2.Kapitel
Als mein Schlaf urplötzlich von einem grellen Lichtstrahl, welcher mir schmerzhaft in die Augen stach gestört wurde, musste ich nicht einmal die schweren Lider heben, um zu erkennen, was die Ursache des unangekündigten Lichteinfalls war.
Vermutlich mit einem kurzen, lustlosen Blick brummte mein Vater über die Schulter hinweg: »Aufstehen!«, und rauschte wieder aus meiner Muffelhöhle.
Stille.
Dann strampelte ich protestierend mit den Beinen meine Decke beiseite und richtete mich mit unterdrückten Schreien auf, welche denen einer qualvoll zu Grunde gehenden Armee Hannibal's in nichts nachstand.
Ich mochte die Nacht, keine Frage, aber sie schien die graue Welle anzuziehen wie Licht die Motten.
Dieser kurze, aber einschneidende Moment, welcher mich jeden Morgen unter der Woche einholte, blieb mir auch heute nicht erspart.
Dieser unangenehme Gedanke, welcher sich in mein Gehirn bohrte wie die spitzen Haarnadeln meiner Cousine, mit denen sie ihre Lockenpracht zusammenzuhalten pflegte.
Welchen Sinn hatte dieses ganze Arbeiten?
Tatsächlich besetzte diese Frage schon seit geraumer Zeit einen erstaunlich großen Platz in meinem Kopf, doch morgens hatte sie die volle Unterstützung der Welle.
Und so fraß sie sich durch meine Hoffnungen und Wünsche und ließ mich plötzlich an so Vielem zweifeln, was meine Eltern, nein, mein gesamter Bekanntenkreis mir schon dutzende Male eingetrichtert hatten.
Mit guten Noten würde ich meine Zeugnisse im Reinen halten.
Mit zufriedenstellenden Zeugnissen wären meine Berufschancen viel üppiger.
Doch in den ersten Minuten, nachdem ich vom Totenreich auferstanden war, gab mir dieses unbehaglich langanhaltende Empfinden eine neue, erschreckend realistische Sichtweise auf all diese Aussagen.
Es wurde von mir erwartet, einen guten Beruf zu finden, jemanden Anständigen zu heiraten und so zu leben, wie es bereits meine Großeltern getan hatten.
In einem Haus oder einer Wohnung.
Mit einem Ehepartner und einigen Kindern.
Und einer effektiven Versicherung, einem eigenen Auto und stets abbezahlten Rechnungen.
Normal eben.
So, wie es alle hier gewohnt waren.
Aber etwas störte mich an dieser Vorstellung.
Oder gleich mehr oder weniger alles.
Dabei war gerade dies schon seit Kindertagen meine ideale Vorstellung meines zukünftigen Lebens gewesen, mein Traum.
Oder doch nur der meiner Eltern?
Schule.
Ein knapper Gedanke vertrieb das schier endlose Kopfzerbrechen, wie Vögel mit einer abfälligen Handbewegung und holte mich zurück ins hier und jetzt.
Langsam, ganz langsam, rutschte ich vorwärts und erst, als ich, nach mehreren kleinen Missgeschicken, welche Bücher, herumfliegende Kritzeleien sowie Lennart beeinträchtigten, bei meiner vollgepflasterten Zimmertür angekommen war, hatte sich die Welle verzogen.
Meine Überlegungen hatten sich zur Ruhe gelegt und mein Gehirn fühlte sich wieder ziemlich grau und ausdruckslos an.
So, wie es normalerweise auch sein sollte.
Kurz bevor der windschiefe Zaun der Schule, alternativ auch bekannt als die Grenze zwischen Freiheit und dem ewigen Fegefeuer, in Sicht kam, ließ ich mein Englischbuch unauffällig in meiner Sporttasche versinken.
Ob nicht doch wieder der neugierige Conrad zu mir herüber gespäht hatte und mich anschließend beim Lehrer verpetzte, war die eine Frage.
Ob die zu lernenden drei Seiten Vokabeln sich auf die Schnelle noch in meinem schlaftrunkenen Kopf festgesetzt hatten, die andere.
Für gewöhnlich nutzte ich die dreißig Meter Fußmarsch, welcher vom Höllentor bis zu unserem Klassenraum von Nöten waren, um den Schlaf nachzuholen, welcher mir die halbe Nacht verwehrt geblieben war.
Ein »Herzlich Willkommen im Club der Waschbären!« bestätigte meine Befürchtungen, dass diese kurzzeitige Ruhepause nicht besonders effektiv gegen Augenschatten war.
Mit einer halbherzigen Begrüßung verkündete ich Louise, einer treuen Leidensgenossin seit Kindertagen (also seit 3 Jahren, beachtete man mein mentales Alter), dass ihre Bemerkung durch diese zähflüssige Masse aus Vokabeln, mangelnden Schlafs und unausgesprochenen Flüchen hindurch
gedrungen war.
