Kapitel 42
Lange nachdem meine Mutter gegangen ist, sitze ich noch auf dem Sofa und starre apathisch vor mich hin. Ich spüre, dass ich eigentlich aufs Klo müsste, kann mich jedoch nicht dazu aufraffen.
Irgendwann bringe ich es schließlich doch über mich und stehe auf. Bevor ich auf die Toilette gehe, fülle ich den Wasserkocher auf und schalte ihn ein.
Als ich zurück komme, gieße ich mir einen Pfefferminztee auf. Der scharfe Geruch des Dampfes beruhigt mich. Was soll ich jetzt tun?
Ich entscheide mich dazu, tief in mich hineinzuhorchen, anstatt hektisch zu handeln und einfach irgendwas zu machen.
Ich spüre das Bedürfnis, mich abzulenken. Der Zeitpunkt, an dem ich mich ausgehend mit diesem Gespräch auseinandersetze, ist noch nicht gekommen.
Kurz überlege ich, Melissa zu schreiben, der Grafikerin, die für Stens Visitenkarten zuständig war, da ich mich gut mit ihr verstanden habe und ich gern die aufkeimende Freundschaft zwischen uns pflegen würde. Doch dann verwerfe ich den Gedanken wieder, da ich gerade alles andere als eine gute Gesprächspartnerin abgeben würde. In meinem gedanklichen Terminkalender vermerke ich, sie demnächst zu kontaktieren.
Ich entscheide mich letzten Endes dafür, meinen Tee zu trinken und eine Serie zum gefühlt zehnten Mal von vorn anzusehen. Immerhin weiß ich, was da passiert und werde nicht von bösen Überraschungen überfallen...
...
Am nächsten Tag muss ich in die Arbeit und ich könnte mich nicht weniger bereit dafür fühlen. Trotzdem mache ich mich mit der gleichen Effizienz fertig, wie ich es immer tue, binde meine Haare zu einem hohen Dutt zusammen – der durch meine Locken einfach immer irgendwie ungebändigt aussieht, egal was ich mache – und verlasse das Haus.
Angekommen, will ich mich schon an die Arbeit machen, werde jedoch von Wilhelm direkt aufgehalten. »Florentina, hast du einen kurzen Moment für mich, bevor du anfängst?«, fragt er, ein freundliches Lächeln im Gesicht. O Gott, hoffentlich geht es nicht um Sten.
»Klar«, gebe ich mit einem eingefrorenen Lächeln zurück und spüre bereits, wie ich zu schwitzen beginne, wobei ich noch nicht mal mit der Arbeit begonnen habe.
Ich passe mich an seinen gemächlichen Schritt an, obwohl ich am liebsten rennen würde, um es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. ›Was, wenn der Krebs schlimmer geworden ist?‹, schießt es mir durch den Kopf. Dann will ich doch lieber was über Sten hören...
»Setz dich ruhig, es geht schnell«, sagt er und deutet auf den gepolsterten Stuhl vor seinem wuchtigen Schreibtisch. Ich tue, wie mir geheißen und sehe ihn erwartungsvoll an. Wilhelm faltet bedächtig seine Hände und legt sie leise seufzend auf dem Tisch ab.
»Also, es geht um zwei Dinge. Zum einen wollte ich dich auf dem Laufenden halten, was meine Krebstherapie betrifft: Ich habe noch einige Untersuchungen vor mir und in etwa zwei Wochen beginnt die Chemotherapie. Bis dahin werde ich mich mit dir noch über die Einzelheiten unterhalten, was deine Arbeit betrifft. Im Grunde genommen ändert sich für dich nicht viel, aber darüber reden wir zu einem späteren Zeitpunkt nochmal.« Ich nicke langsam und verarbeite die Informationen.
