Schattenfresser
„Janni! Wo steckst du wieder, Junge?"
Erschrocken fuhr der Knabe auf, die kleine Holzfigur entglitt seinen Fingern und landete im Stroh. „Ich komme, Vater", rief er und griff nach dem Schnitzwerk, um dann eilig in Richtung der Leiter zu stürzen. Nicht auszudenken, wenn Vater hier oben nach ihm sah und dabei entdeckte, dass die Strohballen noch immer in einem groben Haufen auf dem Scheunenboden lagen!
„Bist du fertig geworden?", erkundigte sich der breitschultrige Bauer mit erhobenen Brauen, kaum da sein Sohn mit einem gewagten Sprung auf dem festgetretenen Lehmboden des Kuhstalls landete.
„Fast", erwiderte Janni, ein wenig zu hastig, wie er am Stirnrunzeln seines Vaters erkannte. „Ich erledige den Rest nach der Melkzeit."
„Das rate ich dir. Und nun komm, die Tiere warten schon!"
„Warum kann Ylva nicht helfen?", entfuhr es dem Knaben unwillig. Seine große Schwester, bereits stolze vierzehn Winter alt, war lediglich mit der großen Wäsche betraut worden, dabei rühmte sie sich doch stets, wie leicht ihr das Melken von der Hand ging.
„Weil wir alle genau wissen, wie die Wäsche aussieht, wenn du sie in die Finger bekommst", war die schroffe Antwort.
Seufzend folgte Janni seinem Vater hinaus in die warme Herbstsonne, deren Strahlen wie ein letzter Gruß des vergangenen Sommers über die Stoppelfelder strichen. Der Knabe indes konnte selbst der freundlichen Witterung nichts abgewinnen. Auch jetzt noch schmerzten seine Unterarme, und als er den zehn Kühen entgegenblickte, die sich bereits erwartungsvoll vor dem Gatter ihrer längst abgeweideten Koppel versammelt hatten, zog er unwillkürlich eine Grimasse.
Schon am frühen Morgen hatte er aushelfen müssen. Obwohl sein Vater den Großteil der Arbeit übernommen hatte, war die ungewohnte Anstrengung nicht spurlos an Janni vorbeigegangen. Selten nur wurde er beim Melken gebraucht, doch dieser Tag hatte bereits überaus merkwürdig begonnen.
Ingvar, seit langen Jahren einziger Knecht im Haus, war über Nacht spurlos verschwunden und zu jedermanns Verwunderung bisher nicht zurückgekehrt. Die schmale Bettstatt unter der Treppe wirkte mit den sorgsam gefalteten Laken, als sei sie in dieser Nacht nicht genutzt worden, doch sah es dem tüchtigen Mann nicht ähnlich, sich ohne ein Wort auf und davon zu machen.
Mutter hatte nichts gesagt, die scharf hervortretenden Falten in ihrem Gesicht hingegen hatten von ihrer Sorge gezeugt. Anders als Vater, der seinem Ärger lauthals Luft gemacht hatte, doch selbst der derbste Fluch konnte Janni nicht täuschen. Sie alle waren beunruhigt, denn etwas derartiges war hier noch nie geschehen.
Auch das Vieh wirkte seltsam nervös. Weit schneller als gewöhnlich drängten die Kühe dem Stall entgegen, kaum da das Gatter geöffnet worden war. Keines einzigen Stockhiebes bedurfte es heute um sie anzutreiben, beinahe gab es gar eine Rangelei, so eilig hatte es eine jede, auf ihren Platz zu gelangen.
Doch für Ruhe sorgte nicht einmal der frische Grünschnitt in der Raufe. Zwar schoben die Tiere wie gewohnt ihre Köpfe zwischen den Latten hindurch, anstatt sich dann jedoch mit Heißhunger dem Futter zu widmen, schwangen sie unruhig die Köpfe von einer Seite auf die andere.
Beinahe hätte Janni eines der Hörner erwischt, als er es seinem Vater gleichtat und eine Kuh nach der anderem mit einem derben Strick an ihrem Platz sicherte. Mit klopfendem Herzen wich er zurück, begegnete kurz dem sorgenvollen Blick seines Vaters, der ihn mit einem knappen Handzeichen fortscheuchte.
So trug er Eimer und Melkschemel herbei, auch wenn alleine der Anblick ihn seiner schweren Arme erinnerte. Dennoch ging der Knabe ans Werk, zwängte sich zwischen die ersten zwei Kühe und begann mit ungelenken Bewegungen, die Milch aus den Strichen zu massieren.
