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Schwungvoll schlage ich die Autotür zu und ernte einen bösen Blick vom Chauffeur. Es interessiert mich nicht, was er von mir hält. Schon lange interessieren mich die Meinungen anderer Leute nicht mehr.
Der Chauffeur, Mister Leightford oder so ähnlich, stellt meine Koffer neben mir ab und steigt mit einem letzten missbilligenden Kopfschütteln zurück in den Wagen. Dann fährt er davon und lässt mich allein. Allein an dem Ort, den ich nie wieder hatte betreten wollen.
„Cassy! Hierher!"
Die Stimme meiner Mutter klingt nicht herzlich, nicht nach einem liebevollen Willkommensgruß.
Wie sie steif dort oben auf dem Balkon steht und seltsam lächelt, wirkt sie alles andere als begeistert.
Seufzend nehme ich meine Koffer und gehe den schmalen Weg zur breiten Eingangstür des Anwesens hinauf.
Ein Mann mittleren Alters, offenbar einer der vielen Angestellten, öffnet mir die Tür und nimmt mir die Koffer ab.
„Cas!"
Kaum ist die Tür einen Spalt offen, entdeckt Sarah mich.
Sarah – meine zwei Jahre ältere Schwester.
Sie läuft auf mich zu und hebt kurz die Arme, als würde sie mich umarmen wollen. Dann besinnt sie sich um und lehnt sich stattdessen lässig an die hellbeige Marmorwand.
„Hey, Sarah", begrüße ich sie. Sie ist das einzig Gute in diesem verdammten Haus, in dieser ganzen verdammten Familie.
Allerdings scheint sie nicht vergessen zu haben, dass ich einfach vom einen auf den anderen Tag von hier verschwunden bin, ohne sie einzuweihen.
„Ich sollte vermutlich etwas sagen", meine ich unsicher. Wie entschuldigt man sich bei einem Menschen, den man unglaublich enttäuscht hat?
„Nee, lass mal", wirft Sarah dazwischen. „Ich weiß schon Bescheid."
Sie zwingt ihre schmalen rosa Lippen zu einem Lächeln. Ich erwidere es auf die gleiche Art.
„Ist Vater da?", frage ich. Es würde mich überraschen, wenn die Rückkehr seiner ein Jahr lang verschwundenen Tochter Grund genug wäre, einen Tag auf seine Arbeit zu verzichten.
Sarahs Antwort bestätigt meine Vermutung.
„Er kommt heute Abend. Hat noch Meetings."
„Ach."
„Mom will sicher mit dir sprechen."
„Will sie das?"
Sarah zuckt mit den Schultern. Ich werte das ausnahmsweise als Ja.
„Gut, dann lass' ich sie lieber nicht warten."
„Sie hat ein Jahr gewartet. Ein paar Minuten machen keinen Unterschied mehr."
Autsch.
Ich hatte gewusst, dass sie mir nicht verziehen hat. Aber ich hatte trotzdem gehofft, dass wenigstens eine Person in diesem Haus noch auf meiner Seite steht.
Ich sehe betroffen zu Boden und warte, bis Sarah schleppend die Treppe nach oben geht. Ein paar Sekunden rühre ich mich nicht, dann nehme ich auch die Treppe.
Im großen Couchzimmer steht sie – meine Mutter. Das hellbraune Haar, welches meinem unglaublich ähnlich ist, zu einem strengen Dutt frisiert und die blauen Augen durchdringend auf meine bernsteinfarbenen gerichtet, steht sie einfach nur da und schweigt. Es ist interessant, dass Sarah und ich jeweils totale Mischungen aus unseren Eltern sind. Anders als ich hat Sarah nämlich Vaters schwarze Haare und Mutters Augen geerbt, während es bei mir genau umgekehrt ist. Nur, wo meine Sommersprossen herkommen, ist niemandem ganz klar.
„Schönes Wetter, nicht?", sage ich und beobachte das Gesicht meiner Mutter genau. Keine Regung.
„Warm genug für Tequila am Pool", antwortet sie. Dann wechselt sie rasant das Thema.
„Du hast uns Schande bereitet."
Ich schiebe unwillkürlich die Unterlippe vor. Genau diese Einstellung hatte mich von hier verjagt und es ist schade, dass sich nichts geändert hat.
„Dein Vater war sehr besorgt."
„Besorgt, dass seine Geschäftspartner ihn für unfähig halten, weil er seine eigene Tochter nicht unter Kontrolle bekommt?", frage ich provokant. Ich kann es nicht lassen, meinen Eltern Vorwürfe zu machen. Denn die haben sie verdient.
Mutter seufzt, was die erste Regung ihres Gesichts verursacht.
„Du kannst von Glück reden, dass wir dich wieder hier aufnehmen."
Das bringt mich zum Kochen. Wie kann sie es wagen?
„Glück? Ihr habt mich gezwungen, zurückzukommen! Ich will nicht hier sein!"
