24-2 | Dimitri Bergmann
Der Zylindermann ließ von mir ab. »Dimitri Bergmann. Endlich habe ich dich gefunden.«
Dimitris Miene verriet, dass er nicht ganz so begeistert darüber war. »Was auch immer Sie wollen, ich kann es Ihnen nicht geben.«
»Das werden wir noch sehen«, erwiderte der Zylindermann und musterte Dimitri als hätte er es mit einer fast ausgestorbenen Tierart zu tun. »Zweiundzwanzig Jahre hat die Organisation auf diesen Moment gewartet und nun-«
»Die Organisation gibt es nicht mehr«, fiel ihm Dimitri ins Wort. »Sie wurde aufgelöst. Nur wenige Jahre nachdem mein Vater sie verlassen hat.« Er machte einen Schritt in den Raum hinein. »Sie handeln auf eigene Faust, Semjonow.«
Der Zylindermann sagte etwas auf Russisch und Dimitri antwortete ebenfalls auf Russisch. Der kurze Austausch klang wenig schmeichelhaft.
»Du wirst mit mir kommen«, sagte der Zylindermann anschließend und presste mir die Waffe gegen die Stirn. Inzwischen war ich schon so daran gewöhnt, bedroht zu werden, dass mein Herz nicht einmal mehr einen Satz machte. »Oder ich werde sie und alle anderen in diesem Raum töten.«
Dimitri nickte. »Ich komme mit dir. Aber du wirst sie und alle anderen in diesem Raum gehen lassen.« Seine Miene war genauso eisern wie die seines Kontrahenten. »Und zwar sofort.«
Der Zylindermann zögerte. Seine Mundwinkel zuckten. »Gut«, sagte er schließlich und löste die Waffe von mir. »Ich werde kooperieren.« Seine Augen funkelten beinahe wahnhaft. »Auch wenn du wohl kaum in der Verfassung bist, mit mir zu verhandeln. Die Transformation muss dir einiges abverlangt haben.«
»Ich bin daran gewöhnt«, erwiderte Dimitri achselzuckend.
»Aber du hast es nicht unter Kontrolle.«
»Nicht immer.«
»Was unter Kontrolle?«, hauchte ich.
Der Zylindermann lachte. »Sie wischt dir den Arsch ab und weiß es nicht einmal.«
Ich hatte das Gefühl, mit beiden Beinen fest auf dem Schlauch zu stehen. »Was? Ich verstehe nicht ... ich ...«
Dimitri warf mir einen flehenden Blick zu. »Lass uns später darüber reden, ja?«
»Warum so etwas Wichtiges auf später verschieben?«, erwiderte der Zylindermann mit einem bissigen Lächeln. Wie hatte Dimitri ihn genannt? Semjonow? In einem gewichtigen Tonfall ergänzte er: »Dimitri Bergmann ist der letzte nonlineare Mensch auf dem Planeten.«
»Nonlinear?«, wiederholte ich und kam mir wie ein besonders einfältiges Schulkind vor.
Dimitri hatte die Brauen so zusammengezogen, dass dazwischen eine steile Zornesfalte entstand.
»Das bedeutet, er altert nicht linear, wie alle anderen Menschen«, erklärte Semjonow.
»Du bist Felix, nicht wahr?«, rief Isabella, die offenbar schneller von Begriff war als ich.
Dimitri presste die Lippen aufeinander und machte eine Kopfbewegung, die sich mit etwas Fantasie als Nicken deuten ließ.
Ich ignorierte die Waffe, die noch immer auf mich gerichtet war und lehnte mich über die Sofalehne. »Du bist Felix?« Bei dem Gedanken wurde mir ein wenig übel. »Aber dann ...« Ich dachte an die Kleidung, die wir bei Dimitri gefunden hatten. »Dann bist du auch Björn und ... und Hörbe?«
»Ich erkläre dir später alles«, sagte Dimitri. Seine Stimme klang wie ein Gummiband kurz vor dem Zerreißen.
»Scheiße, ist das geil!«, fluchte Isabella.
Ich wollte Dimitri in die Augen sehen, aber er wich meinem Blick aus.
