
20-1 | Plötzlich Mutter
»Fuck«, hauchte Romeo langgezogen.
»Das ist doch ... das kann doch nicht ...«, stammelte Isabella, während sie nach den richtigen Worten suchte, um unserer Überraschung Ausdruck zu verleihen.
Ich schluckte schwer. Das Schreien des Babys wirkte in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper. Doch dieser Einruck entstand nicht nur durch den dunklen Wald, sondern auch durch meine eigenen Gedanken. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, ein Baby bei Dimitri vorzufinden. Vielleicht war das sogar das einzige Szenario, das ich mir nicht ausgemalt hatte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schwang ich mich über den niedrigen Zaun und bahnte mir meinen Weg durch den dahinterliegenden Garten. Der Geruch der wilden Blumen stach mir in die Nase und das Blut rauschte mir in den Ohren. Plötzlich stand ich auch schon auf der Veranda und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Dimitri!«
Niemand reagierte. Nichts war zu hören, außer dem Geschrei des Babys. Der Klang war herzzerreißend und unmöglich zu ignorieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Dimitri bei dieser Geräuschkulisse einfach weiterschlafen würde. Sofern er denn überhaupt schlief und nicht etwa neben dem Klo ohnmächtig geworden war. Oder Schlimmeres.
Romeo erschien neben mir auf der Veranda und spähte durch eines der Fenster. »Zu dunkel«, sagte er.
Ich versuchte es noch einmal. »Dimitri!«
Keine Reaktion.
»Okay, geh' zur Seite«, befahl Romeo.
»Vergesst nicht die Kamera«, bemerkte Isabella, während sich Romeo bereit machte, die Tür einzutreten.
»Aber wir müssen doch was unternehmen«, erwiderte ich und gab Romeo mit einem Nicken zu verstehen, dass ich diese Sache auf meine Kappe nehmen würde.
Mit drei kräftigen Tritten hatte Romeo die Tür aus den Angeln gebrochen. »Bleibt hinter mir«, sagte er und streckte den Arm aus, um mich zurückzuhalten.
Isabella schnaubte. »Wovor willst du uns beschützen? Vor vollen Windeln und Babykotze?«
Während Romeo noch nach einer passenden Erwiderung kramte, duckte ich mich unter seinem Arm hindurch und betrat einen dunklen Flur. Meine Finger fanden den Lichtschalter neben der Tür und eine UFO-förmige Deckenlampe erwachte zum Leben. Hohe, holzverkleidete Wände, eine gusseiserne Garderobe und eine schwere Kommode schälten sich aus der Finsternis. Der Geruch von Leim und Mottenkugeln hing in der Luft. Auf der Kommode standen eine kleine Blumenvase, sowie eine Porzellanschale mit einem Schlüsselbund und etwas Kleingeld darin. An der Garderobe hingen eine abgewetzte Lederjacke und eine blaue Windjacke. Letztere musste Dimitri gehören. Erstere hatte ich schon einmal gesehen – und zwar bei Hörbe.
»Was hat das zu bedeuten?«, flüsterte Isabella.
»Keine Ahnung«, antwortete ich.
Inzwischen war das Baby-Geschrei verstummt. Nur noch ein leises Quäken und Brabbeln deutete darauf hin, dass wir nicht alleine waren.
Vorsichtig setzte ich meinen Weg fort und lugte dabei auch kurz ins Badezimmer, das bis auf ein paar Zahnputz- und Rasierutensilien auf dem Waschbeckenrand kahl und unbewohnt wirkte.
»Sieh mal«, hauchte Isabella und deutete auf die Klamotten, die von der Duschstange baumelten. Alle waren ganz eindeutig für ein Kind vorgesehen – oder für mehrere Kinder, denn sie besaßen alle unterschiedliche Größen. Während ich die T-Shirts und Hosen betrachtete und dabei immer tiefer in ein finsteres Labyrinth aus Fragen und Rätseln zu geraten schien, machte mich Isabella auf ein Paar ausgetretene Sportschuhe und zwei darin steckende kunterbunte Ringelsocken aufmerksam. Beides für kleine Füße.
»Ich will wirklich keinen Witz über Dimitris Schuhgröße machen müssen«, murmelte Isabella.
»Die Socken gehören Björn«, sagte ich und es kam mir vor, als würden die Worte meinen Mund verlassen, ohne mein Gehirn auch nur aus der Ferne gesehen zu haben.
»Björn?«, wiederholte Isabella. »Der Björn?«
Ich nickte, während sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Die Socken gehörten ganz eindeutig dem kleinen Jungen, der sich vor Pluto auf die Mülltonnen geflüchtet hatte und der mir später im "Zu den Waffeln" erzählt hatte, dass er Superheld werden wollte.
»Hey, kommt mal her!«, rief Romeo.
Wir folgten dem Klang seiner Stimme ins angrenzende Schlafzimmer. Die einzigen Möbel waren ein Bett mit kariertem Bettzeug und ein moderner Kleiderschrank mit Spiegeltüren, der sich nicht so recht ins rustikale Ambiente einfügen wollte.
»Seht euch das an«, sagte Romeo und deutete beinahe anklagend auf das Baby, das inmitten der zerwühlten Bettwäsche lag. Es war kaum größer als mein Unterarm und ich schätzte, dass sein Kopf in meine offene Hand passen würde. Mit weit aufgerissenen Augen starrte es an die kahle Decke, strampelte mit den Beinen und gab hin und wieder ein weinerliches Quäken von sich.
»Heilige Scheiße«, keuchte Isabella.
»Das kannst du laut sagen«, brummte Romeo.
»Habt ihr schon nach Dimitri gesehen?«, wollte ich wissen.
