25-0 | Nonlinear
Zwei Tage und endlose Polizeiverhöre später verbrachten Isabella und ich den Nachmittag im "Zu den Waffeln". Wir hatten den Gastraum geputzt und alles wieder ordentlich hergerichtet. Jedenfalls so gut es ging.
Romeo war noch im Krankenhaus. Seine Verletzung war zwar wirklich nur ein Streifschuss, musste aber trotzdem ärztlich behandelt werden. Er war jedoch nicht unglücklich darüber. Immerhin durfte er sich das Zimmer mit Aurora teilen. Anscheinend hatte unser Cousin eine Schwäche für Frauen, die ihn niedermachten.
Die kleine Leni war vorläufig in einem Jugendheim untergebracht worden. Der ganze Vorfall hatte die Behörden auf den Plan gerufen und Frau Gerlach davon überzeugt, Anzeige gegen ihrer Mann stellen zu wollen. Wir hofften alle, dass sie es dieses Mal auch bis zur Gerichtsverhandlung durchziehen würde. Doch wenn nicht, hatte Romeo schon angekündigt, dass er und die Gang Lenis Vater einen Besuch abstatten würden.
Isabella, die in der stickigen Schwüle des Gastraums an einem der Tische lümmelte und in einem Kreuzworträtselheft blätterte, kratzte sich mit ihrem Kugelschreiber am Nacken. »Männlicher Vorname, der mit D anfängt und mit I aufhört.«
»Wirklich?«, seufzte ich, während ich unsere verbliebenen Gläser und Teller auf Sprünge und Risse kontrollierte.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür.
Ich drehte mich um und entdeckte Dimitri, der Isabella zum Gruß zuwinkte.
Meine Schwester nahm ihre Limo und ihr Heft und zog sich mit einem »Ich lass euch zwei wohl besser mal alleine« in die Hinterzimmer zurück.
»Hallo, Emilia«, sagte Dimitri. Er trug Jeans und Karohemd und sah mehr denn je aus wie ein Cowboy. Sogar ohne den Hut. Seit ich erfahren hatte, was er war – oder vielleicht eher: wie er war – hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Das Geschehene war uns wohl beiden mehr als unangenehm. Doch dieses Gefühl wurde mit jedem verstreichenden Tag schwächer. Zurück blieben viele Fragen und eine vage Sehnsucht.
»Hallo, Dimitri«, erwiderte ich förmlich und klappte den Hängeschrank zu.
»Ich wollte noch einmal mit dir reden, bevor ich Heiderstedt verlasse.«
»Du willst gehen?«, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass mir diese Vorstellung einen schmerzhaften Stich versetzte. »Wohin denn?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Dimitri. »Irgendwohin, wo mich niemand findet.«
»Aber Semjonow ist doch im Knast«, wandte ich ein und widmete mich den Schürzen, die gefaltet werden wollten.
Dimitri runzelte sorgenvoll die Stirn. »Da wird er sicher nicht lange bleiben.« Er musterte mich eingehend und ich tat als würden die Schürzen meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. »Ich schulde dir was«, sagte er schließlich. »Wenigstens die Wahrheit. Also ... wenn du noch Fragen hast ...«
»Ich verstehe nur einfach nicht, wie das funktioniert«, sagte ich. »Das nonlineare Altern, meine ich.«
Dimitri stützte sich mit den Händen auf den Tresen. »Nun, genau genommen, ist es so, dass ich nie so richtig weiß, welches Alter ich am nächsten Tag haben werde. Mein richtiges Alter ist 27, aber manchmal wache ich auf und bin 83 Jahre oder 9 Jahre oder 56 Jahre oder 17 Jahre oder 6 Monate alt.«
»Und das ist schon immer so gewesen?«
»Seit meiner Geburt«, bestätigte Dimitri nickend.
»Haben dich deine Eltern deswegen weggegeben?«
»Das dachte ich immer«, antwortete Dimitri nach kurzem Zögern. »Weil das die Geschichte ist, die mir mein Vater erzählt hat, aber in letzter Zeit sind mir Zweifel an dieser Version der Ereignisse gekommen.« Er lächelte schief. »Was Frau Gerlach gesagt hat ... über diese Entführung ...«
»Du warst die Prinzessin, nicht wahr?«
»Ja, das ist mir neulich am Tümpel urplötzlich klar geworden. Ich war die Prinzessin. Und ich bin nicht weggegeben worden, weil meine Eltern mich nicht haben wollten.«
»Du wurdest entführt.«
Dimitri betrachtete mich staunend.