Was die Kühe sonst dankbar über sich ergehen ließen, schien ihnen heute zuwider zu sein. Unruhig peitschten sie mit den Schwänzen und traten auf der Stelle. Selbst Lotti, Jannis Lieblingskuh, schüttelte gereizt den Kopf, als er ihr sanft über die zottigbraune Flanke strich.
„Was ist nur mit dir?", wunderte sich der Knabe, doch die Kuh ließ sich weder beruhigen, noch zeigte sie Interesse an den frischen Kräutern vor ihrer Nase. Schließlich versetzte sie gar dem Eimer einen Tritt, worauf Janni in seiner Überraschung beinahe vom Schemel gestürzt wäre.
Dampfend ergoss sich die warme Milch über den schmutzigen Boden, und gerade in diesem Moment stand der Vater plötzlich da. Nun war Janni heilfroh, den Eimer zwischendurch in die große Kanne geleert zu haben, doch er wusste, wie kostbar ein jeder Tropfen war und zog schuldbewusst den Kopf ein.
Entgegen seiner Erwartung blieben die Schelte jedoch aus. „Die Tiere sind rastlos", murmelte sein Vater und hob den Eimer vom Boden auf, ohne die verschüttete Milch zu beachten.
„Vielleicht haben sie den Bären gewittert", meinte Janni vorsichtig und musterte ihn aufmerksam.
Da tauchte der Bauer mit einem Schnauben aus seiner Versunkenheit auf. „Ach was, Bär", knurrte er und drückte seinem Sohn den Eimer zurück in die Hände. „Als nächstes willst du mir wohl weismachen, dass Ingvar heute Nacht zur Bärenjagd aufgebrochen ist! Und nun gib Acht, dass du nicht noch mehr verschüttest!"
Stumm hockte sich Janni erneut auf den Melkschemel, biss die Zähne zusammen und langte nach Lottis Euter, um sein Werk zu vollenden. Jeder Handgriff schmerzte inzwischen beinahe unerträglich, der Knabe hingegen nahm kaum wahr, was er tat.
Der Vater war ein strenger Mann, doch derart unfreundlich wie er seinem Sohn heute begegnete, ließ dies nur einen Schluss zu.
Er war in Sorge, weit mehr, als er es der Familie zeigen wollte.
Und er glaubte gewiss nicht daran, dass es ein Bär gewesen war, der vor drei Tagen Skjöldurs Ochsen zerrissen hatte. Janni hatte die Eltern darüber flüstern gehört, als sie meinten, alleine zu sein. Viel hatte er nicht verstanden, doch die unterdrückte Furcht war ihm nicht entgangen.
Wer oder was war in der Lage, einen kräftigen Ochsen in Stücke zu reißen?
Während der Knabe seinem Vater zur Hand ging, frisches Stroh auf den Plätzen der Tiere zu verteilen, verspürte er erneut einen Anflug von Sorge, die sich kribbelnd durch seine Glieder wand. Kaum wurde er nach getaner Arbeit mit einem mahnenden Blick entlassen, erklomm Janni eilig die Leiter zum Heuboden.
Es begann bereits zu dämmern, und unter keinen Umständen wollte er länger im Freien verbleiben denn nötig. Schon tanzten die Schatten in den Ecken unter dem Dach, ein leiser Wind wirbelte einzelne Strohhalme auf.
Energisch schüttelte der Knabe seine Beklommenheit ab. Eine reichhaltige Mahlzeit wartete drüben auf ihn, vom freundlich flackernden Schein des Feuers erhellt, nach dessen tröstlicher Wärme er sich jetzt bereits sehnte.
Von vagem Unwohlsein getrieben schleppte er Ballen um Ballen, errichtete schnaufend Stapel um Stapel. Was Janni für gewöhnlich einen ganzen Nachmittag in Atem hielt, vollbrachte er heute in einem Bruchteil der Zeit. Vergangen war seine Freude daran, sich gemütlich im Stroh einzurollen und seinen Gedanken zu folgen, was einzig hier möglich war, fernab forschender Augen.
Dennoch war es beinahe finster, als auch der letzte Ballen seinen Platz gefunden hatte. Unten im Stall stampften die Tiere, ab und an brüllte eines von ihnen dumpf auf. Seinen Weg die Leiter herab und hinaus ins Freie fand Janni wie von selbst, so oft war er hier bereits in tiefster Dunkelheit entlanggehuscht.