»Ich hab mich umgesehen. Hier ist niemand, außer ...« Romeo deutete erneut auf das wimmernde Baby.
Isabella schnaufte. »Dann hat Dimi das kleine Würmchen einfach allein gelassen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich und setzte mich auf die Bettkante.
Das kleine Würmchen war eindeutig ein kleiner Junge. Er quietschte und tastete ungelenk mit seinen Fingerchen nach mir.
Ich nahm das Männerhemd, das neben ihm im Bett lag, und wickelte ihn darin ein. Dann hob ich ihn auf den Arm und wiegte ihn sanft hin und her, so wie ich es bei Michis ältester Tochter gemacht hatte, als sie noch ein Baby gewesen war. Zugegeben, das war lange her, aber das kleine Würmchen beschwerte sich zumindest nicht über die Behandlung. Es sah mich bloß aus großen Augen an. Beinahe ehrfüchtig.
»Und was machen wir jetzt?«, seufzte Isabella.
»Wir können ihn nicht hier lassen«, erwiderte ich.
Romeo stöhnte. »Wenn ich diesen Dimitri erwische, mach' ich ihn kalt.«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, entgegnete Isabella. »Der kleine Scheißer braucht seinen Vater noch.«
»Ihr denkt, Dimitri ist sein Vater?«, fragte ich.
Isabella sah mir über die Schulter. »Wieso nicht? Eine gewisse Ähnlichkeit ist doch vorhanden.«
Ich musterte das kleine, rundliche Gesichtchen und die hübschen, lebkuchenbraunen Augen. Ja, eine Ähnlichkeit war definitiv vorhanden.
»Wir sollten ihn zur Polizei bringen«, sagte Romeo. »Oder zum Jugendamt.«
»Genau. Und da legen wir ihn einfach vor die Tür«, spottete ich. »Auf keinen Fall.«
»Dann nehmen wir ihn mit«, entschied Isabella.
Romeo brummelte etwas Unverständliches und bückte sich nach der Jeanshose, die neben dem Bett auf dem Boden lag. Ich war mir sehr sicher, dass sie Dimitri gehörte. Eventuell hatte er sie sogar heute getragen, genau wie das Hemd, in das ich seinen Sohn eingewickelt hatte. Romeo fasste in die Gesäßtasche, zog ein Portemonnaie hervor und klappte es auf. Sofort entwich ihm ein ungläubiges Schnauben. »Seht euch das an.«
»Was?«, fragten Isabella und ich im Chor.
Romeo präsentierte uns zwei Ausweise. Beide auf den Namen Dimitri Bergmann, geboren am siebzehnten Dezember 1992 in Heiderstedt. Nur die Fotos unterschieden sich.
»Das ist doch nicht möglich«, hauchte Isabella. »Ist das Hörbe?«
Auf einem der Ausweise war ganz eindeutig Hörbe zu sehen, auch wenn er mir ohne den Hut seltsam fremd vorkam. Fremd und gleichzeitig bekannt.
»Das ist mir jetzt ganz eindeutig zu krass«, sagte Romeo. »Lasst uns abhauen.«
Ich stimmte ihm zu. Vor Ort würden wir ohnehin nichts mehr ausrichten können und morgen konnten wir nach Dimitri suchen oder zur Polizei gehen.
»Bella, sieh' mal im Bad oder im Wohnzimmer nach, ob du irgendwo Windeln findest«, wies ich meine Schwester an. »Ich fürchte, die werden wir noch brauchen können.«
Isabella huschte los, kehrte aber schon bald unverrichteter Dinge wieder zurück. »Keine Windeln. Aber dafür ein ganzer Haufen Kinderschuhe in unterschiedlichen Größen.«
»Na toll«, ächzte Romeo.
»Das wird immer gruseliger«, sagte ich.
»Das meinte ich nicht«, erwiderte Romeo. »Wo sollen wir denn um diese Uhrzeit Windeln herbekommen?«
»Ruf' Michi an. Vielleicht haben sie noch einen Vorrat. Oder Léon, falls er und Angelita schon vorgesorgt haben.«
Leise brummelnd verzog sich Romeo vor die Tür, um in Ruhe telefonieren zu können.
»Ich kann's echt nicht fassen«, sagte Isabella mit Blick auf das Baby, das in meinem Arm lag. »Und ganz plötzlich bin ich Tante. So schnell kann's gehen.« Sie musterte mich sorgenvoll. »Ich glaube nicht, dass ich schon bereit dafür bin.«
Ich verdrehte die Augen. »Das ist ja nur vorübergehend.«
»Aber was wird aus dem kleinen Kerlchen, wenn sein Vater in den Knast muss?«
»Wieso sollte Dimitri in den Knast müssen?«
»Dokumentfälschung«, schlug Isabella vor. »Und wer weiß, was es mit dem ganzen anderen Kram hier auf sich hat?«
»Vielleicht teilen sich Hörbe und Dimitri ja die Hütte. Und vielleicht ist Björn der Enkel von Hörbe.«
Isabella spitzte spöttisch die Lippen. »Klar. Und Hörbe heißt zufälligerweise auch Dimitri Bergmann.« Sie schnippte mit den Fingern. »Und er hat irgendeinen perversen Schuh-Tick.«
»Es gibt dafür bestimmt eine vernünftige Erklärung«, erwiderte ich, um die Unterhaltung zu beenden. Ich wollte nicht schlecht über Dimitri reden, während ich seinen Sohn auf dem Arm trug.
»Michi bringt uns Windeln vorbei«, rief Romeo von draußen. »Und jetzt kommt. Ich will hier weg.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro