11-1 | Waffeln Speciale
Als ich am nächsten Morgen ins Badezimmer kam, saß Isabella angezogen in der leeren Badewanne und kritzelte auf einem Notizblock herum.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.
Isabella nickte. »Ich bin heute aufgewacht und hatte so ein komisches Gefühl.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, wegen dem Flunz.«
»Reimann scheint dich ja schwer beeindruckt zu haben«, erwiderte ich und ging zum Waschbecken, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, der von einem Mosaik aus orangefarbenen Fliesen umgeben war.
Isabella hielt inne und kaute auf dem Ende ihres Stifts herum. »Und dich so gar nicht, oder?«
»Reimann ist ein netter Typ, aber er leidet unter Paranoia und Wahnvorstellungen.« Ich betrachtete mich im Spiegel und wischte mir ein paar störrische Haarsträhnen aus der Stirn. Im ungeschminkten Zustand wirkten meine Augen besonders groß und fischig. Wegen meines schmalen Gesichts kam ich mir vor wie Dorie aus "Findet Nemo". »Ich bin mir sicher, Reimann glaubt, was er da sagt, aber das bedeutet nicht, dass daran irgendetwas Reales ist.«
»Bis auf den Mann mit dem Zylinder, oder?«
Ich nahm meine Zahnbürste aus dem Becher. »Das könnte auch Zufall sein. Oder Reimann hat ihn gesehen und sich den Rest dazu-fantasiert. Ich meine-« Bei diesen Worten fuhr ich mit der Zahnbürste durch die Luft. »-Schlösser, weiße Könige und Prinzessinnen? Klingt doch stark nach Fantasy.«
»Aber vielleicht enthalten seine Worte ja auch einen wahren Kern.« Isabella piekte sich mit dem stumpfen Ende ihres Stifts in die Wange. »Einen anderen Anhaltspunkt, was die Suche nach deinem geheimnisvollen Verfolger angeht, haben wir ja nicht.«
»Ich glaube, dir ist bloß langweilig«, entgegnete ich. »Zuerst verdächtigst du Dimitri, jetzt ist es der Kerl mit dem Zylinder.« Ich warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, wo die Sonne durch einen diffusen Frühnebeldunst schimmerte. »Warum fährst du nicht nach Driebeck und besuchst Annie?«
»Annie ist zu ihren Eltern gefahren«, seufzte Isabella.
»Echt?«
Isabella stemmte einen Fuß gegen die rostigen Armaturen. »Ich habe sie hierher eingeladen, aber es zieht sie in die Heimat. Nur für eine Woche, hat sie gesagt. Und du weißt ja, wie ihre Familie ist. Da kann ich mich nicht blicken lassen. Die kreuzigen mich. Buchstäblich.«
»Ich dachte, sie hätten eure Beziehung inzwischen akzeptiert.«
»Na ja, so in der Art«, brummte Isabella. »Sie haben akzeptiert, dass Annie lesbisch ist, aber ich bin sicher nicht ihre Wunsch-Schwiegertochter.«
»Weil du dich nicht benehmen kannst?«
Isabella warf mir über den Wannenrand einen bösen Blick zu. »Weil ich katholisch bin.« Als ich darauf nichts mehr sagte, wandte sie sich wieder ihren Notizen zu. »Und während du mit Dimi turtelst, will ich wenigstens irgendetwas Sinnvolles tun.«
»Es liegt mir fern, dich davon abzuhalten«, sagte ich und schnappte mir die Zahnpastatube vom Waschbeckenrand. »Du solltest Reimanns Gerede nur nicht überbewerten.«
»Nun, frei interpretiert hat er davon gesprochen, dass die Bosse einer ominösen Organisation vor zweiundzwanzig Jahren eine Prinzessin entführt hätten.« Isabella lehnte sich zurück. »Jetzt ist der Kerl mit dem Zylinder zurück und prompt verschwindet wieder ein Mädchen.«
Ich hielt mit der Zahnbürste vor dem Mund inne. Auf diese Weise hatte ich Reimanns Worte noch nie betrachtet. War da vielleicht tatsächlich etwas dran? Wenn ja, mussten wir zur Polizei gehen und ihnen sagen, was wir wussten.
»Wenn du und Dimi heute alleine zurechtkommt, werde ich losgehen und ein paar Nachforschungen anstellen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
Isabella hievte sich aus der Badewanne. »Ich werde mal sehen, ob das lokale Käseblatt über ein Archiv verfügt, das zweiundzwanzig Jahre zurückreicht. Vielleicht finde ich ja die Prinzessin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und wenn nicht, habe ich wenigstens was Spaßiges unternommen.«
»Du könntest auch lernen«, bemerkte ich.
