24.
Song: This Christmas - Oh Wonder
Harper's P.O.V.
Die Ruhe nach dem Sturm.
Ich sitze auf dem Sofa, die Beine lang von mir gestreckt und starre auf den schiefen Tannenbaum mit den Strohsternen.
Es ist die Ruhe nach dem Sturm, denn Mom, Dad, Holly und Nicole sind gerade nach oben verschwunden.
Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht und die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster ist aus. Alles, was mir hinter der Scheibe entgegen klafft, ist ein schwarzes Loch, in dem ich mich selbst widerspiegle.
Es war klar, dass die Wahrheit irgendwann rauskommt. Nur habe ich nicht damit gerechnet, dass es in der Weihnachtsnacht passiert.
Elliot steht noch immer neben der Tür. Ich spüre seine Augen auf mir und hebe den Blick.
"Tja", seufzt er. "Jetzt wissen sie es wenigstens."
"Wenig aufmunternd", schnaube ich und starre wieder geradeaus.
Ich fühle mich einfach nur schlecht. Und so sollte man sich zu dieser besonderen Zeit im Jahr nicht fühlen.
Ich sollte von Vorfreude und Dankbarkeit erfüllt sein, aber die Wahrheit ist, dass ich gerade einfach nur weinen möchte.
Mit diesen letzten Tagen im Jahr wird so viel Druck verbunden und ich habe verpasst zu merken, dass ich mir eigenhändig das Fest der Liebe kaputt gemacht habe.
Meine Mutter hatte recht. Warum habe ich ihnen nicht einfach die Wahrheit gesagt?
Tief in mir kenne ich die beschämende Antwort.
Weil ich mich nicht getraut habe. Weil es einfacher war, die Lügen aufrechtzuerhalten und auf Onkel Tonys Tod zu schieben, anstatt meinen Stolz leiden zu lassen.
Selbst während der Konfrontation mit meiner Familie bin ich nicht hundertprozentig ehrlich gewesen.
Ich habe Elliot als meinen neuen Freund dargestellt, dabei ist überhaupt nicht klar, was wir füreinander sind oder in Zukunft sein können.
Das ist einer der Gründe, warum es mir gerade schwerfällt, ihm in die Augen zu blicken, jetzt, wo wir nach einer unendlichen langen Stunde unter uns sind.
Darren hat Granny irgendwann nach Hause gefahren. Beide müssen sich im Stillen darauf geeinigt haben, dass das Gespräch eine Sache zwischen mir, meinen Eltern und Schwestern war.
Ich konnte mich noch nicht mal von Rosie verabschieden und ihr frohe Weihnachten wünschen.
Schritte nähern sich und sofort versteifen sich meine Muskeln.
Dieser Part war schon immer der Schwierigste für mich: das Reden.
"Harper?"
Ich schenke Elliot ein müdes Lächeln.
"Kannst du mir bitte sagen, was los ist?", fragt er. "Ich meine, deine Eltern haben relativ gut reagiert. Wir sind nicht im Streit auseinander gegangen. Sicher, sie werden ein wenig Zeit brauchen, um die Sache zu verdauen, aber sie konnten dich doch Stück weit verstehen. Warum machst du jetzt so ein Gesicht?"
Ein ersticktes Lachen ertönt, es muss von mir kommen.
"Ich habe dich total bloßgestellt. Jetzt bist du mein Freund und..." Ich schlucke.
"Um ehrlich zu sein..." Elliot kommt näher und setzt sich neben mich. "Es gibt schlimmere Dinge, die zu mir gesagt wurden. Vielleicht ist dieser Status für den Moment noch nicht zutreffend, aber ich wäre definitiv nicht abgeneigt, darauf hinzuarbeiten, wenn du verstehst, was ich meine."
Die Lichterkette, die etwas lieblos über unseren Weihnachtsbaum geworfen wurde, zeichnet ein goldenes Licht über Elliots Züge.
Seine Haare liegen wild in seiner Stirn und am liebsten würde ich mich jetzt einfach an seine Schulter lehnen.
"Trotz der späten Uhrzeit glaube ich zu verstehen, was du meinst", lächle ich matt, aber ehrlich.
Seine Worte erwecken die Schmetterlinge in meiner Brust, von denen ich schon längst geglaubt habe, sie seien zu Staub zerfallen.
"Dann können wir doch einfach so tun, als ob deine Familie es schon vor uns wusste", meint Elliot in sanftem Ton.
Ich wünsche mir so sehr, dass er es ist. Der Richtige.
Derjenige, der sogar eine neue Identität annimmt, um mir aus der Patsche zu helfen und durch das halbe Land fliegt, um mit völlig fremden Menschen, das Fest der Liebe zu feiern.
Wenn ich so darüber nachdenke, ist er der Richtige. So etwas hat noch nie jemand für mich getan.
Und noch nie hat sich jemand getraut, mich so offen anzusehen.
So offen, dass ich seine Emotionen an seinen Augen und Lippen ablesen kann.
"Elliot?", hauche ich.
Das Feuer ist heruntergebrannt und so langsam kriecht die kalte Luft meine Beine hoch.
"Ich bin nicht gut in sowas, aber... Es bedeutet mir wirklich viel, was du zu mir gesagt hast. Dass ich intelligent und hübsch bin, meine ich. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt - außer meine Eltern natürlich, aber das zählt nicht."
Verlegen breche ich den Blickkontakt.
"Das zählt schon. Nur auf eine andere Art und Weise."