Trotzig verschränke ich die Arme. Erst lassen sie mich herbringen und dann lassen sie es so aussehen, als wäre ich flehend vor ihrer Haustür rumgekrochen. Nicht mit mir.
„Du weißt gar nicht,was du willst. Du bist zu jung, um bereits klar denken zu können."
„Mutter, ich bin 19."
„Das sind elf Jahre zu wenig, um einen Verstand zu besitzen."
Ungläubig trete ich einen Schritt zurück und schüttle vehement den Kopf.
„Wenn ich mir dich so ansehe, glaube ich eher, dass der Verstand mit den Jahren verkrüppelt!", fauche ich und stürme aus dem Zimmer.
Ich will abhauen, sofort, jetzt.
Ich renne so energisch die Treppe runter, dass ich den jungen Mann im Flur gar nicht bemerke.
„He, Lady! Stopp!"
Abrupt bremse ich ab und wirble zu ihm herum.
„Sorry, aber ich wollte sowieso-" Woah.
Wäre Venus ein Mann, dann wäre sie genau dieser Mann.
Seine stahlblauen Augen sehen mich abschätzend unter seinen nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen an. Dunkle braune Haare bilden den perfekten Kontrast zu seiner hellen Haut, obwohl sie sehr kurz geschnitten sind. Und natürlich hat er Muskeln, die sich unter seinem Shirt abzeichnen.
Okay, wäre dieser Typ schon vor einem Jahr hier gewesen, wäre ich bestimmt nicht abgehauen.
Ich habe leider keine Ahnung, wer er ist.
„Du kannst deine Mund zu mache", sagt er lachend und verliert den analysierenden Gesichtsausdruck.
Auch noch ein süßer Akzent. Hach, er ist ein Traum.
„Alexej hat Recht. Mach die Scheunenklappe zu, bevor Mist rauskommt."
„Es heißt Scheuklappe und hat weder mit Mündern, noch mit Mist zu tun, Olivia", entgegne ich frostig.
So unfassbar willkommen Alexejs Anblick war, so ungern ist mir Olivias. Gut, sie ist attraktiv – blond, blauäugig und volle Kirschlippen. Der Charakter meiner lieben Cousine ist leider nicht ganz so ansprechend wie ihr Äußeres.
„Alexeeeej." Mit jedem ‚e' springt ihre Stimme eine Oktave höher.
„Ich hab die Kondome wiedergefunden, sie lagen noch in der Hundehütte. Du darfst sie echt nicht dauernd liegen lassen!" Sie kichert gestellt und winkt mit dem Päckchen vor Alexejs Gesicht rum.
„Oh", sagt er nur und steckt die Packung in seine Hosentasche, wo sie noch halb raushängt und gar nicht übersehen werden kann.
Ich schiele zur Haustür. Den heißesten Typen im Umkreis von 40.075km ausgerechnet mit Olivia turteln zu sehen, könnte meine instabile Psyche definitiv nicht mehr aushalten.
„Nimmst du auch an die große Abendesse teil?", fragt Alexej beiläufig, sehr zu Olivias Verstimmung.
„Weiß nicht, ob die Herrschaften das wünschen."
Ich zucke ungeduldig mit den Schultern.
„Ich könnte mir nicht vorstellen, dass sie das tun. Komm jetzt, Alexej."
Olivia stolziert aus dem Flur und Alexej folgt ihr.
Jetzt könnte ich einfach hinausgehen und der Straße bis zur Stadt folgen, wo ich versuchen könnte, per Anhalter zu verschwinden. Aber etwas hält mich noch zurück.
Ich beschließe, zu diesem Abendessen zu erscheinen. Irgendwie interessiert es mich doch, wie unterschiedlich meine untereinander verfeindeten Familienmitglieder auf meine Anwesenheit reagieren.
Und diesmal würde ich nicht gehen, ohne mit Sarah gesprochen zu haben.
Ich werfe einen letzten sehnsüchtigen Blick zur Tür, dann gehe ich wieder nach oben. Ohne in Richtung des Couchzimmers zu sehen, husche ich in mein ehemaliges Zimmer.
Es sieht noch genauso aus wie damals. Weiße, strahlende Wände und hochpolierter Holzboden. Eine große Fensterwand bietet Blick auf den weitläufigen Wald. Die Einrichtung ist schwarz-weiß gehalten, obwohl ich gern gelbe und blaue Möbel hätte.
Ich lasse mich aufs Bett fallen und schiebe die Hände unter meinen Kopf. Es ist 17 Uhr 23. Das wöchentliche große Familienabendessen findet normalerweise immer um halb 7 statt. Verwirrt runzle ich die Stirn. Alexej gehört nicht zur Familie, Olivias Freund hin oder her. Wieso zur Hölle lässt meine Mutter, die fremde Menschen eigentlich aus Prinzip missbilligt, ihn am selben Tisch sitzen wie ihre hochwohlgeborene Verwandtschaft?
Eine Frage, der ich auf jeden Fall nachgehen will – vielleicht hat sich also doch etwas verändert, während ich weg war.
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