»Tja, nun haben wir ein Problem«, bemerkte Semjonow. »Jetzt wissen deine Freunde zu viel.« Er hob seine Waffe. »Und das bedeutet, ich kann sie leider nicht am Leben lassen.«
»Hey«, beschwerte sich Romeo, während er beide Hände auf die Wunde an seinem Bein presste. »Schonmal was von Ganovenehre gehört?«
»Bei dem Outfit sollte man meinen, wir hätten es mit einem Gentleman zu tun«, bemerkte Aurora, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm hielt. »Aber ganz offensichtlich ist unter diesem Hut nichts als heiße Luft.«
»Du siehst, die einzigen Gentleman-Gauner in Heiderstedt sind wir«, erwiderte Romeo.
Aurora schnaubte. »Dass ich nicht lache.«
»Man soll sein Gegenüber eben nicht nach dem Aussehen beurteilen«, fuhr Romeo fort. »Unser russischer Kollege bevorzugt eben ein Outfit aus dem Kostümverleih.«
»Ja«, knurrte Aurora. »Genauso verstaubt wie seine Organisation von Deppen und Losern.«
Semjonow deutete mit seiner Waffe auf sie. »Wenn ich du wäre, würde-«
»Na los! Auf ihn!«, brüllte Michi, stemmte sich auf die Beine und warf sich gegen Semjonow.
Patrice, Léon, Toni und Kevin machten es ihm nach.
Ein Schuss ertönte, verfehlte jedoch sein Ziel und bohrte sich in die Decke. Der Knall machte mich kurzzeitig taub.
Derweil hatten die Männer Semjonow zu Boden gerungen.
Isabella stürzte sich auf ihn und rammte ihm das Messer in den Handrücken, sodass er die Pistole loslassen musste.
»Wo ist die andere Waffe?«, rief ich – oder zumindest glaubte ich, dass ich das tat, denn ich konnte mich nicht hören.
Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte ich, wie Semjonow mit der freien Hand in den Taschen seines Umhangs kramte und schließlich Auroras Pistole hervorzog.
»Bella! Léon!«
Babu rappelte sich auf. Er wollte Semjonow wohl die Waffe aus der Hand treten, geriet dabei jedoch ins Stolpern und erwischte ihn mit dem Fußspann an der Schläfe. Dabei trat er ihm nicht nur den Hut vom Kopf, sondern blies ihm anscheinend auch noch die Lichter aus. Jedenfalls blieb Semjonow liegen und rührte sich nicht mehr.
Isabella entwand ihm die zweite Waffe, sprang auf die Beine und taumelte außer Reichweite. »Haben wir's?«, hörte ich ihre Stimme durch das schrille Pfeifen in meinen Ohren.
»Ja. Wir haben's!«, rief Léon, während Patrice und Kevin den Bewusstlosen nach weiteren Waffen abtasteten und Toni mit der anderen Pistole davonstolperte.
Michi kümmerte sich derweil um Leni, die sich in der Ecke zwischen Sofa und Vitrine zusammengekauert hatte und sich die Hände auf die Ohren presste.
»Was jetzt, Dogg?«, fragte Patrice.
Romeo zog sich an einer Schrankwand auf die Beine und reichte Aurora die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Fesselt ihn. Dann müssen wir nach Max und Moritz sehen.«
»Du brauchst einen Krankenwagen«, wandte Isabella ein.
»Ach was, nur ein Streifschuss«, wehrte Romeo ab.
Ich löste mich aus meiner Starre und durchquerte das Wohnzimmer. Dimitri, der noch immer in der Tür stand, wich zur Seite, damit ich an ihm vorbei ins Elternschlafzimmer gehen konnte. Ich wusste selbst nicht, was ich erwartete, dort vorzufinden. Der Maxi-Cosi war leer. Von Felix fehlte jede Spur. Bei diesem Anblick dämmerte mir so langsam, dass Semjonow die Wahrheit gesagt hatte. Dimitri war Felix. Wie auch immer das möglich war.
»Glaub mir, das ist mir mindestens so unangenehm wie dir«, sagte Dimitri.
