18-2 | Treffpunkt Tümpel
Der Anblick von Lenis Mutter traf mich mitten ins Herz. Sie sah so traurig aus. Nein, "traurig" war das falsche Wort. Sie sah aus, als wäre sie zerstört worden. Wie eine menschliche Ruine, die nur noch von Erinnerungen an eine bessere Zeit zusammengehalten wurde.
»Wir sollten mit ihr reden«, sagte Dimitri und ich war froh, dass der Vorschlag von ihm kam.
»Ja, aber vorsichtig«, erwiderte ich. »Damit wir sie nicht erschrecken.«
Yvonne Gerlach und ich kannten uns eigentlich nur vom Sehen. Lenis Mutter war nie viel draußen gewesen und hatte auch nie Kontakt zu ihren Nachbarn gesucht. Genau genommen, hatte sie immer den Anschein erweckt, sehr scheu und zurückhaltend zu sein. Ganz anders als ihre Tochter, die überhaupt nicht scheu und zurückhaltend war, sondern offen auf andere Menschen zuging.
Hoffentlich ist ihr das nicht zum Verhängnis geworden, dachte ich.
»Am besten tun wir so, als wären wir nur ein harmloses Pärchen, das zufällig vorbeigekommen ist«, schlug ich vor.
Dimitri schmunzelte. »Das sind wir ja auch, oder?«
Der Logik konnte ich mich nicht entziehen. Genauso wenig wie dem Anblick seiner warmen, sanft und freundlich wirkenden Augen. In ihnen lag eine beruhigende Schwere, die meinen Blick festhielt wie das Gravitationsfeld eines noch unerforschten Himmelskörpers.
»Ja, das sind wir«, sagte ich.
Wir fassten uns erneut an den Händen und schlenderten betont lässig um den Tümpel herum. Doch unsere kleine Scharade war vollkommen umsonst. Yvonne Gerlach schien uns gar nicht wahrzunehmen. Mit leerem Blick starrte sie aufs Wasser hinunter. Ich fragte mich, ob sie schon mit der Polizei gesprochen hatte. Andernfalls wäre es wohl unsere Pflicht, die Behörden über ihren Aufenthaltsort zu informieren. Ich brachte es jedoch nicht übers Herz, das Telefon zu zücken und die 110 zu wählen. Wenn Lenis Mutter in das Verschwinden ihrer Tochter verwickelt war, dann sicher nicht aus krimineller Absicht. Bestimmt hatte sie das Mädchen nur vor ihrem gewalttätigen Ehemann beschützen wollen.
»Frau Gerlach?«, fragte ich, als wir bis auf wenige Schritte heran waren.
Sie reagierte nicht. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Anscheinend war sie in Gedanken ganz woanders.
Ich spähte hilfesuchend zu Dimitri, der mit der Hand die Äste einer Trauerweide zur Seite bog. Er fing meinen Blick auf, nickte kaum merklich und fragte: »Ist Leni oft hier gewesen?«
Bei der Erwähnung ihrer Tochter schreckte Frau Gerlach deutlich zusammen. Blinzelnd kam sie zu sich und musterte Dimitri von Kopf bis Fuß. Kurz blitzte so etwas wie Hoffnung in ihren Augen auf, dann kehrte der Schmerz zurück und ihr Blick wurde wieder glasig.
»Geht es Leni gut?«, setzte ich nach und bemühte mich, so sanft wie möglich zu klingen.
Frau Gerlach seufzte ohne mich anzusehen oder einen Ton von sich zu geben. Dabei hob und senkte sich ihr ganzer Körper, als würde sie kurz auf die Zehenspitzen steigen.
»Sie wissen es nicht«, sagte Dimitri. »Nicht wahr?«
Seine Worte brachten Frau Gerlach förmlich zum Schmelzen. Sie schien in sich zusammenzusacken wie ein Schneemann in der Sonne. Ihre Schultern sanken herab, ihre Mimik verlief und Tränen quollen ihr aus den Augen. »Nein«, stammelte sie mit brüchiger Stimme.
Ich hielt es nicht mehr aus, löste mich von Dimitri und trat zu ihr ans Ufer. Am liebsten hätte ich ihr tröstend die Hand auf die Schulter gelegt, aber ich hatte Angst, dass sie dann die Flucht ergreifen würde. »Was ist denn passiert?«, fragte ich mitfühlend.