»Okay, nun zu etwas Erfreulicherem: Ich bin am Samstag auf einer Wohltätigkeits-Gala eingeladen. Auf der Einladung ist vermerkt, dass ich noch drei weitere Personen mitbringen darf. Ich würde mich sehr freuen, wenn du eine von ihnen wärst.«
Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. »Ähm... was zieht man denn da an?«, stammele ich überrumpelt. Nun grinst Wilhelm. »Legere Abendrobe, konnte ich der Einladung entnehmen. Also klein Ballkleid, oder dergleichen.«
»Tja, das ist blöd. Ich besitze leider keine Kleidung, die für einen solchen Anlass angemessen wäre«, gebe ich zu bedenken, doch Wilhelm winkt nur ab. »Ach, daran soll es nun wirklich nicht scheitern. Ich vereinbare einen Termin mit Angela, meiner Schneiderin. Hast du morgen Zeit?«
»Wa- Wilhelm, du musst mir kein Abendkleid zahlen! Ich treibe schon irgendwas auf.«
»Mach dir keine Gedanken darum, wirklich. Sieh es einfach so, dass du mir damit einen Gefallen tust, wenn du mich zu einem Event begleitest, wo ich kaum eine Menschenseele kenne – um dir zu ermöglichen, mir diesen Gefallen tun zu können, werde ich dir ein Kleid organisieren... außer du möchtest einen Anzug tragen, das wäre auch möglich. Was sagst du?«
Ich lasse mir seine Worte kurz durch den Kopf gehen, dann nicke ich schließlich. »Kleid wäre schön«, bringe ich heraus. Er nickt zufrieden. »Freut mich, dass du mein Angebot annimmst. Betrachte es mal so: Mir macht es Freude, dir meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen dafür, dass du all die Jahre so gut und gewissenhaft für mich arbeitest.«
Ich schenke ihm ein verhaltenes Lächeln und nicke dankbar. Allerdings weicht dieses Lächeln sehr schnell von meinen Lippen, als ich merke, dass er noch irgendwas zurückhält. »Du willst noch was sagen«, stelle ich schwach fest. Ich habe das Gefühl, dass mir das alles andere als gefallen wird...
Wilhelm seufzt. »Scheinbar habe ich kein besonders gutes Pokerface. Ja, da ist etwas, das ich dir nicht vorenthalten möchte.« Er kratzt sich verlegen an der Augenbraue und in diesem Moment erinnert er mich so sehr an Sten, dass es wehtut. Rasch blicke ich weg.
Als hätte ich ihn mit meinen Gedanken heraufbeschworen, sagt Wilhelm: »Mein Sohn wird auch da sein. Ich habe von eurem... Zerwürfnis gehört. Es tut mir sehr leid, denn ich bin nicht unschuldig daran. Auf mich ist er gerade auch nicht gut zu sprechen. Aber ich möchte nicht weiter darauf eingehen, außer du willst darüber reden?«
Entschieden schüttle ich den Kopf.
»Das dachte ich mir bereits. Wie dem auch sei, Sten wird auch anwesend sein. Ich hoffe sehr, Florentina, dass dich das nicht davon abhalten wird, an der Gala teilzunehmen?«
Ich öffne schon den Mund, um ihm zu sagen, dass ich dadurch in der Tat nicht teilnehmen möchte... doch dann überlege ich es mir anders. »Äh, nein, ich würde trotzdem gern dabei sein.«
»Sehr schön, das freut mich.«
Wir verabschieden uns fürs Erste voneinander und ich mache mich an die Arbeit.
Während ich den Esstisch abwische, hänge ich meinen (etwas düsteren) Gedanken nach. Ich werde nicht zulassen, dass diese Sache mit Sten mich davon abhält, Spaß zu haben! Dann werde ich ihn eben den Abend über ignorieren, was ist schon dabei?
Ich verstehe, dass ich falsch gehandelt und sein Vertrauen missbraucht habe... aber ehrlich gesagt, finde ich es im Nachhinein auch verdammt unverschämt von ihm, mit mir befreundet sein zu wollen ohne den Teil mit der Beziehung.
Es ist die bequemste Lösung. Er müsste sich nicht von mir verabschieden, aber auch kein Risiko eingehen. Zumindest sehe ich das so.
Wer weiß, vielleicht bin ich da auch einfach nur falsch abgebogen und im Unrecht. Vielleicht hat auch keiner von uns beiden recht oder unrecht.
Auf jeden Fall spüre ich durch diese überwältigende Traurigkeit Wut hindurchschimmern. Eine willkommene Abwechslung.
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