12-1 | Tafelrunde
Am liebsten hätte ich Dimitri nie wieder losgelassen und für eine Weile saßen wir nebeneinander, als wären unsere Händflächen in Industriekleber getaucht worden, aber dann erinnerte uns Romeo daran, dass wir noch einen Job zu erledigen hatten, für den wir beide Hände brauchten.
Den Rest des Tages arbeiteten wir Seite an Seite und nutzten jede Gelegenheit, um uns körperlich nahe zu sein. Mal berührten wir uns flüchtig an den Armen, mal streiften sich unsere Hände, wenn wir Besteck austauschten, mal fasste Dimitri etwas zu nahe an mir vorbei, um die Schüssel mit dem Teig erreichen zu können. Es war ein Wettbewerb, bei dem wir nicht gegeneinander antraten, sondern gegen unsere Hemmungen - und gegen Romeos lauernde Blicke.
Mein Cousin schien sich nicht allzu viele Sorgen wegen Aurora zu machen, aber als wir den Laden um siebzehn Uhr schlossen, klemmte er sich ans Telefon und trommelte seine Gang zu einem konspirativen Treffen im Target zusammen. Ich bestand darauf, ihn zu begleiten. Isabella versprach mir per WhatsApp, vor Ort zu uns zu stoßen.
Kurz nach Ladenschluss machten wir uns auf den Weg. Romeo kutschierte uns mit Dany zur Werkstatt, wo Patrice soeben an einem uralten Mofa herumschraubte, während Michi und Léon abwechselnd mit einem Fußball auf die Garagentore schossen, was bei jedem Treffer ein lautes, metallisches Scheppern verursachte. Kevin hatte sich derweil auf einen Reifenstapel zurückgezogen und kritzelte auf seinem Notizblock herum. Er war hauptberuflich Tätowierer, aber auch eine echte Künstlernatur. Meiner bescheidenen Meinung nach besaß er wirklich Talent. Aber genau wie Romeo und seine anderen Freunde wehrte er sich geradezu mit Händen und Füßen dagegen, etwas aus seinem Leben zu machen. Gegen das Tätowieren war natürlich nichts einzuwenden, aber Kevin war talentiert genug, um Kunst zu studieren. Bestimmt hätte er die Aufnahmeprüfung mit links geschafft. Stattdessen zog er es vor, mit einer Gruppe Kleinstadt-Gangster in dunklen Hinterhöfen abzuhängen und amateurhafte Diebstähle zu begehen.
Die Männer begrüßten sich mit Handschlag. Auch Dimitri wurde in diese hohe Kunst eingeführt. So wie Léon es erklärte, klang es wie eine eigenständige Wissenschaft. Ich hielt mich im Hintergrund, denn ich war noch immer sauer auf Romeo - und indirekt auch auf den Rest der Bande. Wenn sie nicht so dämlich gewesen wären, ein Lager der Hyänen zu überfallen, säßen wir jetzt nicht in diesem Schlamassel. Von mir aus sollten sie Aurora ihre Diebesbeute zurückgeben. Dann wäre das Problem hoffentlich aus der Welt und ich könnte in meine rosarote Zuckerwattewölkchenrealität zurückkehren.
Unruhig auf der Stelle tretend, ließ ich meinen Blick über die trostlose Betonlandschaft zwischen Parkplätzen, Garagen und heruntergekommenen Sozialbauten schweifen. Sogar die spärlichen Grünflächen wirkten irgendwie hoffnungslos. Daran konnte auch eine rostige Schaukel nichts ändern. Sie wirkte eher wie ein löchriges Alibi. Frei nach dem Motto: Aber für die Kinder ist doch gesorgt.
»Toni ist noch auf der Arbeit, Dogg«, sagte Patrice, tätschelte den Sattel des Mopeds und wischte sich mit dem Unterarm etwas schwarze Schmiere aus dem Gesicht. »Er kommt später.«
»Babu erwartet uns im Target«, ergänzte Léon und bewegte die Hände, als würde er einen unsichtbaren Cocktailshaker schütteln.
Romeo nickte. »Alles klar. Gehen wir.«
Michi hämmerte den Ball noch einmal fest gegen ein Garagentor, dann schnappte er sich seine Bierflasche von einem Stapel Paletten und schloss zu uns auf. Die Luft war angenehm mild und es herrschte eine spätsommerliche Atmosphäre, die in mir den Wunsch aufkeimen ließ, an einem tropischen Ort zu sein. Isabella fand Strandurlaube schrecklich langweilig, aber ich konnte mir nichts Entspannenderes vorstellen. Auch wenn ich auf ständiges Eincremen und Sand in der Poritze gut verzichten gekonnt hätte. Von Urlaub war ich derzeit jedoch so weit entfernt, wie Heiderstedt vom Meer. Mein Blick traf den von Dimitri und ich musste mich korrigieren: Im Moment wäre ich an keinem anderen Ort lieber gewesen.
