Kapitel 41
Mein Verstand arbeitet auf Hochtouren. Was ist der Grund dafür, dass sie mir diese tragische Geschichte aus ihrer Vergangenheit erzählt? Will sie dadurch von unserem Streit ablenken?
Nicht, dass ich das zu hundert Prozent ausschließen würde, aber eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen.
Etwas gefasster löst sich meine Mutter wieder von mir. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie schließlich schniefend: »Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dir diese Sache gerade jetzt erzähle.«
Gedehnt entgegne ich: »Das ist wahr.«
»Nun, einen bestimmten Grund gibt es dafür nicht direkt, aber... ich weiß auch nicht wie ich es erklären soll. Ich denke, es hat damit zu tun, dass durch unseren Streit alte Verlustängste in mir hochgekommen sind. Das ist zumindest einer der Gründe, denke ich. Klingt das logisch, was ich sage?« Bevor ich darauf antworten kann, schüttelt sie rasch den Kopf. »Blödsinn, wahrscheinlich muss sich das reichlich wirr anhören für dich.«
Zögerlich sage ich: »Also eigentlich... klingt das schon nachvollziehbar.« Ich bin es nicht gewohnt, dass meine Mutter so... reflektiert und bedacht ist. Ich weiß nicht, ob sie irgendeine Art von Veränderung durchgemacht hat, oder ob das lediglich damit zusammenhängt, dass wir bisher nicht so viel Zeit darauf verendet haben, auf emotionaler Ebene miteinander zu kommunizieren. Wir haben uns wahnsinnig lieb, aber das Verhältnis zu meiner Mom könnte trotzdem besser sein.
Vielleicht ist genau jetzt der Moment gekommen, um das zu ändern.
»Erzähl mir von deiner Schwester«, bitte ich sie.
Sie sagt darauf nichts, doch irgendwann nickt sie. »Das ist vermutlich eine gute Idee.« Nach diesen Worten verfällt sie wieder in Schweigen.
Ich bin unglaublich angespannt, da ich nicht verhindern kann, dass mich die Angst vor dieser tragischen Geschichte wie eine unbarmherzige Welle mitreißt. Dennoch versuche ich mir davon nichts anmerken zu lassen, um meiner Mom den nötigen Raum zu geben, um sich zu sammeln. Es muss verdammt hart sein, nochmal darüber zu sprechen und ich bin mir nicht ganz sicher, was diese Geschichte mit mir machen wird, nachdem ich sie gehört habe.
Doch mir ist klar, dass dieser Teil unserer Familiengeschichte nun erneut ans Licht kommen muss. Und wenn es stimmt, dass meine Tante und ich uns ähneln, bin ich mir sicher, dass sie ebenfalls gewollt hätte, dass ich es weiß... und vor allem, dass ihr Tod nicht wie ein Tabuthema behandelt wird.
»Ich habe dir ja vorhin von den – aus heutiger Sicht – absurden Erwartungen erzählt, die unsere Verwandtschaft früher an junge Frauen in unserem Alter damals hatte?« Ich nicke.
»Giovanna kam damit nicht klar. Als wir etwa im Teenageralter waren, ging ihre psychische Gesundheit rapide in den Keller. Damals gab es noch kein richtiges Bewusstsein für sowas. Psychische Probleme waren ein Tabuthema. Ich habe Giovanna versucht zu helfen, so gut ich konnte, aber... ich konnte anscheinend nicht gut genug helfen.« Ihre Stimme bricht. Mein Herz bricht.
»Es stand nicht in deiner Macht. Du kannst rein gar nichts für das was passiert ist, das ist dir klar, oder?«
Sie nickt langsam und lächelt traurig. »Ja, das sagt meine Therapeutin auch immer zu mir. Weißt du, hier drinnen weiß ich das...« Sie tippt sich auf die Stirn. »... aber da drinnen nicht.« Nun wandert ihr Finger zu ihrem Herzen.
Himmel, das macht mich so traurig.
Müde seufzt sie. »Wie auch immer. Sie ist schnell zum schwarzen Schaf der Familie geworden, hat sich irgendwann leider mit Leuten eingelassen, die nicht gut für sie waren und ist ziemlich... abgestürzt. Auch, wenn das kein schönes Wort ist.«
»Hat sich denn niemand aus der Familie um sie gesorgt?«, will ich schockiert wissen.
