Kapitel 39
In den nächsten Tagen funktioniere ich wie auf Autopilot.
Ich gehe zur Arbeit. Kaufe Lebensmittel ein. Halte die Wohnung sauber. Esse. Trinke. Kümmere mich um meine Körper-Hygiene.
Leider erreiche ich irgendwann den Tag aller Tage: Sonntag. Da habe ich in den meisten Fällen frei, so auch heute.
Ich gestatte es mir nicht, auch nur einen Gedanken an Sten zu verschwenden...
Gut, das ist eine Lüge. Ich denke die ganze Zeit an ihn. Aber nicht so viel, dass es ungesund oder besorgniserregend wäre...
Okay, gut, auch das war eine Lüge. Scheiße nochmal.
Als ich heute morgen aus einem sehr tiefen, wirren Mittagsschlaf erwache, weiß ich für fünf honigsüße Sekunden nicht, was letztens passiert ist. Natürlich prasselt jedes einzelne Detail direkt danach erbarmungslos wie ein Wasserfall auf mich nieder. Sten ist nicht mehr in meinem Leben. Toll.
Gerade als ich mich halbherzig und noch sehr verschlafen der Suche meines Handys widme, klingelt es plötzlich an der Tür. Sten. Es ist Sten!
Ich gestatte es meinem dummen Hirn doch tatsächlich, sich allerlei Szenarien auszudenken, die alle in irgendeiner Form damit zu tun haben, dass er mich anfleht, mit ihm zusammen zu sein.
Als ich jedoch die Gegensprechanlage betätige, werde ich extrem unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
»Florentina, ich bin es. Mach auf, cara.«
Ich spiele mit dem Gedanken, sie einfach vor der Tür stehen zu lassen. Nicht, weil ich noch sauer bin. Das stimmt zwar ein wenig, aber mittlerweile kann ich mich nicht mal mehr richtig daran erinnern, warum ich so sauer auf sie war. Das mag daran liegen, dass eine Menge anderer Dinge passiert sind, die mich komplett aus der Bahn geworfen haben.
Okay, es war eine bestimmte Sache. Aber wer ist schon so genau?
Meine Mutter ist entweder bereits gegangen oder wartet geduldig darauf, dass ich ihr öffne, denn von ihr kam in den letzten dreißig Sekunden kein einziger Ton. Die andere Möglichkeit wäre natürlich auch noch, dass die beschissene Gegensprechanlage wieder herumspinnt.
Mit zusammengekniffenen Augen betätige ich den Türöffner und lausche. Ich kann es kaum glauben, doch es sind tatsächlich die Schritte meiner Mutter, die ich höre. Zumindest gehe ich schwer davon aus. Dass ihr Stolz es ihr überhaupt möglich gemacht hat, zu mir zu kommen, ist auch schwer zu fassen.
Doch als ich sicherheitshalber noch einen Blick durch den Türspion werfe, sehe ich ihre sorgfältig geglättete, braun-blond gefärbte Mähne. Meine Mutter hat so viel Haar auf dem Kopf, dass die Frisöre regelrecht an ihr verzweifeln. Als ich das charakteristische Augenrollen in Kombination mit diesem ganz speziellen, missbilligenden Schnalzen ihrer Zunge sehen kann, bin ich mir sicher, dass es sie ist.
Scheint, als käme der Oberlord der Elfen, die meinem verrückten Vermieter nach im schimmelfeuchten Keller unter diesem Gebäude leben, ein andermal, um mich abzuholen.
