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Ungeschickt wickle ich die Spaghetti am Tellerrand zusammen und schiebe sie mir wenig elegant in den Mund. Einige Tropfen Soße landen auf der weißen Tischdecke. Ich könnte mehr wie eine Lady essen, allerdings ist der Gesichtsausdruck meiner Mutter einfach zum schreien. Sie sieht aus, als würden jeden Moment all ihre Äderchen platzen.
Um der Sache eine Krone auf den Kopf zu setzen, schmatze ich genüsslich.
„Nun denn", setzt mein Vater an, der mich die ganze Zeit schon undurchdringlich anstarrt. „Während wir auf das Dessert warten, möchte ich gerne etwas sagen."
Ich wische mir mit der Hand den Mund ab und blinzle ihn liebenswürdig an. Wie sehr ich meinen Vater doch vermisst habe. So sehr wie das Magengeschwür, das ich in der ersten Klasse hatte. Armes Geschwüri, ich werde dich nie vergessen.
Nacheinander sieht mein Vater alle anwesenden Familienmitglieder an: Meine Mutter, Sarah, Olivia, meine zwei Onkel und meine drei Tanten mit ihren jeweiligen Ehepartnern. Alexej lässt er aus, was mir sofort auffällt. Er wird also nur Olivia zuliebe geduldet, und sie wird ja tatsächlich von der ganzen Familie vergöttert.
Tian Cho, der Mann meiner Tante Mathilda, ein lustiger Chinese Mitte 40, wirft mir ein stilles Lächeln zu. Ich erwidere es. Ein winziges Licht in der Dunkelheit.
„Wie ihr wohl alle sehen könnt, ist meine teure Tochter Cassidy zurückgekehrt." Zurückgeschleift worden. „Ich bin überaus froh, dass sie wohlbehalten angekommen ist." Als wäre ich entführt gewesen. „Sie ist sehr froh, wieder bei uns zu sein. Nicht wahr, Schätzchen?" Er wirft mir einen kühlen Blick zu.
„Ich bin ja so froh. Ich hab euch alle ganz doll lieb. Dich ganz besonders, Daddy." Ich zwinkere ihm zu.
Olivia keucht ein ersticktes „Unerhöhrt!", während alle anderen sich ihre Kommentare verkneifen. Tian Chos Kehle vibriert gefährlich vor unterdrücktem Lachen. Geistesgegenwärtig kaschiert er es mit einem röchelnden Husten.
Das Dessert rettet meinen Vater vor weiteren Peinlichkeiten. Es gibt kleine Erdbeertörtchen mit feinstem Vanilleeis. Ich genieße jeden Bissen.
„Du traust dich wirklich einiges", sagt Sarah, die nach dem Essen mit in mein Zimmer gekommen ist. Sie verhält sich mir gegenüber immer noch sehr distanziert, doch wenigstens leistet sie mir für den Abend noch Gesellschaft.
„Ich habe nicht entschieden, zurückzukommen. Meine Eltern wollten es so. Sollen sie doch sehen, was sie davon haben."
Sarah sieht mich unentschlossen an und denkt nach.
„Ich...ich weiß nicht. Ich verstehe mich auch nicht gerade blendend mit ihnen, ganz zu schweigen mit Olivia. Aber ich glaube nicht, dass sie dich so hassen, wie du glaubst."
„Doch, sie hassen mich. Und dich werden sie auch nicht Künstlerin werden lassen, wie du es dir wünschst. Das weißt du ganz genau. Wenn sie könnten, würden sie uns sofort bei Onkel Ronald gegen Olivia eintauschen. Die will ja als Model durchstarten und ihre eigene Modefirma gründen. Genau was unsere Eltern sich von uns wünschen würden."
Sarah schweigt eine Weile, bevor sie wieder antwortet.
„Ich will keine Künstlerin mehr werden. Ich habe angefangen, Wirtschaft zu studieren."
„Wie bitte?! Du beugst dich ihren Wünschen?"
Ich bin fassungslos. Sarah gibt ihre Träume ernsthaft für diese Egoisten auf.
