1.Kapitel
Normal.
Gewöhnlich, der Norm entsprechend, alltäglich, bekannt, üblich.
Inwiefern wird die Norm festgelegt?
Lässt sich dein Alltag mit 'normal' identifizieren?
Wenn nein, warum nicht?
Und wie reagieren deine Mitmenschen darauf?
Was ist normal?
Ist es für dich normal, mit deiner Familie in einem Haus oder einer Wohnung zu leben?
Oder ist es für dich normal allein oder in einer großen Gruppe in einem Iglu zu leben?
Oder in einer Holzhütte?
Oder im Freien?
Ist es für dich normal, dir deinen Ehepartner irgendwann selbstständig auszuwählen, wenn du bereit dafür bist?
Oder wirst du bereits mit Anfang deiner Pubertät jemandem zugewiesen?
Wegen deiner Religion?
Wegen der Tradition?
Wegen der Familie?
Die Norm variiert.
Dauernd und ständig und trotzdem von vielen Menschen unbemerkt.
Elektrizität wurde normal.
Bücher für alle wurden normal.
Gemischte Kulturen wurden normal.
In die eine wie in die andere Richtung.
Egal.
Sie variiert.
Manche Dinge scheinen sich in meiner Heimat wohl als normal festgesetzt zu haben.
Essen für alle,
Schule für die Kinder,
Freie Entscheidungen bei der Hochzeit.
Aber was verstehen andere unter normal?
Und was soll ich darunter verstehen?
Dieser Eintrag hat gerade einmal eine Seite in diesem Notizbuch gebraucht. Ich frage mich ernsthaft, ob ich alles ausfüllen kann, bevor ich mit der Schule fertig bin. Oder abbreche. Oder keines von beiden.
Mal sehen.
Hoffentlich stöbert meine Cousine nicht hier herum, die alte Petze.
Das heilige Datum des ersten offiziellen und besonders schlampigen ersten Eintrags:
13. Januar.
Und jetzt muss ich noch Hausaufgaben erledigen.
Sayonara liebes Tagebuch, die wirst jetzt in den Untiefen meines Müllberges verschwinden.
Auf dass du dich möglichst unzerknittert wiederfinden lässt.
1
Ich starrte auf den Füller der die erste grellweiße Seite des langweilig schwarzen Büchleins mit kaum entzifferbaren Schnörkeln gefüllt hatte.
Nun, da das Kratzen der Metallfeder auf dem Papier nicht mehr zu hören war, herrschte komplette Stille.
Hin und wieder hörte ich leises, aus dem Bad kommendes Husten, ansonsten Stille.
Sie war nicht unbedingt unangenehm, aber ließ mich dennoch unruhig werden.
Meine Ohren waren es gewohnt, stets leise Musik oder Synchronstimmen aus irgendwelchen Serien zu vernehmen.
Ich mochte die Stille nicht.
Mein Gehirn schien sie zu nutzen, um nachzudenken. Sich Fragen zu stellen, auf welche ich niemals eine Antwort finden würde.
Und dann kam irgendwann diese weitere Emotion.
Ich kannte ihren Namen nicht, aber sie brach in solchen Augenblicken über mir zusammen wie eine gigantische Welle.
Mein Brustkorb wurde enger, mein Herz stolperte aus seinem üblichen Rhythmus und meine Augen trübten sich.
Angst. Vielleicht war es das. Oder Sorge, oder Einsamkeit.
Und dieses Empfinden war schlimmer als sämtliche Tode meiner Lieblingscharaktere in Serien und Videospielen.
Am schlimmsten war, dass ich es nicht teilen konnte. Was sollte ich denn auch sagen?
»Hör mal, manchmal habe ich so Anfälle, ich weiß nicht, was ich fühle, aber ich mag es nicht«?
Lächerlich.
Da wäre sowieso niemand, der mich wirklich ernstnehmen würde.
Mein Vater würde vermutlich nur ratlos die Stirn runzeln, meine Mutter würde mich vermutlich sofort zum Psychologen schleppen und meine Schwester...
Ja, Maya würde mich wahrscheinlich unterbrechen, bevor die ersten Wörter überhaupt erst von meinen Lippen kamen.
Es meinen Freunden zu erzählen würde niemals in Frage kommen.
Sie waren viel zu fröhlich und unbekümmert, als dass ich vor ihnen solche ernsten Themen hätte auspacken können.
Allein bei eine Frage, welche schulische Aktivitäten beinhaltete musste ich schon mindestens dreimal ansetzen.
Also war dies wohl oder übel eine Sache zwischen mir, meinem Hirn und dem neu ernannten Tagebuch.
Und Lennart natürlich.
Ich konnte und nicht fragen ob er mich verstand, hamsterisch beherrschte ich nicht, aber wenigstens gab er mir keine Widerworte.
Und nach eine längeren Pause piepste er. Das war ja wohl ein eindeutiges Zeichen, dass er zumindest kapierte, dass ich nicht über seine nächste Mahlzeit plapperte.
Er piepste auch, als ich plötzlich das Notizbuch zuschlug und mich wie vom Donner gerührt stocksteif in meinem Bett aufsetzte.
Wäre ich nicht etwas länger liegen geblieben, hätte mich die Welle garantiert wieder eingeholt.
'Alle meine Entchen'-summend, um mich und mein depressives Gehirn irgendwie zu beschäftigen kletterte ich die Leiter meines Stockbetts herab.
Mit zusammengekniffenen Augen sah ich mich in meinem düsteren Zimmer um. Der einzige Lichtpunkt im Zimmer war ein altes und flackerndes Nachtlicht. Spätestens an meinem 13. Geburtstag hätte ich es, laut meinem Vater, entsorgen sollen, doch in kompletter Finsternis holte mich die Welle schneller ein als dass ich 'Hamster' sagen konnte.
Außerdem hatte ich Angst.
Nicht vor Monstern oder Einbrechern, sondern mehr davor, keinen Ausgang mehr zu finden.
Nicht selten hatte ich schon Panik in der Dunkelheit gehabt, sobald ich komplett alleine war.
Lennart zählte nicht.
Während ich also über die Dunkelheit grübelte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel einen vollgemüllten Stehsammler.
Den würde nicht mal meine neugierige Cousine anrühren. Nicht, seit ich ihr mit dem Brustton tiefster Überzeugung erzählt hatte, er hätte Mal einem waschechten schwulen Mexikaner mit Vorliebe für Spargeleintopf und pupsende Einhörner gehört.
Die Mischung aus Spargel, Homosexualität und Ausländer hatte sie in die Flucht geschlagen.
Ein ideales Versteck also für mein neues Tagebuch.
Nachdem ich mich durch ein Meer aus Papier, Bücher und DVDS zum Stehsammler und wieder zurück gekämpft hatte, sank ich seufzend in mein Kissen und wälzte mich ein wenig in meiner Decke herum, bis ich aussah wie ein pinkes Riesensushi.
In dieser Position fielen mir dann die Augen zu.
Das letzte was ich wahrnahm, war das leise Flüstern meiner Eltern im Schlafzimmer nebenan.
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