Frau Gerlach zuckte hilflos mit den Schultern. »Leni ist ... verschwunden.« Sie schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Augen. »Die Polizei denkt ... sie wäre weggelaufen, aber das würde ... meine Kleine nie tun.«
Dimitri und ich tauschten hinter ihrem Rücken Blicke. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen. Was war schlimmer als nicht zu wissen, was mit dem eigenen Kind geschehen war? Andererseits war da eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf, die ihr zumindest eine Teilschuld an der ganzen Sache geben wollte. Immerhin hatte sie ihre Tochter im Stich gelassen und sich aus dem Staub gemacht. Doch was wusste ich schon von ihren Problemen? Mit Sicherheit stand es mir nicht zu, über sie zu urteilen.
»Das heißt, Sie haben Leni nicht gesehen?«, erkundigte sich Dimitri.
Frau Gerlach schüttelte den Kopf. Ihre Lippen zitterten. »Leni kommt manchmal her«, sie deutete mit einem schwachen Kopfnicken auf den zugewucherten Tümpel, »wegen der Enten. Sie mag es ... ihnen beim Brüten zuzusehen.« Ein trauriges Lächeln quälte sich auf ihr Gesicht. »Sie wollte dabei sein, wenn sie schlüpfen, aber jetzt ... hat sie es verpasst.«
»Leni wird bestimmt noch viele Entenküken schlüpfen sehen können«, sagte ich, auch wenn ich tief in mir drin nicht so optimistisch war wie ich vorgab. Kleine, gutgläubige Mädchen, die schon seit Tagen verschwunden waren, tauchten nicht unbedingt von alleine wieder auf. Jedenfalls nicht lebendig. »Denken Sie ... Ihr Mann ...«
Ich konnte den Satz nicht einmal beenden, da fuhr es wie ein Blitz durch Frau Gerlach. »Andreas würde ihr nie was antun! Dazu wäre er gar nicht fähig!«
Mit Mühe unterdrückte ich die bissige Erwiderung, die mir auf der Zunge lag.
»Gibt es sonst einen Ort, an den sie gegangen sein könnte?«, fragte Dimitri.
Frau Gerlachs Lippen formten stumme Worte. Dann blinzelte sie. Einmal. Zweimal. Dreimal. Als ich schon dachte, dass sie endgültig verstummt wäre und uns vergessen hätte, sagte sie: »Bestimmt ist sie verschleppt worden, so wie das kleine Mädchen damals.«
»Welches kleine Mädchen?«
»Das Mädchen oben aus der Villa.«
Mir rieselte es eiskalt den Rücken herunter. Plötzlich schien der Park kälter und düsterer geworden zu sein. Der Tümpel gluckerte leise, als würde der unsichtbare Strudel unter dem Pflanzenteppich zum Leben erwachen. »Was ist mit dem Mädchen passiert?«
»Ich weiß es nicht.« Frau Gerlach hob und senkte die Schultern. »Ich bin damals noch zur Schule gegangen. Es hieß, ein Mädchen würde unter dem Dach der Künstlerkommune wohnen, aber ich glaube, niemand hat sie je wirklich zu Gesicht bekommen. Nur ihren Schatten am Fenster. Wie ein Gespenst.« Sie verlagerte unruhig ihr Gewicht. »Aber als es dann gebrannt hat, ist kein kleines Mädchen gefunden worden.«
»Vielleicht hat es sie nie gegeben«, schlug ich vor.
»Vielleicht«, erwiderte Frau Gerlach ohne echte Regung in der Stimme. »Aber Karel hat damals behauptet, er hätte gesehen, wie sie das Mädchen aus der Stadt gebracht haben.«
»Karel?«
»Karel Reimann.« Frau Gerlach kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Aber er war damals schon seltsam. Deshalb hat ihm niemand geglaubt.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Dass Reimann schon immer seltsam gewesen war, glaubte ich ihr sofort, aber dann erinnerte ich mich wieder an die Betten und an das Foto, das wir oben in der Villa gefunden hatten. Möglicherweise hatte tatsächlich ein Mädchen in der Künstlervilla gelebt. Und möglicherweise war sie tatsächlich verschleppt worden. Von einer Organisation, deren Mitglieder lange Umhänge und schwarze Zylinder trugen. Oder war ich schon auf dem besten Weg, so wie Reimann zu werden? Sah ich bereits Bedrohungen und Verschwörungen in jedem Schatten?