Isabella winkte ab. »Lernen beleidigt meine Intelligenz.« Sie tippte sich an einen nicht vorhandenen Hut und glitt zur Tür hinaus.
Ich beendete meine Morgenwäsche, legte etwas Make-up auf und machte mir die Haare. Dann ging ich runter in den Gastraum, wo früh am Morgen gähnende Leere herrschte. Aus dem Keller drang gedämpfte Rap-Musik, ein sicheres Zeichen dafür, dass Romeo schon auf den Beinen war. Aber da er noch bis spät in die Nacht gepokert und getrunken hatte, war er vermutlich nicht dazu in der Lage, uns mit den Waffeln zu helfen. Üblicherweise hätte ich um diese Uhrzeit eine kurze Jogging-Runde gedreht, doch heute wartete ich lieber im Laden auf Dimitri. Was Isabella gesagt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Hatte Jack the Ripper irgendwas mit Lenis Verschwinden zu tun? War Reimann am Ende gar nicht verrückt? Hatte er vor zweiundzwanzig Jahren tatsächlich eine Entführung beobachtet?
Um mich von diesen Überlegungen abzulenken, machte ich mich an die Teigzubereitung. Dabei fiel mir auf, dass keine Eier mehr im Kühlschrank waren. Ich starrte auf das leere Fach, unschlüssig, was ich tun, denken oder fühlen sollte. Was war hier eigentlich los?
Ich verließ die Küche und huschte zur Kellertreppe. »Romeo?«
Keine Antwort.
»Romeo!«
Eine Tür wurde geöffnet, die Rap-Musik wurde lauter. Für mich klang es jedoch eher nach Lärmbelästigung als nach Musik. Vermutlich würde ich nie verstehen, was Romeo und Patrice daran fanden. Wer seine Kindheit in Berliner Plattenbauten verbracht hatte, mochte damit ja gewisse heimatliche Gefühle verbinden, aber Romeo war in einer gutbürgerlichen Familie auf dem Land aufgewachsen. Er hatte eine normale Kindheit gehabt, fernab von Waffen, Drogen und Gewalt. Welchen Charme diese aggressive, gewaltverherrlichende Macho-Kultur auf ihn ausübte, war mir schon immer schleierhaft gewesen.
»Ja?«, ertönte es von unten.
»Die Eier sind schon wieder weg!«
Romeo stöhnte. »Na gut. Ich kümmere mich darum.« Er klang als hätte er einen gewaltigen Kater. »Bis dahin ... Patrice hat ein paar Eier versteckt. Unten in der Kühltheke. Die kannst du benutzen.«
Die Tür ging wieder zu und ich kehrte in den Laden zurück. In Gedanken ging ich mögliche Szenarien des Eierdiebstahls durch. Schlussendlich kamen nur wenige Personen als Täter in Frage. Erlaubte sich Isabella einen Scherz mit Patrice? Zugetraut hätte ich es ihr. Oder wollte Romeo verschleiern, dass er eine neue 100-Prozent-Eiweiß-Diät begonnen hatte?
Ein Klopfen an der Ladentür riss mich aus meinen Überlegungen. Ich drehte mich um und entdeckte Dimitri, der mir von draußen fröhlich zuwinkte. Wie vereinbart, saß auf seinem Kopf ein schwarzer Cowboyhut. Sofort wechselte mein Hirn in den Rosarote-Brille-Modus. Mit dem Schlüssel aus der Schublade in Romeos Büro huschte ich zur Tür und schloss ihm auf.
»Howdy, Cowboy.«
Dimitri zog sich den Hut ein Stück ins Gesicht und lächelte mich unter der Krempe schief an. »Howdy, schöne Frau. Ich habe gehört, Sie hätten hier einen akuten Waffel-Notfall.«
»Die Eierdiebe haben wieder zugeschlagen«, erwiderte ich.