Nie zuvor hatte er dabei jedoch ein derart mulmiges Gefühl verspürt wie an diesem Abend. Als sich eine feste Hand auf seine Schulter legte, fuhr er erschrocken herum und konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken, dabei war es nur der Vater, dessen unverkennbare Gestalt selbst vor dem dunklen Himmel gut zu erkennen war.
Keinerlei Fragen stellte der Bauer seinem Sohn, kein Wort des Tadels verließ seine Lippen ob der späten Stunde, die Jannis vorheriger Beteuerung Lügen strafte. Stumm verfolgte der Knabe, wie sein Vater den großen, schweren Riegel vor die Tür des Kuhstalls legte, was nur selten geschah.
Dann schritten sie gemeinsam über den ausgetretenen Pfad, weit eiliger als gewöhnlich. Auf der Wiese neben dem Haus tanzten dunkle Schatten einen unheimlichen Reigen, jedes Mal, wenn der auffrischende Abendwind kühl durch die Wäsche fuhr und die leinenen Tücher bauschte.
Aus den Fenstern des Hauses jedoch strahlte beruhigendes, warmes Licht. Hastig säuberten sich die beiden an dem großen Wassertrog, bevor sie die Veranda betraten. Die Tür war wie eine Zuflucht, und als der Vater sie nachdrücklich hinter sich schloss, blieb die Dunkelheit draußen zurück.
„Janni!", quietschte die kleine Tjara beglückt und hüpfte fröhlich auf ihn zu. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, er empfing die Schwester mit offenen Armen und hob sie ungeachtet seiner brennenden Muskeln in die Höhe.
Mit einem Mal fiel sämtliche Anspannung von ihm ab, da er ihren weichen, lebendigen Körper an dem seinen spürte. Der Duft von frisch gebackenem Brot hing in der Luft, das leise Knistern des Feuers klang vertraut und heimelig.
Ylva und die Mutter hatten nebst der großen Wäsche für ein reichhaltiges Mal gesorgt, das den Knaben beinahe damit versöhnte, dass er sich anstatt der großen Schwester mit dem Melken hatte plagen müssen.
Frische Bohnen gab es, in reichlich Butter gedünstet, dazu Brot und Wurst und würzigen Käse, den Janni so sehr liebte. Über dieser Fülle vergaß der Knabe auch noch den letzten Rest des leisen Unwohlseins, das ihn seit dem Morgen so beharrlich begleitet hatte.
„Große Mutter, für die Gaben danken dir heut Groß und Klein, dass wir uns nun daran laben soll auch dir zur Freude sein", sprach die Familie wie an jedem Abend gemeinsam, dann griff ein jeder zu.
Erst, nachdem Jannis gröbster Hunger gestillt war, ging ihm auf, wie ungewöhnlich still es am Tisch war. Unwillkürlich fuhr seine Hand in die Tasche und umfasste die kleine, geschnitzte Figur, die ein Geschenk Ingvars gewesen war. Nun erinnerte lediglich der leere Stuhl daran, dass der Knecht nach wie vor verschwunden blieb.
Mit einem Mal war da wieder ein unangenehmes Kribbeln, das dem Knaben in den Nacken fuhr. Hartnäckig setzte es sich dort fest, ließ sich nicht wieder vertreiben, während er gemeinsam mit seinen Schwestern an den Abwasch ging.
Auch über Ylvas Gesicht huschte ein Schatten, als die Kinder wenig später die Stiege hinauf entschwanden und ihr Blick die verwaiste Bettstatt streifte. Hatte auch sie jenes beklemmende Gefühl verspürt, das an diesem Tag über ganz Blomgard zu liegen schien?
Drei kleine Kammern gab es unter dem Dach, und war Janni sonst heilfroh, dass die kleinste davon ihm alleine gehörte, so wünschte er an diesem Abend, noch immer gemeinsam mit den zwei Schwestern das große Bett zu teilen.
Um nichts in der Welt hätte er dies jedoch zugegeben. Beinahe schon hörte er Ylvas Spott, weshalb er mit einem stummen Seufzen in die Dunkelheit seiner einsamen Kammer entschwand.
