
Kapitel 2
»Ich soll bitte was machen?«, rufe ich.
Wilhelm faltet bittend seine Hände. Scheiße, das habe ich ihn noch nie tun sehen. Ich denke, er geht auch nicht zur Kirche. Er ist einfach nicht der Typ dafür, seine Hände zu falten, Himmel! Es muss ihm wirklich verdammt ernst sein.
»Bitte«, sagt er jetzt, seine Geste unterstreichend. Fast kommt er mir trotz all der Ernsthaftigkeit der Situation wie ein Kleinkind vor, das um einen Kirschlolli bettelt. Verwirrt blinzele ich. Dann schüttle ich den Kopf, die Hände abwehrend erhoben.
»Das ist... nein. Einfach nein.«
»Aber warum denn nicht?«, fragt Wilhelm jetzt mit einer Verzweiflung in der Stimme, die ich von ihm sowas von gar nicht gewohnt bin.
Fassungslos starre ich ihn an. »Naja, vielleicht weil das absurd ist?! Schließlich sind wir nicht mehr im Kindergarten! Dein Sohn ist meines Wissens nach ein erwachsener Mann und durchaus dazu in der Lage, allein für seine sozialen Kontakte zu sorgen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sten dieser ganze Zirkus ganz sicher nicht gefallen würde.«
»Ja, das mag das sein. Aber ich denke, er merkt gar nicht, wie er dabei ist, vollkommen abzurutschen.«
Wortlos sehe ich meinen Arbeitgeber an, überlegend, was ich als nächstes sagen soll. Obwohl wir ein so joviales, gutes Verhältnis haben, ist er natürlich immer noch mein Boss. Ich würde ihm zwar nicht zutrauen, mich zu feuern, wenn ich nicht einwillige, aber... nun ja. Man weiß nie.
Ich arbeite schon seit ich achtzehn Jahre alt bin. Mir sind in den letzten sieben Jahren schon mehr scheinheilige Vorgesetzte untergekommen, als ich an meinen beiden Händen abzählen könnte. Nicht, dass ich Wilhelm für scheinheilig halte. Aber eins ist sicher: Man kennt einen Menschen eben niemals zu hundert Prozent.
Bevor ich das Wort ergreifen kann, spricht Wilhelm weiter: »Mir ist bewusst, dass es wirklich viel verlangt ist. Ich will eigentlich auch gar nicht so ein Vater sein, der sein Kind bevormundet – habe ich bisher auch nie getan!«
Zweifelnd fixiere ich den älteren Mann. Dieser bricht den Blickkontakt und murmelt schmollend: »Gut, vielleicht habe ich das ein oder zwei Mal doch gemacht.«
»Dann mach es doch kein drittes Mal«, schlage ich nonchalant vor. Er winkt ab.
»Ach, wir müssen jetzt doch nicht mit dem Zählen anfangen. Jedenfalls ist Sten ein sehr erfolgreicher, angesehener Mann, der sich selbst die Gegenwart und Zukunft verbaut, weil er es ablehnt, andere Menschen in sein Leben zu lassen. Ich wollte dich doch nur bitten, es wenigstens mit ihm zu versuchen.«
Ich seufze. Wenn ich Wilhelm so anschaue, kann ich ihm die Sorge um seinen Sohn förmlich vom Gesicht ablesen. Ich kann praktisch spüren, wie mein Herz weicher und weicher wird. Bis es irgendwann so weich wie ein in der Sonne vergessener Marshmallow ist. Verflucht nochmal!
»Wie genau stellst du dir das überhaupt vor?«, frage ich ihn. Sofort erhellt sich seine Miene und er richtet sich auf. »Das wäre kein Problem! Selbstverständlich würde ich deine Arbeitszeiten kürzen und auch deinen Gehalt anpassen–«
»Moment!«, unterbreche ich ihn. Ich muss zugeben, dass ich schon etwas hellhörig geworden bin, als er die Worte ›deinen Gehalt anpassen‹ in den Mund genommen hat, aber...