»Nicht auf die Weise, wie sie es gebraucht hätte, nein. Es hat viel an Liebe und Verständnis gefehlt. Das hat sie schließlich in den Tod getrieben, denke ich. Rückblickend vermute ich auch, dass sie klinisch depressiv gewesen ist, aber ich bin mir nicht sicher.«
Ich traue mich nicht zu fragen, was die genauen Umstände ihres Todes waren, doch meine Mutter erzählt dies von selbst: »Eines Abends ist Giovanna, welche zu dem Zeitpunkt ungefähr die vergangenen zwei Jahre nicht mehr richtig mit mir gesprochen hat, auf mich zugekommen. Ich habe mich riesig gefreut und mir nichts dabei gedacht.«
Mein Gefühl sagt mir, dass wir nun an dem schwierigen Teil der Geschichte angelangt sind. Meine Mutter schluckt sichtlich und versucht ihre Tränen zurückzuhalten.
»Sie... wollte mit mir spazieren gehen. Es war zwölf in der Nacht, musst du wissen. Sie kam in ihrem Nachthemd zu mir und hat mich geweckt. Zu dem Zeitpunkt war sie neunzehn Jahre alt, ich einundzwanzig. ›Komm, los, wir gehen raus!‹, das waren ihre genauen Worte, ich werde es nie vergessen. Ich habe mich so gefreut, dass ich gar nicht dazu kam, mich über ihr Verhalten zu wundern.«
In meinem Magen bildet sich ein eiserner Knoten. »Bitte sag mir nicht, dass du ihren Tod mitansehen musstest.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nicht ganz... dazu komme ich gleich.«
NICHT GANZ?!, schreit es in mir, doch da redet sie schon weiter: »Ich habe mir also meine Schlappen angezogen und wir haben uns an unseren Eltern und Federico vorbei aus dem Haus geschlichen. Das war furchtbar aufregend. Wir sind durch die Gegend spaziert, zum Meer runter, haben eine Wasserschlacht gemacht... es war wirklich schön. So wie früher, als wir jünger waren.« Die Stimme meiner Mutter klingt seltsam dünn. Ich ertappe mich dabei, wie ich extrem flach atme, aus Angst, ein zu starker Lufthauch könnte sie daran hindern, weiterzuerzählen.
»Wir waren insgesamt vielleicht eine Stunde unterwegs. Auf dem Heimweg hat sie sich bei mir untergehakt und wir haben geredet. Sie hat mir gesagt, wie leid es ihr tut, dass sie die letzten Jahre so unzugänglich war. Wie lieb sie mich hat. Wie toll ich bin. Hat mir gut zugeredet, dass ich alles schaffen würde, was ich mir vornehme. Das alles gut werden wird. Und sie hat noch ungefähr tausend Mal beteuert, wie sehr sie mich liebt.«
Meine Mom vergräbt den Kopf in den Händen und atmet tief durch. »Gott, ich hätte wissen müssen...«, dringt ihre Stimme gedämpft hervor. Schließlich richtet sie sich wieder auf und atmet tief durch.
»Ich bin förmlich zurück in mein Zimmer geschwebt, nachdem wir uns verabschiedet hatten. Ich war so froh, meine kleine Schwester wieder zurückzuhaben... irgendwann, genau in dem Moment als ich dabei war, einzuschlafen, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Ich werde dieses Gefühl niemals vergessen... als wäre ein Blitz durch meinen gesamten Körper gefahren. Ich bin panisch aus meinem Bett gestolpert und auf dem Weg zu Giovannas Zimmer immer wieder hingefallen...«
Meine Mutter kann ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Weinend erzählt sie weiter: »Ich habe nicht mehr geklopft, sondern einfach ihre Tür aufgerissen. Sie lag am Boden und war schon tot. Es war... die Sanitäter haben gesagt... es war eine Überdosis Medikamente und dazu Alkohol.« Die letzten Worte sind nur noch ein Schluchzen.
Ich rutsche zu meiner Mutter und nehme sie in den Arm, während sie weint. Ich spüre, wie mir ebenfalls Tränen über die Wangen laufen, doch ich versuche, sie zurückzuhalten. Ich will jetzt nicht, dass sie mich weinen sieht.
Während ich meine Mutter tröste, frage ich mich, ob Giovanna gerade auf uns herunterschaut.
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