Dimitri stemmte die Hände in die Taille und schürzte die Lippen. »Diese verdammten Bastarde ...«
Einem Impuls folgend, fasste ich nach seinem Arm und zog ihn über die Schwelle. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen den Tatort.«
Dimitri folgte mir hinter die Theke. »Mit Eierdieben ist nicht zu spaßen, Ma'am. Sie sollten mich das alleine regeln lassen.«
»Nur zu gerne. Was schlagen Sie denn vor?«
»Ein Soufflé könnte vielleicht Abhilfe schaffen.«
Ich öffnete den Kühlschrank und präsentierte Dimitri unsere Misere. »Tut mir leid. Aber ich fürchte, das müssen wir nochmal verschieben. Wir haben kaum genug Eier für den Waffelteig.«
»Oh, hallo«, flötete Isabella, während sie in den Laden spazierte und sich einen Apfel aus der Kühltheke nahm. Dabei musterte sie Dimitri von Kopf bis Fuß und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Du bist wohl gekommen, um uns bei unserem Eier-Notstand auszuhelfen.«
»Isabella ...«, säuselte ich. »Wolltest du nicht nach der Prinzessin suchen?«
Meine Schwester salutierte zackig. »Aye, aye.«
»Welche Prinzessin?«, fragte Dimitri, während Isabella zur Tür marschierte. Der kleine, knallrote City-Rucksack, den sie auf dem Rücken trug, wippte bei jedem ihrer Schritte.
»Ach ... das ist nur so ein Hirngespinst«, wiegelte ich ab. »Kümmern wir uns lieber um die Waffeln, sonst kommen die ersten Kunden und wir haben noch nichts vorbereitet.«
Dimitri nickte zustimmend und ging ins Hinterzimmer, um sich im Mitarbeiter-WC die Hände zu Waschen. Ich kam nicht umhin, bei dieser Gelegenheit seinen knackigen Po zu bewundern, der in der engen Jeans gut zur Geltung kam.
Die nächsten Stunden arbeiteten wir Seite an Seite. Es kamen nicht viele Kunden, sodass wir genug Zeit hatten, uns miteinander zu beschäftigen. Wir lösten eines von Isabellas Kreuzworträtseln, die im Laden herumlagen und diskutierten über Musik, Sport und Kunst. Es stellte sich heraus, dass Dimitri klassische Rockmusik mochte, von Kunst nur ein rudimentäres Verständnis besaß und Eishockey-Fan war, aber noch nie auf Schlittschuhen gestanden hatte. Einen Umstand, den ich bei nächstbester Gelegenheit zu ändern gedachte.
Überhaupt kam es mir so vor, als hätte Dimitri in seinem bisherigen Leben viel verpasst. Er war nie Achterbahn gefahren, hatte nie ein Kino oder ein Schwimmbad besucht, war nie im Ausland gewesen oder überhaupt im Urlaub. Dafür konnte er schwierige mathematische Probleme lösen und komplizierte physikalische Formeln herleiten.
Es fiel mir schwer, mir das Leben auszumalen, das Dimitri bis vor zwei Monaten geführt haben musste. Rund um die Uhr für seinen kranken Vater zu sorgen, hatte ihm alles abverlangt. Und jetzt stand er ganz alleine da.
»Es ist nicht so schlimm wie es klingt«, sagte Dimitri. »Ich habe alles Notwendige gelernt, um mich im Leben zurechtzufinden.«
Ich reichte Frau Krone ihre bestellte Waffel über den Tresen. Die Frau meines ehemaligen Biologie-Lehrers musterte Dimitri als stünde er auf der Speisekarte.
»Und ...«, begann ich, sobald sie zur Tür hinaus war. »... was ist mit der Liebe? Ich meine, das klingt nicht, als hättest du in der Vergangenheit viel Zeit dafür gehabt.«
»Nein«, antwortete Dimitri, während er Erdbeeren auf einem Tablett anrichtete und in die Kühltheke legte. »Da hast du Recht.«
Ich hasste mich für meine Disziplinlosigkeit, aber ich konnte mich nicht davon abhalten, weiter nachzufragen. »Hattest du denn schonmal eine Beziehung?«
Dimitri reichte mir eine leere Teigschüssel, nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Wellen. »Eine Beziehung würde ich es nicht nennen.« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Aber ich habe mich mit einer Frau getroffen, bevor ich nach Heiderstedt gekommen bin.«
»War es was Ernstes?«
Dimitri setzte sich den Hut wieder auf. »Nein. Es war eher freundschaftlich.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau betrat den Laden. Sie trug Stiletto-Pumps, eine hautenge Lederhose und eine Art Bustieroberteil aus violettem Satin. Ihre kinnlangen Haare waren eisblond gefärbt, die Augen tiefschwarz geschminkt, die Nägel dunkelrot lackiert. Um ihr Handgelenk schlenkerte eine kleine, glitzernde Handtasche. Nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, kam sie zum Tresen.
Dimitri trat ihr entgegen. »Guten Morgen. Was kann ich Ihnen bringen?«
Die Fremde lächelte, fasste in ihre Handtasche und legte eine Pistole auf den Tresen. »Einmal Waffeln Speciale, bitte.« Sie klimperte mit den langen Wimpern. »Und das, was ihr mir gestohlen habt.«
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