»Also nochmal«, sagte Michi. »Der Anführer der Hyänen ist eine Frau?«
»Wieso klingst du so überrascht?«, fragte Léon.
Michi zog eine Grimasse. »Das ist doch keine Aufgabe für eine Frau.«
»In welchem Jahrhundert lebst du?«, erwiderte ich.
»Angelita könnte das auch«, sagte Léon.
»Was?«
»Irgendwo mit 'ner Waffe aufkreuzen.« Léon schmunzelte. »Sie hat ein ziemliches Temperament.«
Ich war mit seiner Frau zur Schule gegangen und konnte diese Aussage nur bestätigen. Angelita hatte einen Ton wie in einer Armeekaserne und führte in Haus und Hof ein strenges Regiment.
»Diese Aurora ist ein richtige Gangsterbraut«, seufzte Romeo. Als ihm klar zu werden schien, wie das klingen musste, räusperte er sich. »Ich meine, diese Aurora ist 'ne ziemliche Bitch, einfach bei uns aufzutauchen, am hellichten Tag, und mit ihrer Waffe rumzuwedeln.«
»Ja«, erwiderte ich sarkastisch. »Wer macht denn sowas?«
»Yo, das können wir uns nich' gefallen lassen, Dogg«, sagte Patrice. »Heiderstedt ist unser Revier.«
»Halt die Klappe, Patrice«, gab ich zurück. »Ihr habt euch diese Scheiße eingebrockt und ihr werdet sie auch wieder aus der Welt schaffen.« Ich warf meinem Cousin einen scharfen Blick zu. »Und zwar auf zivilisierte Weise.«
»Dann geben wir dieser Aurora das Geld zurück?«, fragte Michi ungläubig.
»Aber das geht nicht«, protestierte Léon. »Ich brauche das Geld für den Kredit.«
»Du hast doch einen Job im Fitnessstudio«, erwiderte ich. »Damit wirst du den Kredit schon abstottern können, nach und nach, wie jeder andere Mensch auch.«
Michi lachte, als hätte ich irgendeinen dummen Witz gemacht.
Léon wandte sich geradezu beschwörend an Romeo: »Du weißt, wie wenig ich im Gym verdiene.«
»Dann kaufst du dir eben eine Haarspülung im Monat weniger«, frotzelte ich.
»Du hast gesagt, du würdest das Geld organisieren«, fuhr Léon fort. »Und dann ist diese Scheiße mit-« Er schielte zu Dimitri, der scheinbar unbeteiligt neben der Gruppe hertrottete, und senkte die Stimme. »-du weißt schon passiert.«
»Was ist denn passiert?«, hakte ich nach.
»Geht dich nichts an«, brummte Romeo und kickte einen Kieselstein in die Abflussrinne.
»Ich denke, nach allem, was ich heute schon durchmachen musste, habe ich ein Recht auf ein klein wenig Ehrlichkeit.«
»Unser letzter Diebstahl ist schief gegangen«, blaffte Romeo und schlug mit der Handkante in seine offene Handfläche. »Da hast du's. Dein klein wenig Ehrlichkeit. Besser jetzt?«
»Aber was hat das mit Dimitri zu tun?«
»Das fragst du deinen Hasibär am besten selbst«, entgegnete Léon und flippte sich eine Haarsträhne über die Schulter, ungefähr so wie Cindy es immer machte.
»Er ist nicht mein Hasibär«, widersprach ich.
»Er ist nicht ihr Hasibär«, widersprach auch Romeo und spähte zu Dimitri, als erwartete er, dass ihm vor aller Augen zwei Hörner und ein Paar Ziegenhufe wuchsen. Da die Verwandlung ausblieb, stopfte er die Hände in die Taschen seiner Adidas-Hose und stapfte missmutig voraus.
Ich blieb stehen, weil ich nicht gleichzeitig fassungslos sein, grübeln und gehen konnte. Mir war schon klar, dass Romeo Geheimnisse vor mir hatte. Erst recht, was sein Gangster-Leben anging. Aber ihm musste doch klar sein, dass ich nicht wegen ein paar vager Andeutungen an meinen Gefühlen für Dimitri zweifeln würde. Wenn er wirklich was gegen Dimitri in der Hand hatte, dann war es so langsam an der Zeit auszupacken - oder sich aus meinem Liebesleben herauszuhalten.