Mein Blick fiel auf Dimitri, der merklich still und blass geworden war. Seine Miene wirkte starr, seine Augen waren in Aufruhr. Irgendetwas war geschehen und ich hatte es nicht einmal bemerkt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.
Dimitri nickte wie eine Aufziehpuppe. Dann fuhr er ohne eine Erklärung herum und stapfte zurück zum Kiesweg.
Ich verabschiedete mich hastig von Frau Gerlach und rannte ihm nach. »Dimitri!«
Oben an der Böschung holte ich ihn ein und warf mich ihm förmlich in den Weg. »Was ist denn los? Du siehst aus als-«
»Nein, nein, es geht mir gut«, wehrte Dimitri ab, aber er klang als hätte er Steine im Mund. Feine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Die Haut um seine Nase herum war weiß wie Schnee und dunkle Schatten untermalten seine Augen, die unruhig umherzuckten und keinen festen Halt zu finden schienen. Er sah aus wie Bella, als sie sich eine fiese Lebensmittelvergiftung eingefangen hatte, weil sie entgegen unserer Warnungen unbedingt das Tiramisu hatte essen müssen, das meine Eltern vor dem Urlaub im Kühlschrank vergessen gehabt hatten.
»Du siehst nicht aus als ob es dir gut gehen würde«, bemerkte ich.
Dimitri wich mir aus und stakste auf seinen langen Beinen weiter.
Erneut lief ich ihm nach. »Wo willst du denn hin?«
»Muss gehen«, antwortete Dimitri knapp. Dann blieb er plötzlich stehen, krümmte sich und würgte, allerdings ohne sich zu übergeben. Der Hut rutschte ihm vom Kopf und landete im Gras.
»Warte, ich bringe dich nach Hause«, sagte ich, glitt an seine Seite und streichelte ihm mit der Hand über den Rücken.
Dimitris heftige Reaktion traf mich unvorbereitet. Er richtete sich ruckartig auf, schüttelte meine Hand ab und sah mir fest in die Augen. Die Dunkelheit darin, die mir so warm und freundlich erschienen war, hatte sich zu einer unüberwindbaren Mauer verdichtet. »Nein. Ich muss jetzt gehen. Und du wirst nicht mitkommen.« Eine erneute Welle der Übelkeit schien über ihn hinwegzupeitschen, aber dieses Mal gab er ihr nicht nach, sondern entfernte sich eilig in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Erst als er im Schatten der Kastanien verschwand, begriff ich so langsam, dass die vergangenen Minuten tatsächlich geschehen waren. Dimitri hatte mich stehenlassen. Einfach so. Und dabei hatte unser Date so gut angefangen. Doch – wenn ich ganz ehrlich war – hatte die Verabredung schon nach dem Kino eine seltsame Wendung genommen. Nicht, dass ich mich beschweren wollte. Seltsam war in Ordnung. Jedenfalls, solange es Dimitri betraf. Ich konnte und wollte ihm sein Verhalten nicht übel nehmen. Dafür war er einfach zu niedlich. Allerdings fragte ich mich so langsam, was hier eigentlich gespielt wurde.
Ich bückte mich nach Dimitris Hut, hob ihn auf und drehte ihn nachdenklich in den Händen. Was auch immer Dimitri so aufgewühlt haben musste, es hatte bestimmt mit Frau Gerlach, Leni oder der Prinzessin zu tun.
Mir kam ein aberwitziger Gedanke. Hatte er das verschwundene Mädchen vielleicht gekannt? Wenn er 1992 geboren worden war, musste er zum Zeitpunkt ihres Verschwindens noch ein kleiner Junge gewesen sein. Mit Sicherheit hatte er damals noch in Heiderstedt gelebt. Vielleicht waren sie befreundet gewesen. Wenn ich damit Recht hatte, war er vielleicht gar nicht wegen seiner Familie nach Heiderstedt zurückgekehrt. Und der Zylindermann war vielleicht auch nicht zufällig hier aufgekreuzt. Bei diesem Gedanken wurde mir auch ganz schön mulmig im Magen.
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