»Isabella und ich haben uns in den letzten Tagen schon so einiges zusammengepuzzelt«, erklärte ich. »Deine Eltern haben in der Künstlerkommune am Honberg gelebt. Vielleicht, weil sie dachten, dich dort verstecken zu können. Vor anderen Menschen und vor der Organisation.« Ich gab meine Bemühungen mit den Schürzen auf. »Aber die Organisation hat dich und deine Familie aufgespürt, die Villa niedergebrannt und dich entführt. Nur wie es dann weiterging, das können wir uns nicht erklären.«
»Mein Vater hat früher für die Organisation gearbeitet«, sagte Dimitri und sah über meinen Kopf hinweg zur Uhr über dem Durchgang zu den Hinterzimmern. »Sie waren Wissenschaftler. Physiker, Biologen, Chemiker, Mediziner. Alle mit dem Ziel, die Grenzgebiete des menschlichen Daseins zu erforschen.« Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Wie zum Beispiel Nonlinearität.« Er senkte seinen Blick auf den Tresen. »Früher einmal muss es mehr Menschen wie mich gegeben haben. Aber ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Was ich weiß, ist, dass mein Vater mit den Methoden der Organisation nicht mehr einverstanden war. Kurz nachdem sie mich entführten, hat er ihnen den Rücken gekehrt. Und mich mitgenommen.«
»Er hat dich ein zweites Mal entführt und versteckt.«
»So muss es gewesen sein«, murmelte Dimitri. »Kurz bevor er starb, hat er mich vor Semjonow gewarnt. Anscheinend ist er damals schon hinter mir her gewesen.«
»Aber was will er von dir?«
Dimitri zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht will er sich meine Fähigkeit irgendwie zunutze machen.«
»Und ginge das?«
»Ich wüsste nicht, wie. Für mich ist es auch keine Fähigkeit. Eher eine Krankheit oder ein Fluch.«
Dimitris verbitterter Tonfall ließ mich frösteln.
»Nun, es ist ein Teil von dir. So bist du eben.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist«, konterte Dimitri. »Nicht zu wissen, wer man am nächsten Tag sein wird. Ob man aufstehen oder sprechen können wird.«
»Es muss furchtbar sein«, gab ich zu. »Vor allem, wenn man ganz alleine ist.«
Dimitri senkte den Kopf und schwieg. Wie schon bei unserem Gespräch über seine Eltern schien er seine Gefühle nur mit Mühe und Not zurückhalten zu können.
»Du hast dich nicht um deinen Vater gekümmert, oder?«, fragte ich sanft. »Sondern er sich um dich.«
»Die meiste Zeit ... war es so«, brachte Dimitri stockend heraus. »Aber ich habe nicht gelogen, als ich sagte, er wäre an einer vaskulären Demenz gestorben.« Mit brüchiger Stimme fügte er hinzu: »Und normalerweise habe ich es auch einigermaßen im Griff. Allerdings werden die Zeitsprünge extremer, wenn ich gestresst oder nervös bin.«
Ich sah Dimitri an und konnte nicht anders als an den kleinen Felix zu denken. Jetzt, da ich sein Geheimnis kannte, schien es mir offensichtlich zu sein. Ein warmes Gefühl erfüllte meine Brust. So albern es klingen musste, aber ich hatte Dimitri lieb. Ganz egal, wer oder was er war. Und es hätte wirklich schlimmer kommen können.
»Du ... müsstest ja vielleicht nicht alleine sein«, sagte ich vorsichtig.