Ich schüttle den Kopf. »Das bedeutet nicht, dass ich es tue! Ich wollte nur aus reiner Neugier wissen, wie du dir das denn vorstellen würdest.«
Wilhelm wackelt mit den buschigen Augenbrauen. Eine Mimik, die mich vermutlich noch in meinen Albträumen verfolgen wird, da sie einfach so... merkwürdig aussieht, in seinem alten, vornehmen Gesicht.
»Hör auf so komisch zu gucken«, brumme ich. Leise lachend kommt er meiner Aufforderung nach.
»Ist ja in Ordnung. Um deine Frage zu beantworten: Ich dachte mir, dass ich euch beide dazu beauftrage, Akten vom einen Firmengebäude unserer Firma ins andere zu tragen.«
»Ähm... ich will ja nicht unhöflich sein, aber... wir leben nicht mehr in den Achtzigern. Heutzutage kann man das auch elektronisch erledigen. Oder zumindest per Kurier.«
Wilhelm jedoch winkt nur ungeduldig ab. »Ja, ja, das weiß ich doch. Aber Sten weiß nicht, dass ich es weiß. Er mag zwar verschroben sein, aber seinem alten Herrn würde er niemals einen Gefallen abschlagen.«
»Wird er sich aber nicht fragen, warum du zwei Leute dafür brauchst?«
Er zuckt die Schultern. »Der arrogante Mistkerl denkt wahrscheinlich sowieso, dass ich langsam senil werde. Er wird sich rein gar nichts fragen.« Wilhelm sagt das mit einem sehr breiten Grinsen im Gesicht, was seinen Worten etwas die Schärfe nimmt. Trotzdem werde ich einfach den Eindruck nicht los, dass ein Kern Wahrheit in ihnen steckt.
Ich puste einen Schwall Luft aus, maßlos überfordert mit der Situation. »Ich weiß ja nicht...«
»Aber ich weiß es! Bitte tu diesem alten Mann doch einen Gefallen.«
»Ha, ha, witzig. Du weißt genau, dass diese Masche null bei mir zieht.«
»Und wie sieht es mit dem Geld aus?«
Ich grinse. »Diese Masche zieht schon eher bei mir.«
Uns beiden ist klar, dass wir nur witzeln. Mit oder ohne Geld, ich helfe Wilhelm gern – was ich in der Vergangenheit sogar mehr als nur einmal getan habe. Wir verstehen uns gut und er ist ein sehr fairer, angenehmer Arbeitgeber. Ich helfe ihm also gern – für gewöhnlich.
Was ich in dieser speziellen Situation nun tun soll, ist mir allerdings ein Rätsel. Was ist die richtige Entscheidung?
Ich lebe in letzter Zeit wirklich am Limit, da meine Mitbewohnerin ohne Vorwarnung ausgezogen ist, um bei ihrem Freund zu wohnen. Das Geld für die Miete und dafür, dass ich nicht verhungere, kann ich gerade noch so zusammenkratzen. Wilhelm bezahlt mir ohnehin schon sehr viel mehr, als ich als Putzkraft woanders verdienen würde. Außerdem bin ich einfach viel zu stolz, um ihn um finanzielle Hilfe zu bitten. Es wäre also wirklich nicht schlecht, etwas mehr Geld zu haben.
Andererseits ist es erstens, komisch mich dafür bezahlen zu lassen, mich mit jemandem anzufreunden und zweitens, weiß ich gar nicht, was für ein Mensch dieser Sten ist. Es kann ja auch gut sein, dass er absolut unerträglich ist und mir im Nachhinein die Option, jeden Tag trockenen Toast zu essen doch angenehmer erscheint.
»Ich sehe, du überlegst es dir. Das freut mich.«
»Freu dich nicht zu früh«, brumme ich. Verdammt, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.
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