Blindlings fand sich der Knabe hier zurecht, so dass er schon wenige Herzschläge später angetan mit seinem Nachthemd auf die Strohmatratze fiel. Fest stopfte er die Enden der Decke um seinen Körper herum, dass auch ja kein einziger Zeh ungeschützt in die Finsternis ragte.
Aus der Stube drang leises Gemurmel herauf, doch an diesem Abend verstummte es für Jannis Geschmack viel zu früh. Bald schon hatten sich auch die Eltern zur Ruhe gelegt, einzig der Wind schien rastlos, fuhr seufzend durch das alte Gebälk und entlockte dem wurmstichigen Holz ein beständiges Knarzen.
Unruhig warf sich der Knabe von einer Seite auf die andere, bis er schließlich doch in den Schlaf sank. Bis ihn nach ungewisser Zeit ein Geräusch aus wirren Träumen auffahren ließ.
Noch halb umnachtet lauschte Janni in die Dunkelheit. War es der Schlag einer Tür gewesen? Alles, was er jedoch ausmachen konnte, war das gedämpfte Brüllen der Kühe, das einfach kein Ende nehmen wollte. Was hatten die Tiere nur? Ob er den Vater wohl wecken sollte?
Am liebsten hätte sich der Knabe die Decke fest über den Kopf gezogen und getan, als wäre alles wie immer. Ein besonders lauter Ruf drüben vom Stall her ließ ihn jedoch zusammenzucken. Er musste Vater wecken.
Damit war die Entscheidung gefällt. Entschlossen kam Janni auf die Beine, fand zielsicher den Weg zur Tür und öffnete sie, das hartnäckige Ziehen in seinem Magen ignorierend. Stockdunkel war es in dem schmalen Flur, doch auch hier fand er sich blindlings zurecht.
Mit einem Mal prallte er jedoch hart gegen ein unvorhergesehenes Hindernis. Vor Schreck entfuhr Janni ein gepresstes Ächzen, während scharfer Schmerz durch seinen Schädel pochte. Dann fanden seine Hände den Grund für den Zusammenprall – die Schlafzimmertür seiner Eltern war weit geöffnet.
„Vater?", entfuhr es dem Knaben, als er sich hektisch in die Kammer hineinschob. „Mutter?"
Er erhielt keine Antwort außer die des Windes, der um den Dachstuhl strich. Kaum hatte er die Bettstatt erreicht, wusste er auch, warum – sie war leer. Noch warm die Decken, doch sowohl auf Vaters als auch auf Mutters Seite stießen seine tastenden Hände nicht auf die vertrauten Körper, die er dort erwartet hatte.
Ein eiskalter Klumpen schien plötzlich in seinem Magen zu liegen. Es kam vor, dass der Vater des Nachts nach den Tieren sah, doch warum sollte auch Mutter ihm gefolgt sein?
Mit einem Mal sehnte sich Janni nach ihrer warmen Umarmung, obwohl er doch lange kein kleiner Bub mehr war. Beinahe glaubte er schon, ihren süßlichen Duft nach Heu und Blumen zu riechen, als aus der Stube der leise Schlag einer Tür drang.
Erleichtert fuhr Janni herum und hielt auf die Stiegen zu. „Vater, Mutter?", rief er hoffnungsvoll hinab, doch wieder war das Säuseln des Windes alles, was er zu hören bekam. Mit zitternden Knien trat der Knabe Stufe um Stufe in die Tiefe, wo ihm ein letzter Rest von Glut trübes Licht entgegenwarf.
Auch hier war niemand zu sehen, doch die Tür zur Veranda heraus schwankte leise im böigen Wind. Verzagt hielt Janni inne, derweil in ihm der drängende Wunsch erwachte, zurück in seine Kammer zu stürzen und dort bis zum Morgen zu harren.
Dem zum Trotz schlich er auf bloßen Füßen auf die Haustür zu, obwohl eine plötzliche Gänsehaut über seinen Körper fuhr, die keinesfalls der kühlen Luft geschuldet war. Das unangenehme Kribbeln in seinem Nacken kehrte zurück, breitete sich weiter aus und schien Janni lähmen zu wollen.
Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, stemmte sich gegen den übermächtigen Drang, auf der Stelle kehrt zu machen. Dann hatte er die Tür erreicht und schob sich durch den Spalt auf die Veranda heraus.
„Vater? Mutter?", wisperte Janni, doch in diesem Moment erfasste ihn eine eiskalte Gewissheit – er würde keine Antwort erhalten.
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