Ich wusste, ich würde weinen, wenn ich nicht aufhörte darüber zu sprechen. Nie konnte ich mich gegenüber anderen öffnen, als wäre ich eine schwache Seele, als könnte ich nicht auf mich selber achten, aber ich musste diese Gefühle aussprechen. Irgendjemanden musste es geben, der dieses Gespräch für sich behielt und niemandem ein Wort davon erzählte. Ich hoffte, es wäre Leon. Wenn nicht er, wer dann? „Ich glaube, dass mich niemand versteht, wenn ich über meine Entscheidungen spreche. Jeder denkt anders darüber und jeder hat eine eigene Meinung."
„Aber deswegen sollst du dich nicht vor deinen Mitmenschen verschließen. Das macht alles schlimmer."
Das war mir bewusst. Ich wusste, dass diese Verschlossenheit eine Schwäche meinerseits war, und dass ich dadurch diese Anfälle bekommen würde. Vor kurzem wollte ich mir das Leben nehmen - vor meiner Großmutter. Sie war aufgebracht, ganz außer sich und fast zu Tode schockiert von meinem Vorhaben, dass sie sich am nächsten Tag erst auf ein Gespräch mit mir darüber einlassen konnte. Ich solle dieses „Problemchen" in den Griff bekommen. Doch wie?
„Womöglich habe ich vergessen wie man sich den Menschen öffnet."
Leons braunen Augen sahen mich noch verwirrter als zuvor an. Irgendwie sah dieses Funkeln darin schön aus. Als wäre er voll Unschuld und frei von allem Kummer. Als hätte er diesen einen feurigen Funken Hoffnung in seinem Herzen.
„Sprich über deine Gefühle. Lass sie raus. Schicke sie auf Reisen und lass sie ankommen. Wenn sie einmal fort sind, fällt es dir leichter loszulassen."
Ein Lächeln spielte sich auf meinen Lippen, welches ich mit meinem Schal verdeckte.
„Verdeck doch nicht dein schönes Lächeln, Sophia", flüsterte er, während er meinen Schal etwas lockerte und ihn nach unten zog, sodass er meinen Mund wiedersehen konnte. „Viel besser. Jetzt fehlt noch dieses Lächeln von vorhin." Bevor er den Satz beenden konnte, kam mir ein verlegenes Grinsen aus und ich musste beschämt zur Seite blicken. Sein Zeigefinger nahm auf meinem Kinn Platz und führte mich in eine Richtung, dass meine Augen sich mit Leons trafen. Das Funkeln in seinen Augen wurde heller und erfüllte mein Herz mit Wärme, was mich für diesen Augenblick alles vergessen ließ und meine Gedanken in kräftigen Armen wiegte.
„Wenn ich über meine Gefühle sprechen soll, dann nicht hier." Immerhin waren wir im Klassenzimmer und jeder x-beliebige Mitschüler konnte unser Gespräche belauschen. Leon nickte verständnisvoll, dann widmete er den Schulbüchern seine Aufmerksamkeit. Heute war Prüfungstag, ein Tag, an dem jeder an die Reihe kommen und über einen gewissen Themenbereich befragt werden konnte, nur wer der Unglückliche war, das wusste niemand im Vorhinein.
Mit einem erleichternden Seufzen lehnte ich mich gegen die Wand, während ich mir die Kopfhörer aufsetzte und mein Lieblingslied anmachte. Musik war ein Faktor, der traurig, wütend oder glücklich machen konnte. Je nach Musikgenre und Geschmack war das leicht zu beeinflussen. Ich für meinen Teil mochte rockige Lieder, die das Gemüt erhoben und einem die Laune positiv aufpäppelten.
Warum fühlte ich mich so leer? Warum konnte ich nicht einfach die Dinge machen, die mir Spaß machten? Warum war es mir so wichtig anderen zu gefallen oder mich mit den Menschen gut zu stellen? Warum hatte ich solche Angst alleine gelassen zu werden? Ich wusste, dass ich vor dem Tod Angst hatte, und dass ich ohne Partner wohl alleine sterben würde. Immerhin hatte ich bereits ein Alter erreicht, wo das Erwachsenleben erst so richtig beginnt. Ich selbst entwickele Fähigkeiten und durchlebe Erfahrungen, die später noch wichtig sein werden. Phasen sind Teil des eigenen Lebens, jede Minute verstreicht mit Gedanken, die ich mir zum Leben mache.