Dimitri wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Das weiß ich zu schätzen, Emilia, aber das ist keine gute Idee.«
»Ich hab keine Angst vor Semjonow. Immerhin bin ich jetzt in einer Gang.«
»Es geht nicht um Semjonow«, widersprach Dimitri. »Aber wir könnten nie wirklich zusammen sein. Ich meine, du hast meine Windeln gewechselt.«
»Na und?«, gab ich zurück und unterdrückte die Erinnerung daran. »Du glaubst gar nicht, was manche Menschen in einer Beziehung so alles tun.«
Dimitri errötete leicht. »Das ... nein, das weiß ich wohl tatsächlich nicht.«
»Und die Frau, mit der du dich nach dem Tod deines Vaters getroffen hast?«
»Wie schon gesagt, das war rein freundschaftlich. Mein Vater hat mich vor der Welt abgeschirmt, aber ich hatte eine heimliche Brieffreundin im Nachbarhaus. Das war nichts Ernstes.«
»Na schön«, sagte ich und war tatsächlich ein wenig erleichtert. »Ich werde dich das jetzt nur einmal fragen.«
Dimitri richtete sich auf und straffte die Schultern als würde er mit einem Angriff rechnen. Mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, dass der kleine Felix vor meinem inneren Auge verblasste. Stattdessen sah ich wieder vor mir, wie Dimitri vor zwei Tagen ins Wohnzimmer geplatzt war. Splitterfasernackt bis auf ein Handtuch.
»In ein paar Wochen müssen Isabella und ich zurück an die Uni. Aber Romeo kann jemanden gebrauchen, der das "Zu den Waffeln" am Laufen hält.« Ich schnappte mir eine der Schürzen und hielt sie Dimitri hin. »Du kannst hier wohnen und er wird ein Auge auf dich haben, falls du mal wieder als Felix oder Hörbe enden solltest.«
»Und das mit uns?«, fragte Dimitri.
»Das wird die Zeit zeigen«, erwiderte ich und stemmte die Hände in die Taille. »Also ... was sagst du?«
Dimitri zögerte. »Und wo ist der Haken?«
»Romeo wird dich vermutlich in irgendeine kriminelle Scheiße verwickeln.«
Dimitri lachte. »Na gut. Das soll mir recht sein.« Er wollte die Schürze nehmen, aber ich zog sie zurück.
»Zwei Sachen noch.« Ich spreizte Zeige- und Mittelfinger. »Du hast gesagt, du schuldest mir was. Und das ist wahr. Du schuldest mir ein Soufflé.« Ich deutete hinter mich auf den Kühlschrank. »Und diesmal haben wir sogar Eier.«
Dimitri grinste. »Nur zu gerne. Und was ist das Andere?«
»Ich will deine Haare anfassen. Jetzt gleich.«
»Ist das ein normales Vorgehen in einer Beziehung?«
Ich schwang mich auf den Tresen und streckte die Hand aus. »Nein. Aber ich will es trotzdem.«
Dimitri wich mir aus. »Ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin.«
»Ach, komm. Ich hab dir den Popo eingecremt.«
»Erinnere mich nicht daran.«
»Weißt du, was das Gute an der ganzen Sache ist?«, fragte ich, während ich mich erneut erfolglos nach seinen Haaren streckte.
»Nein. Was?«
»Ich weiß schon, wie du als alter Mann aussehen wirst.« Plötzlich kam mir ein erschreckender Gedanke und ich hätte fast den Halt auf dem Tresen verloren. »Hörbe war schon ein paar Mal im "Zu den Waffeln", bevor das alles angefangen hat. Hast du uns etwa beobachtet?«
»Nein, ich ... nein. Ich war wegen der Avocado-Waffeln hier.«
»Du hast uns beobachtet.«
»Eventuell hat mir der Service gefallen.« Dimitri schlang die Arme um mich und hob mich schwungvoll vom Tresen. »Und jetzt Schluss mit Felix, Björn und Hörbe. Heute bin ich Dimitri.«
Ja, dachte ich, während ich kichernd einen Arm um seinen Hals schlang. Heute bist du Dimitri und ich Emilia. Und morgen ist mir ganz egal.
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So, ihr Lieben, das ist die erste grobe Rohversion von "Nonlinear".
Es ist nicht alles so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe, aber das ist ja das Schöne am Schreiben. Trotzdem hatte ich viel Spaß dabei und ich hoffe, ihr hattet auch euren Spaß beim Lesen. Eventuell sind noch ein paar Fragen offen. Manches klärt sich vielleicht auch erst beim erneuten Lesen. Ich werde die Geschichte jetzt erstmal ein wenig liegen lassen, bevor ich mich an die Überarbeitung mache.
Vielen Dank euch allen für eure Unterstützung, eure Reads, Votes und Kommentare. Das bedeutet mir die Welt und macht mich jeden Tag aufs Neue sehr glücklich.
Dell
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