Mit schwitzigen Händen öffne ich die Tür. Meine Mutter blitzt mich aus mit schwarzem Eyeliner-umrandeten, dunklen Augen an. »Das hat aber gedauert. Willst du, dass ich mir hier die Grippe hole? Warum ist es so kühl in deinem Treppenhaus?«
»Das haben Treppenhäuser so an sich«, murmle ich und trete beiseite, um sie hereinzulassen. Pikiert hebt sie die im Stil der 90-er Jahre dünn gezupften Brauen. »Das Treppenhaus von Enrico ist beheizt, hat mir Mariella mal erzählt.« Ich verdrehe die Augen und schließe die Tür hinter ihr. »Erstens, verdient Enrico in einer ganz anderen Preisklasse als ich, zweitens, könnte es mich wirklich nicht weniger interessieren, was Enrico hat oder nicht hat...«
»Ich meine ja nur«, murmelt sie dazwischen.
»... und drittens, ist er ein aufgeblasenes Arschloch.«
Wie zu erwarten war, schnappt meine Mutter schockiert nach Luft. Nicht, weil sie wirklich überrascht von den Worten ist, die meinen Mund verlassen, sondern weil es sich nicht gehört, so zu reden. Schätze, meine anfängliche Nervosität hat sich wieder verabschiedet. Die gewohnte Dynamik zwischen meiner Mutter und mir nimmt anscheinend wieder Fahrt auf.
Leider ist es nur so, dass ich absolut keine Lust mehr darauf habe.
»Möchtest du etwas trinken?«, frage ich sie, als sie sich auf die Couch gesetzt hat. Mit gerunzelter Stirn sagt sie: »Die ganze linke Seite von deinem Sofa ist durchgesessen! Um Himmels Willen, du könntest dich an den Federn aufspießen! Weißt du, Angelinas Enkelin ist genau das pas–«
»Trinken, ja oder nein?«, interveniere ich genervt. »Wasser bitte«, antwortet meine Mutter schließlich beleidigt.
Ich suche nach einer Flasche Wasser, kann allerdings nirgends eine finden. Schließlich sehe ich eine zu Dreiviertel leere im Kühlschrank. Ich hole sie heraus und gieße den Inhalt in das beste Glas, das ich besitze. Die Kohlensäure ist natürlich bereits zum größten Teil raus, aber es ist besser als gar nichts.
Ich stelle das Glas hin und meine Mutter nimmt einen Schluck. Sie verzieht zwar den Mund, sagt aber nichts. Wenigstens etwas. Ich würde fast so weit gehen, das als einen Fortschritt zu betrachten.
»Ich habe dich lang nicht gesehen«, murmelt meine Mutter in ihr Glas Wasser hinein.
»Weißt du auch, warum?«, frage ich sie. Sie hebt die Schultern. »Weil du zu stur bist, um einzusehen–«
»Stopp!«, unterbreche ich sie scharf. Verwundert hält sie tatsächlich inne. Normalerweise schlage ich so einen Ton nicht bei meiner Mutter an.
Mit mühsam zurückgehaltener Wut sage ich: »Der Grund, warum du so lange nichts von mir gehört oder gesehen hast, ist einfach: Du respektierst meine Grenzen nicht. Wenn ich dir erzähle, dass mir der Umgang der Familie mit meiner Privatsphäre unangenehm ist, will ich von dir nicht hören, dass das nun mal so ist. Ich wünsche mir, dass du dich in meine Lage hineinversetzt und mir zuhörst. Ich möchte, dass du mich respektierst. Und was ich schon gar nicht akzeptierte, ist mir sagen zu lassen, ich soll mich nicht so anstellen. Nicht einmal von meiner eigenen Mutter. Verstehst du das?«
Während meines kleinen Monologs ist die ohnehin schon blasse Gesichtsfarbe meiner Mutter fast schon zu einem kränklichen Weiß gewechselt.
Ich halte es ihr jedenfalls zugute, dass sie meine Worte sacken lässt und nicht sofort mit mir zu streiten anfängt.
Ihr Mund öffnet sich langsam und schließt sich wieder. Sie räuspert sich. Als sie dann zu sprechen beginnt, klingt ihre Stimme ungewohnt schwach.
»Ich denke, ich sollte dir eine Geschichte erzählen.«
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