»Sorry, Emmi«, sagte Patrice, während er an mir vorbeizog. »Aber bei dem Thema ist er sehr empfindlich.«
Kevin tätschelte im Vorbeigehen mitleidig meine Schulter.
»Weißt du, was da los ist?«, wandte ich mich an Dimitri.
»Nein, ich denke nicht.« Dimitri blinzelte in das Licht der untergehenden Sonne. »Mich interessiert auch viel mehr, was man tun muss, um dein Hasibär zu werden.«
Ich musste unwillkürlich lachen. »Entschuldige, aber du wirst nie mein Hasibär werden.«
Dimitri faltete die Hände auf dem Rücken und stupste mich sanft mit der Schulter an. »Wieso nicht?«
»Das hat nichts mit dir zu tun. Ich mag Kosenamen einfach nicht. Und Hasibär ...« Ich verzog das Gesicht und stupste zurück. »Grauenhaft.«
»Ist vielleicht besser so«, sagte Dimitri. »Ich bin so schrecklich unkreativ, was Spitznamen angeht.«
»Wirklich?«
»Als Kind hatte ich mal ein Kaninchen als Haustier.« Dimitri schüttelte schwach den Kopf, als könnte er es selbst nicht glauben. »Rate, wie ich es genannt habe.«
»Kaninchen?«, vermutete ich.
»Hase. Damals war mir der Unterschied noch nicht ganz klar.«
Ich stieß Dimitri erneut mit der Schulter an. »Das ist wirklich unkreativ.«
»Sag' ich doch. Mein Vater hat immer behauptet, er hätte mich die ersten Jahre lang einfach nur "Kind" genannt.«
»Klingt sehr liebevoll.«
»Seiner Meinung nach wären Kinder bis zum Abschluss der Persönlichkeitsentwicklung ohnehin alle gleich.«
Dimitri wollte mich mit der Schulter anstoßen, aber ich sah es kommen und wich ihm aus. Während er mit seinem Gleichgewicht kämpfte, schnappte ich mir seinen Arm und hakte mich bei ihm unter. Mein Überfall schien ihn nicht zu stören. Wie ein richtiges Pärchen schlenderten wir die Straße hinunter und folgten dem Heiderring, bis wir das Target erreichten, das etwas zurückversetzt im Schatten eines Hauseingangs lag. Obwohl es noch früh war, standen schon ein paar Gäste vor der Tür und rauchten. An der Bar herrschte dagegen noch die Ruhe vor dem Sturm. Babu lümmelte am Tresen herum und telefonierte. Vermutlich mit einer seiner Verehrerinnen. Oder mit einer seiner geschätzt fünfhundert Schwestern und Cousinen.
Im hinteren Bereich des Targets spielte Galway Girl für eine einsame Frau auf der Tanzfläche: Isabella. »Wohoo, Emmi!«, rief sie, kam zu mir gesprungen und schlang die Arme um meinen Hals. Vielleicht hatte sie schon was getrunken. Bei Isabella war das schwer zu sagen, weil sie auch im nüchternen Zustand ziemlich übertrieben gut drauf sein konnte. Nachdem sie mich umarmt hatte, wollte sie auch Dimitri um den Hals fallen, aber er war so groß, dass sie ihn nicht erreichen konnte. »Hättest du dir nicht wen Kleineres suchen können?«, beschwerte sie sich.
»Beim nächsten Mal denke ich an dich«, erwiderte ich. Als mir klar wurde, was ich da gerade angedeutet hatte, warf ich Dimitri einen entschuldigenden Blick zu. »Also ... ich meine ... falls es ein nächstes Mal geben sollte.«
»Ich kann mir auch einfach die Unterschenkel amputieren lassen«, schlug Dimitri vor.
Isabella boxte ihn gegen den Arm. »Sehr guter Vorschlag. Mir gefällt, wie du denkst.« Sie wandte sich wieder an mich. »Was ist jetzt? Warum versammeln wir uns alle hier?«
»Weil diese Aurora bei uns im Laden aufgetaucht ist und damit gedroht hat, uns zu erschießen, wenn Romeo ihr nicht bis Dienstag das Geld und den Schmuck wiedergibt.«
»Verstehe«, sagte Isabella, als hätte sie schon damit gerechnet. »Wenn das so ist, geh' ich uns mal Cocktails organisieren.« Meine Schwester wollte sofort aufbrechen, da schien ihr noch was einzufallen. »Ach ja ...« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Ich muss dir auch noch etwas berichten.«
»Was denn?«
Isabella lächelte sphinxenhaft. »Ich glaube, ich habe das Schloss des weißen Königs gefunden.«
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