Doch irgendwann ist es so weit und wir werden fliegen, wie die Vögel. Das Leben ist keine Open-End-Party. Vielen Menschen ist es lieber zu sterben, denn irgendwann leben zu viele auf dieser Erde und haben womöglich keinen Platz mehr. Sterben hat gute Seiten, jedoch kann ich sie bis jetzt noch nicht erkennen.
Mein Herz begann schlagartig schneller zu schlagen, als ich meine Augen aufriss, während mich Leon am Arm rüttelte. Vor mir stand Frau Heger und sah mich mit ihren faltigen Augen durch ihre Brille, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war, hochnäsig an. Ihre Stirn legte sich in Falten, was sie umso strenger wirken ließ. Mir war klar, dass sie wutentbrannt sein musste, denn sie hasste es, wenn man ihrem Unterricht nicht mit voller Aufmerksamkeit lauschte. Bevor ich vergaß, nahm ich meine Kopfhörer von den Ohren und packte meinen mp3-Player in die Tasche.
„Tut mir leid", murmelte ich verlegen und blickte dabei beschämt zu Boden. Mehr wusste ich nicht zu sagen. In Situationen wie diese, wünschte ich mich an einen anderen Ort, an dem ich alleine sein konnte.
„Ich hoffe, das passiert nicht noch öfter, Sophia! Sonst sehen wir uns im Rektorat wieder - mit deinen Eltern!" Ich wusste nicht, welchen Sinn es hatte die Eltern in die Schule zu laden, wenn ich bereits volljährig war. Ihr Argument dazu war stets dieselbe gewesen: ‚Deine Eltern bezahlen deine Verpflegung und deine Unterkunft, so sollen sie auch erfahren, wie es dir in der Schule ergeht'.
Ohne eine weitere Szene zu machen, wandte sie sich um und begann den Frontalunterricht. Nun hieß es stillsitzen und zuhören, was mir sehr schwer fiel. Meine Konzentration war vergleichbar mit einem Goldfisch. Ich sah kurz zu Leon, der sich gelangweilt den Kopf auf seiner Hand stützte und in das Buch starrte. Sein Atem war gleichmäßig und ruhig. Wie friedlich er aussah, wenn er seine Finger gleichmäßig auf die Tischplatte klopfte. Sein schwarzes Armband war in meinem Blickfeld. Ich hatte es ihm zu seinem Geburtstag geschenkt, der erst eine Woche her war. Ich musste schon wieder schmunzeln. Schön, dass ihm das Geschenk gefiel. Schwarz war seine Lieblingsfarbe, zumindest behauptete er immer, dass schwarz eine Farbe war, auch wenn irgendjemand etwas anderes dagegen argumentierte. Leon war schon ein spezieller Mensch, stand immer zu seiner Meinung. Ihm war egal was andere von ihm dachten. Sein Motto war stets dasselbe gewesen: Lebe dein Leben, wenn du erst einmal tot bist, bereust du es nicht getan zu haben.
„Leon?", flüsterte ich möglichst leise, um nicht die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu erwecken. Er sah mich von der Seite fragend an und brummte ein verwirrtes ‚hm?'. „Warum lügen Menschen?"
Leon runzelte seine Stirn und hob seine rechte Augenbraue. „Wie meinst du das?" Er redete etwas lauter als ich es tat. Die Lehrerin zischte, was so viel bedeutete, dass wir leise sein sollten. Ich rollte meine Augen, wobei ein angestrengtes Seufzen meine trockenen Lippen verließ. Das interessierte sowieso niemanden, worüber Frau Heger sprach. Ich empfand es als sinnlos, dem Unterricht zu lauschen, obwohl die Informationen im Lehrbuch nachzulesen waren. Zum Test musste man eine gute Note schreiben und danach war das Gelernte nicht weiter von Bedeutung.
Ein kurzer, gewagter Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Unterrichtseinheit nur noch wenige Minuten andauerte, das fühlte sich für mich wie einige Stunden an. Zum Glück war das die letzte Stunde vor dem langersehnten Wochenende, deshalb waren die letzten Minuten umso schlimmer. Noch immer dachte ich an die Frage, die ich Leon zuvor gestellt hatte, um sie nicht zu vergessen.