Die nervtötende Ankündigung zum nächsten Termin Brutzeltermin in unserem Gefängnis, alias die Schulklingel würgte weitere depressive Kommentare über den Vokabeltest ihrerseits ab.
Und so schlurften wir, eine Meute übermüdeter, grummelnder Internetsüchtiger mit gesenkten Köpfen wie die Lämmer zur Schlachtbank, in den Klassenraum.
Noten.
Sie sind eine schwierige Sache, wirklich.
Sind sie zu schlecht, bleibt man sitzen, sind sie zu hoch ist man ein Streber.
Am besten hält man sich im mittleren Bereich auf, im Durchschnitt.
Dabei muss man sich allerdings auf viele ›Aufmunterungen‹ seiner Eltern freuen.
Die Situation wird erst problematisch, wenn man aus dem Durschnitt rutscht, egal in welche Richtung.
Entweder man wird zum neuen Opfer des allgemeinen Spotts, oder man läuft Gefahr, gewaltigen Stress mit den Erziehungsberechtigten zu bekommen.
Besser also, man bleibt normal.
Was nicht normal ist, sticht aus der Menge heraus.
Und das ist nicht jedermanns Wunsch, oder?
Die Schule besteht aus Schubladen.
Schubladen für Intelligenz,
Schubladen für Charakter,
Schubladen für Aussehen.
Einmal in eine Schublade geordnet, ist die Chance, wieder heraus zu kommen gering.
Nichts lässt sich so simpel und überzeugt aussprechen und doch nicht eingehalten werden.
Mit dem ersten Schritt in eine neu gegliederte Gesellschaft wird jedem die einmalige Chance gegeben, sich eine perfekte Maske zusammenzustellen.
Ob diese nun dem persönlichen Charakter möglichst ähneln soll oder nicht ist nebensächlich.
Tatsache ist, dass sich die Maske bei den meisten nur schwer wieder überpinseln lässt.
Die anwesende Gesellschaft ist verwirrt von den neuen Farben, welche nicht normal für die veränderte Person sind.
Sie erkennt allein die erste Maske, welche zusammengestellt wurde als wahres Gesicht an.
Und daher ist Verändern schwer.
›Ich selbst sein‹ ist schwer.
Schließlich wird es nicht als normal angesehen.
Und Unnormales sticht aus der Menge heraus.
Im guten wie im schlechten Sinne.
Intelligent.
Schlau, talentiert, erfahren.
Intelligenz ist, wenn überhaupt, schwer zu begreifen.
Schulische Intelligenz ist jedoch einfach.
Im Grunde könnten sämtliche Schüler bestimmte Grundlagen der momentanen Evolutionsstufe verstehen.
Wenn es eine für sie angepasste Erklärung gäbe.
Mit nur einer feststehenden Anleitung kommen nicht alle zurecht.
Hier und da kann die Anleitung variieren, aber sie verändert sich nicht groß; sie bleibt normal.
Jede Schule läuft eine Anleitung ab.
Es geht nicht darum, jedem einzelnen Wissen zu vermitteln, sondern nur darum, diese Anleitung wie einen Staffelstab an die Mehrheit weiterzugeben.
Der Lehrplan wird steif abgehakt und dabei werden diejenigen herausgepickt, welche sich nicht daran anpassen können.
Das Lernen ist keine Chance.
Kein neuer Weg, wie der Gesellschaft immer versichert wird.
Es ist der von Stress und Depressionen begleitete Zwang, unter enormen Zeit- und Konkurrenzdruck gute Leistungen hervorzubringen.
Von den Schülern wird erwartet, sich viele verschiedene Themen zur gleichen Zeit einzuprägen, in Arbeiten und Tests festzuhalten und sich nur das allerwichtigste zu merken, denn der restliche Platz des überforderten Gehirns wird benötigt, um sich das neue, kurzweilige Projekt zu
merken.
Die korrekten Antworten für alle Fragen in allen Arbeiten sind bereits mindestens vage vorherbestimmt.
Selten ist Kreativität erwünscht.
2
Hoch geehrtes Tagebuch.
Ich möchte ein Lob ausschreiben, dass du dich nicht von meiner Cousine finden oder von Lennart hast fressen lassen.
Du bist erfolgreicher als deine Vorgänger.
Ich hoffe sehr, meine depressiven Ansichten lassen dich nicht zu einem unbrauchbaren Häufchen zusammenschrumpeln.
Schließlich kann man die Schule ja auch positiv sehen.
Und das nicht zu knapp.
Aber ich bin kritisch.
Heutiges Datum ist der 14. Januar.
Ich habe zwei Tage hintereinander geschrieben!
Weniger schlechte Synchros scheinen mir gut zu tun.
Bis zur nächster archäologischen Ausgrabung dann!
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