Kapitel 20
Ich kann nichts dagegen tun: Tränen verschleiern mir die Sicht. So wenig man das vielleicht auch von mir erwarten würde, ich bin ein sehr emotionaler und sensibler Mensch. Ich weiß, meine Klappe ist groß, aber ich würde niemals die Grenzen eines anderen Menschen ignorieren und permanent überschreiten, wie meine Mutter das tut.
Ich umschlinge meine Knie mit meinen Armen und rolle mich auf dem Sofa zu einer Kugel zusammen. Plötzlich kommt mir die Wohnung so unfassbar leer vor. Meine Atmung geht schneller und schneller. Hier ist niemand. Ich bin ganz allein.
Mein Atem hallt laut von den Wänden wider, welche immer näher und näher zu kommen scheinen. Ich bin vollkommen allein.
Der nüchterne Teil meines Gehirns animiert mich dazu, mein Handy in die Hand zu nehmen und jemanden, irgendjemanden, anzurufen. ›Was für ein schlechter Witz‹, denke ich bitter. Wen soll ich schon anrufen? Meine Familie kann ich offensichtlich nicht anrufen.
Plötzlich wird mir etwas klar.
Ich verschlossenes Miststück habe in meinem Leben nie jemanden nah genug an mich rangelassen, der mich in einer solch verletzlichen Situation wie dieser unterstützen könnte.
Stur versuche ich meine Atmung in den Griff zu bekommen, scheitere dabei jedoch kläglich. Schließlich muss ich mir meine Niederlage eingestehen. Mit zittrigen Fingern greife ich nach meinem Handy und tippe ohne zu Zögern auf einen ganz bestimmten Kontakt.
»Florentina?«, meldet sich Sten mit rauer Stimme. Er klingt, als hätte er schon geschlafen.
Ich bringe kein Wort über die Lippen. »Florentina? Hörst du mich?«, fragt er. Ich hole krampfhaft Luft und bekomme einen erstickten Laut heraus, der mit etwas Fantasie nach einem ›Hallo‹ klingen könnte.
»Was ist passiert? Wo bist du?« Auf einmal klingt Sten wesentlich wacher. In seiner Stimme schwingt nun deutlich Panik mit und ich verspüre unwillkürlich ein schlechtes Gewissen.
»Zu Hause«, flüstere ich und bin mir sicher, dass er mich nicht hören kann. Doch scheinbar konnte er mich doch verstehen, denn er fragt: »Bist du in Gefahr?«
Ich schüttle den Kopf und sage dann mit so fester Stimme wie möglich: »Nein.«
Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann sagt Sten: »In Ordnung. Gib mir bitte deine Adresse durch. Ich fahre zu dir.«
Bevor ich protestieren kann, legt er auf. Ratlos und noch immer völlig aus der Fassung starre ich auf das Handydisplay in meinem Schoß. Sten will zu mir fahren. O Gott...
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. Habe ich soeben allen Ernstes den Sohn meines Chefs aus dem Schlaf gerissen, weil ich einen emotionalen Breakdown habe? Noch steckt mir das, was vermutlich eine Panikattacke war, zu tief in den Knochen, als dass ich mich dafür schämen könnte. Außerdem bin ich auch irgendwie froh, nicht mehr allein sein zu müssen. Selbst, wenn es nur Sten ist, der vorbeikommt. Ich hoffe so sehr, dass ich das nicht bereuen werde.
Mein Handy gibt einen Signalton von sich. »Deine Adresse?« Mehr steht da nicht. Ich beiße mir gestresst auf die Unterlippe. Dann nicke ich mir selbst resigniert zu und leite ihm meine Adresse weiter.
Ich habe keine Ahnung, von wo aus er losfährt. Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, ist, dass es bereits zehn Minuten später an meiner Haustür klingelt. Ich betätige den Türöffner und versichere mich mit einem Blick durch das Guckloch an meiner Apartmenttür, dass es tatsächlich Sten ist. Ich lasse ihn rein.
Sobald ich ihm gegenüber stehe, sehe ich die wahre Intensität der Sorge, die ich bereits in seiner Stimme beim Telefonat gehört habe. »Hallo. Sorry«, murmle ich. Mir fällt beim besten Willen nichts besseres ein.
Sten geht nicht darauf ein und schaut mich nur weiterhin mit einem Blick an, der mir aus irgendeinem Grund Gänsehaut über die Arme treibt. Mein Mund öffnet sich unwillkürlich, um mehr Luft in meine Lungen lassen zu können. Seine Schönheit – ja, Schönheit ist das passende Wort – raubt mir den Atem, selbst jetzt. Doch sobald ich auch nur eine Sekunde an das Gespräch mit meiner Mutter denke, steigen mir wieder die Tränen in die Augen.
»Florentina.« Mein Name aus seinem Mund klingt wie eine Feststellung. Ich erinnere mich nicht daran, dass mein Name jemals schöner geklungen hat.
Schniefend zwinge ich mich dazu, den Blick abzuwenden. Ich drehe mich um und höre, wie Sten die Tür schließt, bevor er mir folgt.
ich lasse mich aufs Sofa nieder und Sten setzt sich neben mich, etwas Abstand zwischen uns lassend. Dann stutzt er. »Diese Stelle ist etwas durchgesessen.« Ich verdrehe die Augen und muss gleichzeitig ein Lächeln unterdrücken. »Das liegt daran, dass nicht jeder so reich ist, wie du. Ich habe diese Couch mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin gebraucht gekauft.«
Ich muss ihm zugute halten, dass er sitzen bleibt. Stens Gesichtsausdruck drückt nämlich aus, dass er eher die Schuhsohlen meiner Sneaker im Flur ablecken wollen würde, als weiter hier sitzen zu bleiben.
Er schüttelt den Kopf. »So hatte ich das nicht gemeint, bitte entschuldige. Ich habe mich lediglich gewundert, das ist alles.«
Ich schnaube. »Sie ist am liebsten auf dieser Stelle gesessen.«
Seine geraden, dunkelblonden Brauen wandern in die Höhe. »Hier? Wo ich sitze?« Ich nicke.
»Klingt mir nach einer Psychopathin.«
»War sie auch. Irgendwie.«
Ich wische mir über das Gesicht, um den letzten Rest an Tränenspuren zu beseitigen. Sten entgeht das nicht. In einer verlegenen Bewegung streicht er sich über die locker sitzenden Jeans und zupft anschließend am Saum seines schlichten, weißen T-Shirts. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihn noch nie in so entspanntem Aufzug gesehen habe.
»Schick siehst du aus«, merke ich an. Meine Stimme klingt immer noch reichlich verschnupft. Eine verlegene Röte zieht sich über seine Wangen. »Danke. Ich... fühle mich im Anzug wohler.« Da es ein heikles Thema zu sein scheint, reite ich nicht weiter drauf rum.
Seufzend nehme ich die kurze, flauschige Decke vom Sofa und wickele mich darin ein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zumal wir gerade Hochsommer in New York City haben, doch gerade ist es dank der Klimaanlage und meiner frostigen Stimmung kalt genug für eine Kuscheldecke.
»Florentina... was kann ich für dich tun?«
Ich zucke niedergeschlagen die Schultern. »Einfach da sein.«
Sten lächelt sanft. »Das lässt sich einrichten.«
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