Das laute Bimmeln der Schulglocke riss mich aus den Gedanken und warf mich fast vom Stuhl. Ein aufrichtiges Lächeln spielte um meine Lippen, als ich meine Sachen vom Tisch in meinen Schulranzen packte. Endlich Wochenende! Gerade als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, starrte mich Frau Heger streng von der Seite an, bevor sie das Klassenzimmer verließ. Vorsichtig mit leicht gesenkten Kopf sah ich ihr noch für einen kurzen Moment hinterher.
„Wollen wir ein Stück spazieren gehen?" Leon sah mich erwartungsvoll an, als müsste ich ihm zustimmen, was ich auch tat, denn ich unternahm gerne etwas mit ihm. Zuletzt waren wir in einem Hallenbad, wo wir um die Wette rutschten, wobei wir versuchten den Tagesrekord zu knacken. Ganz knapp war Leon dem Rekord an den Fersen, doch knacken konnte er ihn leider nicht. Dort gab es außerdem noch ein Becken mit heißem Wasser und ohne Überdachung im Freien. Wir schwammen dort hinaus und genossen die Wärme. Über das Becken legte sich eine nebelige Dampfwolke, die gut tat sie einzuatmen.
Bevor wir unseren Spaziergang beginnen konnten, wollte ich noch nach Hause, um meinen Schulranzen abzuliefern. Mein Rucksack war ziemlich schwer und vollgestopft mit Schulbüchern und Heften, die zum täglichen Gebrauch in der Schule Nutzen fanden. Zu Hause hatte ich einige Kisten in meinem Regal stehen, die voll mit alten Schulsachen gefüllt waren und die später noch Gebrauch hatten, wenn ich meine Abschlussprüfung machte. Ich wunderte mich, warum es keine einfachere Methode gab, um die Schulutensilien zu transportieren. Einige Schulen verwendeten bereits Tablets und schickten den Lehrern die Hausaufgabe per E-Mail. Andere waren sogar in einem Netzwerk mit allen anderen Schülern und Lehrern verbunden, worin sie täglich Neuigkeiten posteten. Dieses System war intern von Gebrauch und war um einiges leichter zu bedienen als Facebook. Andererseits empfand ich dieses Netzwerk als störend, denn man musste rund um die Uhr nachsehen, ob nicht etwas Neues gepostet wurde, was von Wichtigkeit und sehr bedeutsam war. Unsere Lehrer haben nicht vor so ein System an der Schule anzulegen, obwohl wir einen Lehrer in der Schule hätten, der sich brennend dafür interessieren und dieses Projekt auch konsequent durchziehen würde.
Den ganzen Weg lang zu mir nach Hause schwiegen Leon und ich uns an. Es war ein angenehmes Schweigen. Ein Schweigen, das vertraut war und mir Freiraum für meine Gedanken gab. Leon wusste genau, wann es am besten war den Mund zu halten und nichts zu sagen, so war es auch jetzt. Vor einigen Monaten hatte er mir erzählt, dass er Hypersensibel sei und die Gefühle anderer stärker spürte, als seine eigenen. Manchmal machte ihn das traurig, weil viele Menschen mit negativen Gefühlen in sich durch die Welt gingen und manchmal half es ihm die Menschen besser zu verstehen. Sozial unfähig nannte er sein Verhalten. Einige Menschen verstanden Leon nicht durch seine komischen Fragen, aber er war nur neugierig und wollte die Welt ein bisschen besser verstehen. Das war doch kein Fehlverhalten, oder? Ist nur das, was die Wissenschaftler täglich machten: versuchen die Welt besser zu verstehen.
Ich schloss die Tür auf, rief ein kurzes lautes „Hallo" in die Wohnung und warf dann meinen Schulranzen in mein Zimmer. „Gehe mit Leon spazieren." Die Tür fiel wieder ins Schloss und ich sah Leon erwartungsvoll an. „Wohin führst du mich diesmal?", fragte ich lächelnd im Flur vor der Wohnung meiner Eltern.
„Lass dich überraschen",während er das sagte, nahm er meine Hand und zog mich sanft aus dem Gebäude.Der süße Geruch seines Deodorants blieb mir noch lange in der Nase. Ich liebteden Geruch von Frische, vor allem wenn ich etwas Ablenkung nötig hatte. Insolchen Momenten zündete ich mir meist eine Kerze an und beobachtete dietanzende Flamme. Das Flackern beruhigte meine Gedanken und ließ meine Seelebaumeln. Am liebsten mochte ich rosige Duftkerzen oder Lavendel.
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