Ein warmer Arm erscheint um meine Schultern und zieht mich gegen eine noch wärmere Brust. Ich schließe die Augen, nehme einen tiefen Atemzug.
"Danke", flüstere ich.
"Weißt du, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, da habe ich mir gewünscht, dass wir irgendwann so enden."
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und grinse.
"Wie? Auf der Couch meiner Eltern in Colorado, nachdem meine Würde mehr als nur einen Kratzer abbekommen hat?"
Sein Lachen vibriert in meinem Körper.
"Nein. Aber du in meinen Armen, egal wo. Apropos Wünsche: Wollen wir unsere Geschenke schon auspacken? Ich meine, theoretisch gesehen, ist jetzt schon der Weihnachtsmorgen."
Ich überlege kurz und schiele zu dem Berg Geschenken unter dem Baum.
"Wieso nicht", sage ich dann und richte mich auf.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass Elliot mir etwas schenken wird. Aber um so erleichterter bin ich, ihm etwas gekauft zu haben.
Es gibt nichts Schlimmeres, als mit leeren Händen vor jemandem zu stehen, der stolz ein Geschenk präsentiert.
Mein Fake-Boyfriend, der aktuell keinen zutreffenden Titel mehr besitzt, springt auf und klatscht in die Hände.
"Okay." Mit drei Schritten steht er hinter der Tanne und zieht eine mittelgroße Geschenkbox darunter hervor.
"Von mir", sagt er feierlich und überreicht sie mir.
"Dankeschön", lächle ich, bevor ich aufstehe und auch ihm sein Geschenkt gebe.
"Gleichzeitig auspacken?", fragt er mit glänzenden Augen.
Mir war nicht klar, dass er Weihnachten so sehr mag, aber in diesem Moment wird es mir klar.
Elliot ist nicht mitgekommen, weil ihm die Feiertage nicht viel bedeuten oder es ihm egal ist, wo er sie verbringt. Nein, er wollte sie mit mir verbringen und nicht allein sein.
Es dauert einen kleinen Moment, bis ich nicken und mich von seinem Gesicht losreißen kann.
Elliot findet einen dicken Pullover, der in buntes Geschenkpapier eingeschlagen wurde.
Er hat wesentlich schönere Farben, als seine aktuelle Garderobe vorweisen kann.
Kräftiges Blau mit braunen und beigen Akzenten unterstreichen seine Gesichtsfarbe und werden seine Augen besser zur Geltung bringen, als dieses schreckliche Moosgrün, das er so oft trägt.
"Ich musste etwas Farbe in deinen Kleiderschrank bringen", erkläre ich. "Aber guck hier." Ich deute auf die linke Seite des Pullovers.
Oberhalb der Brust befindet sich eine kleine schwarze Strickerei.
It's beginning to look a lot like fuck this.
Er liebt Memes mindestens genauso sehr wie ich, deswegen empfand ich dieses Geschenk als perfekt.
Ein Hoch auf den Postboten, der meine Bestellung noch rechtzeitig vor unserer Haustür abgelegt hat.
Elliot lacht. So laut und lange, bis er sich die Hand über den Mund legen muss.
"Er ist perfekt. Danke."
Ich habe den Deckel von meinem Geschenk abgenommen, aber noch nicht hineingesehen. Sein Anblick und seine Reaktion haben mich zu sehr abgelenkt.
Als ich endlich in den Karton greife, spüre ich etwas Flauschiges, aber doch Formfestes.
Mein Atem stockt, als ich den Teddybären auf dem roten Schlitten aus der Verpackung hebe, den ich so lange im Schaufenster betrachtet habe.
"Ich weiß nicht, ob er vielleicht nicht doch ein bisschen kitschig ist, aber er schien dir gefallen zu haben, also dachte ich mir..."
"Er ist perfekt!"
Perfekt, weil dieses Geschenk zeigt, dass er zuhört, aufmerksam ist und sich Gedanken macht.
Er sieht mich und er gibt sich Mühe.
Tränen prickeln in meinen Augen, aber ich blinzle sie weg.
"Ehrlich, Elliot, er ist-" Meine Stimme bricht.
Ich will ihm danken, aber das habe ich in den letzten Tagen schon so oft getan.
Stattdessen greife ich nach seinem Kragen und ziehe ihn zu mir. Unsere Lippen treffen mit einer süßen Dringlichkeit aufeinander und wir seufzen im Einklang, lassen unsere Geschenke zu Boden sinken, sodass wir uns spüren können.
In diesem Moment, im halbdunklen Wohnzimmer meiner Eltern, allein mit Elliot vor dem krüppeligen Weihnachtsbaum, ist es plötzlich nebensächlich, wie wir hierhergekommen sind.
Unter welchen Umständen und über welche Umwege. Wir hätten auf anderen Wegen zueinanderfinden können, aber ich bin dankbar, dass unsere Geschichte genauso begonnen hat.
Es scheint zu stimmen, was Dad immer sagt: Wo eine Tür zu geht, geht auch immer eine andere auf.
Meine schmerzhafte Trennung vor einem Jahr hat mich zu Elliot gefühlt. Ohne all die Tränen und schlaflosen Nächte vor lauter Sorge hätte ich ihn nie mit nach Cripple Creek genommen.
Als seine weichen Lippen über meinen Mund gleiten, kann ich einfach nur hoffen, dass das nicht das letzte Weihnachten ist, das wir zusammen verbringen.
Dass sich Dexter an Weihnachten von mir getrennt hat und Elliot bei unserer Anreise noch gar nicht mein Freund war, muss meine Familie nicht erfahren. Vielleicht im nächsten Jahr.
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