„Unsere Eltern haben Recht. Als Künstlerin lande ich höchstwahrscheinlich auf der Straße. Aber wenn ich in Vaters Fußstapfen trete..."
Mir kommen die Tränen und ich will sie einfach nur umarmen, doch ich überwinde mich nicht.
„Es tut mir so leid", flüstere ich, „dass ich dich nicht mitgenommen habe." Ich bin selbst egoistisch gewesen.
Sarah verengt ihre Augen zu Schlitzen.
„Ich wäre nicht mitgekommen. Aber ich hätte mich wenigstens gern verabschiedet."
Sie steht auf und geht zur Tür. Ich sehe ihr traurig nach.
Sie schließt die Tür hinter sich. Und dann geht alles ganz schnell.
Als Erstes höre ich den Schrei.
Dann den Knall der Tür, als Sarah wieder in meinem Zimmer steht.
„Was ist los?", frage ich verwirrt.
„Ich...keine Ahnung, da war, da war,...."
Ihre Panik verursacht mir eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper.
„Da war was? Sarah, was ist los?"
Ich stehe auf und laufe an die Tür. Als ich meine Hand auf die Klinke lege, stößt Sarah mich heftig weg.
„Onkel Ronald! Er..."
Zielstrebig wende ich mich wieder der Tür zu und reiße sie auf.
Knall.
Tür wieder zu.
Schockiert weiche ich in die andere Ecke des Zimmers.
„Was zur Hölle?!"
Sarah schiebt geistesgegenwärtig meine Kommode vor die Tür.
„Wir müssen hier raus", sagt sie zittrig und sieht sich hektisch um. Ihr Blick bleibt am Fenster hängen.
Ich helfe ihr, das große Fenster aufzumachen und schiebe mich mit ihr aufs Dach, gerade, als Onkel Ronald heftig gegen die Zimmertür hämmert.
„Was ist mit Ronald los?", frage ich außer Atem, während ich mich mit Sarah vorsichtig über das schräge Dach schiebe. „Der sieht aus wie ein... Zombie!"
Sarah wagt nicht, den Blick von den Dachziegeln zu lösen, um mich anzusehen.
„So verrückt das klingt, ich glaube, er ist ein Zombie! Sein Darm hing raus!"
Mir wird schwindelig und ich muss mich übergeben.
„Sowas gibt es nicht. Das kann nicht sein. Vielleicht braucht er unsere Hilfe." So wenig ich Onkel Ronald leiden kann – was, wenn er wegen unserer Flucht stirbt?
„Der braucht keine Hilfe mehr. Ich will weg", überzeugt mich Sarah ohne große Anstrengung.
Wir schieben uns weiter, bis wir den breiten Balkon sehen können.
„Okay. Das sollte nicht zu sehr wehtun."
Ich rücke vorwärts und lasse mich mit den Füßen voraus hinunterfallen. Schmerzlos komme ich in der Hocke auf.
Sarah folgt mir. Hinter uns ist die Glasfassade, durch die man das Schlafzimmer meiner Eltern sehen kann. Niemand ist da drin.
„Wir müssen sie finden", sage ich mit Blick in das leere Zimmer. „Wir müssen alle warnen."
Laute Schreie lassen uns zusammenfahren.
Olivia? Mutter? Ich weiß es nicht.
Sarah blickt über das Geländer des Balkons. Zu hoch zum springen.
Wir müssen hinein. Hinein zu Ronald und was sonst noch da drin wartet.
Die Glastür ist nur angelehnt. Langsam gehen wir ins Schlafzimmer.
Bis zur Haustür ist es nicht weit. Nur aus dem Raum, die Treppe runter und wir wären da. Sofern uns nichts aufhält. Ich nicke Sarah zu und öffne langsam die Zimmertür. Übler Gestank weht uns entgegen und am liebsten würde ich mich nochmal übergeben.
Wir gehen gerade die Treppe hinunter, als mir etwas gegen die Schulter klatscht und vor mir landet. Es ist ein Arm. Der Arm meiner Mutter.
Panisch schreiend bringen wir die letzten Stufen hinter uns und rauschen aus der Haustür.
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