Ich drehte mich um und wäre beinahe gegen ihn gestoßen. Rasch wich ich einen Schritt zurück. »Was bist du?«
»Ein Mensch«, antwortete Dimitri und zupfte das Handtuch zurecht, das er aus dem Badezimmer geklaut haben musste. Jedenfalls war es mir, als würde ich das blau-gelbe Blümchenmuster wiedererkennen. »Ich altere nur ein wenig anders als andere Menschen.«
»Und wie ... wie kommt das?«
»Ich weiß es nicht. Mein Vater wollte es herausfinden, aber er ist leider gestorben, bevor er damit Erfolg hatte.«
Ich rieb mir das Gesicht. »Oh Mann ... was ich alles gemacht und gesagt habe ...«
»Keine Sorge. Ich erinnere mich kaum an die Dinge, die passieren, während ich ein Baby bin.«
»Kaum?«
Dimitri lächelte verlegen. »Kaum.« Sein Lächeln verschwand so schnell wie es gekommen war. »Es tut mir sehr leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe.«
»Ich ... ich muss nachdenken«, sagte ich und floh ein weiteres Mal vor ihm in den Flur hinaus.
In meinem Kopf herrschte ein einziges, von Erschöpfung und Schmerz getränktes Chaos. Ich wollte einfach nur weg von diesem Durcheinander. Irgendwohin, wo die Dinge Struktur hatten. Linear verliefen.
Doch zunächst sollte mir keine Ruhe vergönnt sein.
Schon auf der Treppe fiel mir das flackernde Blaulicht auf, das den Gastraum erfüllte. Dann stolperte ich an zwei großen Blutlachen vorbei ins Freie. Dort standen mehrere Polizeiwagen und Rettungsfahrzeuge.
»Emilia!« Matteo nahm mich in Empfang. »Geht es dir gut?«
Ich nickte gedankenverloren. »Ja, ja ... hast du die Polizei gerufen?«
»Ich wollte euch die Milch und die Eier vorbeibringen«, sagte Matteo. »Normalerweise sind Romeo und die Gang ja noch lange wach, aber als ich hier ankam waren überall die Rollläden heruntergelassen. Das kam mir komisch vor. Und dann hab ich das kaputte Glas gesehen und die Schüsse gehört.« Er fasste mich m Arm und hielt mich fest, bevor ich – geblendet von den vielen Lichtern – auf die Straße laufen konnte. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Ich ignorierte seine Frage und sah mich um. Hinter mir wurde soeben Aurora in einen Polizeiwagen verfrachtet.
Romeo stand am Straßenrand und winkte ihr.
Die Sirene eines Krankenwagens ging los, dann setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Ich schätzte, dass es Max oder Moritz an Bord hatte. Vielleicht auch Semjonow.
»Sind sie tot?«, hauchte ich.
»Wer? Diese beiden laufenden Schrankwände?« Matteo schüttelte den Kopf. »Nein, aber sie haben schwere Schusswunden.« Er fasste mich an den Schultern und drehte mich herum, sodass ich ihn ansehen musste. »Was war denn bei euch los? Wer sind diese Leute?«
Ich rettete mich in ein hilfloses Schulterzucken. »Keine Ahnung.«
»Emmi!« Isabella kam aus dem "Zu den Waffeln" ins Freie gestürzt und rannte auf mich zu.
Ich eilte ihr entgegen und wir fielen uns in die Arme.
In diesem Moment spürte ich zum ersten Mal die kühle Nachtluft auf meiner Haut.
»Es ist vorbei. Wir haben's geschafft«, schluchzte ich und drückte meine Schwester fest an mich.
Sie erwiderte die Umarmung. Ihre dicken, schwarzen Haare kitzelten mich an der Wange.
»Hey«, erklang Romeos Stimme. »Was ist mit mir?«
»Wieso bist du nicht im Krankenhaus?«, gab ich zurück.
Romeo humpelte zu uns. »Hab ich doch gesagt. Ist nur ein Streifschuss. Halb so wild.« Er zog uns beide an seine Brust und senkte die Stimme. »Die Polizei wird uns verhören und wir müssen uns absprechen.«
»Am besten bleiben wir so nahe an der Wahrheit wie möglich«, raunte Isabella.
Romeo nickte. »Das mit Leni nehme ich auf meine Kappe. Und was die Kohle und das goldene Ei angeht ... wir sagen, wir haben's gefunden. Und dann sind Aurora und dieser Sem-blabla aufgetaucht und haben sich darum gezofft. Okay?«
Isabella und ich nickten.
»Denkt dran, ihr gehört jetzt zur Gang«, flüsterte Romeo. »Einer für alle. Und alle für einen. Klar?«
Wieder nickten wir. In meinem aktuellen Zustand hätte ich vermutlich zu allem Ja gesagt. Letztendlich war ich bloß froh darüber, dass wir alle unversehrt waren.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro