05-1 | Plötzlicher Eierschwund
Bis vor einem Jahr hatte das "Zu den Waffeln" noch Romeos Eltern, Onkel Giuseppe und seiner Frau Sofie, gehört. Dann waren die beiden in Giuseppes Heimat Italien zurückgekehrt, um die Pflege von Opa Arturo zu übernehmen. Der alte Mann war zwar – dank Olivenöl und italienischer Lebensfreude – noch ziemlich rüstig, traf aber gern äußerst risikofreudige Entscheidungen, wie zum Beispiel seine ganze Verwandtschaft zu enterben und von dem Geld Prada-Handtaschen für sein zwanzigjähriges Betthäschen Ana-aus-Brasilien zu kaufen. Seit der überstürzten Abreise seiner Eltern kümmerte sich Romeo um den Laden.
Isabella und ich hatten für die Dauer unserer Aushilfstätigkeit das Gästezimmer im oberen Stockwerk bezogen. Theoretisch hätten wir auch bei unseren Eltern übernachten können, aber da die beiden ohnehin im Urlaub waren, zogen wir es vor, über dem Waffelladen zu residieren. Auf diese Weise konnten wir wenigstens ausschlafen.
Am Abend nach meinem Ausflug mit Dimitri konnte ich mich kaum konzentrieren. Unruhig klickte ich mich auf meinem Laptop durch die wisschenschaftlichen Artikel, die das Grundgerüst meiner Masterarbeit formen sollten. Die Buchstaben waren für mich nur bedeutungslose Striche und Linien und so ertappte ich mich wiederholt dabei, wie ich Sätze mehrfach lesen musste, um ihren Sinn zu begreifen.
Auf dem Bett an der gegenüberliegenden Wand lag Isabella und gab vor, etwas für die Uni zu programmieren, während sie in Wirklichkeit Stardew Valley spielte. Die Haare hatte sie nach dem Duschen zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. Sie trug ein schlabbriges T-Shirt mit dem Wappen von Minas Tirith darauf und Shorts, die ihren Po nur knapp bedeckten.
Obwohl die Sonne schon vor einer Weile untergegangen war, herrschte noch immer eine Bullenhitze. Sie staute sich unter den hölzernen Dachbalken, die dem Zimmer einen bäuerlichen Charme verliehen. Das geöffnete Fenster spendete kaum Abkühlung. Dafür drangen das Zirpen der Insekten, der Geruch von Gegrilltem und die Stimmen von Romeos Freunden, die unten im Büro ihr allabendliches Pokerturnier veranstalteten, zu uns herein.
Die Zeit schien stillzustehen und meine Gedanken schweiften zurück zu Dimitri. Dadurch wurde ich noch kribbeliger. Trotz all der Rätsel, die er mir aufgab, konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Meine Gefühle fuhren keine Achterbahn, sondern rasten wie in einem dieser Brechreiz-induzierenden Freifalltürme dem Erdboden entgegen. Die Ungewissheit raubte mir den letzten Nerv. Was für ein Mensch war Dimitri? Konnte ich mir etwas mit ihm vorstellen? Und was dachte er von mir? Hielt er mich für eine durchgeknallte Stalkerin? Wie würde es sich anfühlen, mit den Fingern durch seine Haare zu fahren, seine erhitzte Haut zu berühren und seine Lippen auf meinen zu spüren?
»Hey«, beschwerte sich Isabella. »Du sabberst.«
Ich fasste mir an die Lippen. »Tut mir leid.« Ein Seufzer entwand sich meiner Brust. »Aber ich kriege ihn einfach nicht aus dem Kopf.«
Isabella klappte ihren Laptop zu und seufzte. »Willst du darüber reden?«
»Keine Ahnung«, murmelte ich und klemmte mir eine lose Haarsträhne hinter das Ohr.
»Also mir geht Dimi auch nicht aus dem Kopf«, sagte Isabella, setzte sich aufrecht hin und flippte sich den Zopf über die Schulter.
Ich schob meinen Laptop beiseite und zog die nackten Knie bis zum Kinn. »Ach ja?«
»Aus anderen Gründen als bei dir natürlich«, ergänzte Isabella. »Aber ja.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ ihren Blick zum Fenster hinauswandern, wo die Farben der Abenddämmerung langsam verblassten. »Ich hab' mir überlegt ... vielleicht ist er ein Serienkiller.«
»Bella«, keuchte ich. »Hörst du dich eigentlich manchmal selbst reden?«
»Ich versuch's zu vermeiden.«
»Dimitri ist kein Serienkiller«, sagte ich scharf. »Wie kommst du überhaupt auf sowas? Heute Mittag hab' ich noch gedacht, du willst ihn adoptieren.«
»Das überlege ich mir wohl besser noch einmal.« Isabella knabberte an ihrem Daumennagel herum. »Wenn man bedenkt, was mit den meisten Müttern von Serienkillern passiert.«
Ich rollte demonstrativ mit den Augen. »Dimitri hat vielleicht eine etwas ungewöhnliche Vergangenheit, aber das macht ihn nicht zu einem Mörder.«
»Du musst es ja wissen«, erwiderte Isabella schnippisch. »Aber das mit den Kindersachen kommt mir schon irgendwie komisch vor.«
»Er sagte, das seien Erinnerungen an früher.«
Isabella runzelte die Stirn. »Niemand hebt doch seine Kindersachen auf, oder? Seine Kuscheltiere oder sein Spielzeug vielleicht, aber seine Klamotten?«
Ich musste zugeben, dass sie damit einen Punkt hatte. Seine Kinderkleidung aufzuheben, war wirklich reichlich seltsam. Aber waren wir nicht alle auf die eine oder andere Art und Weise seltsam? Ich hatte jede Menge verrückte Spleens. Zum Beispiel bedankte ich mich manchmal bei Automaten und konnte nicht schlafen, wenn die Zimmertür offen stand. Der Anblick von Wasserstrudeln machte mich nervös und ich musste immer zueinander passende Unterwäsche anhaben, sonst fühlte ich mich den ganzen Tag lang unwohl.
»Vielleicht hat Dimitri mich angelogen«, schlug ich vor. »Und er hat doch ein Kind.«
»Möglich wär's«, sagte Isabella. »Oder er hatte ein Kind.«
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie damit meinte. Mir vorzustellen, dass Dimitri ein Kind gehabt und verloren hatte, noch dazu bei seiner tragischen Vorgeschichte, war zu viel für meine zarte Seele.
»Wie auch immer«, schloss Isabella. »Du solltest dich weiter an ihn ranschmeißen, sonst erfahren wir vielleicht nie, was mit ihm nicht stimmt.«
»Und wenn er ein Serienkiller ist?«
»Viele berühmte Serienkiller waren liebende Ehemänner und Väter«, gab Isabella zu bedenken.
»Ich will aber nicht mit einem Serienkiller zusammensein«, entgegnete ich.
Isabella lächelte schwach. »Keine Sorge. Wenn es so sein sollte, bist du die Letzte, die es erfahren wird.«
Plötzlich wurden unter uns Stimmen laut. Den genauen Wortlaut konnte ich nicht verstehen, aber es klang nach einem Streit. Kurz darauf wurde es handgreiflich. Jedenfalls ließ das laute Poltern und Scheppern darauf schließen.
»Diese minderbemittelten Halbaffen«, grollte Isabella, während wir aus den Betten krabbelten und zur Tür huschten.
Romeo hatte uns eingetrichtert, dass wir auf unserem Zimmer bleiben sollten, falls es nach Ärger klang, aber natürlich dachten wir nicht einmal daran, uns an diese Anweisung zu halten. Wenn sich Romeos halbgare Homies gegenseitig die Birnen einschlugen, hatten wir uns Plätze in der ersten Reihe verdient.
So schnell wir konnten, hasteten wir durch den Flur und die enge Stiege hinab. Auf halbem Weg blieb Isabella plötzlich stehen und lauschte. Gelächter, Anfeuerungsrufe, dumpfes Stöhnen und Grunzen. Keine Frage, wir waren Ohren-Zeuginnen einer echten Prügelei unter Gangstern. Die Geräusche kamen jedoch nicht aus dem Büro, sondern von der Hintertür, auch Rattenloch genannt, weil das der Weg war, über den die Ratten früher oder später das sinkende Schiff verlassen würden.
»Na los doch«, raunte ich. »Sonst verpassen wir noch das Beste.«
»Nein, nein«, erwiderte Isabella. »Zum Bad. Von da haben wir die bessere Aussicht.«
Ich fuhr herum und sprang die Treppe wieder hinauf. Meiner Schwester zwei Schrittlängen voraus, stürzte ich durch die nur angelehnte Tür ins Badezimmer, das mit unsagbar hässlichen, moosgrünen Fliesen ausgekleidet war. Außerdem war der Raum so groß und leer, dass sich der Gang zur Toilette wie der Weg durch die Westminster Abbey anfühlte. Und wenn man auf dem Klo thronte, kam man sich vor, als säße man in einer Manege. Der kleinste Pipitropfen hallte in der erdnussbraunen Porzellanschüssel wie ein buddhistischer Tempelgong, was besonders dann zum Tragen kam, wenn Romeo unsittlich früh am Morgen seine prall gefüllte Bierblase entleeren musste.
Aber das war jetzt alles egal.
Ich hastete zur Nordseite des Zimmers, schob den Häkelvorhang beiseite und riss das Fenster auf. Isabella zwängte sich neben mich und gemeinsam spähten wir in den Hinterhof hinunter, in dem sich das Drama entfaltete.
Léon und Romeo hatten sich gegenseitig am Wickel. Wie bei einem besonders engen Paartanz schoben sie sich über den Hof, umringt von den restlichen Mitgliedern ihrer kleinkriminellen Bande. Patrice, Romeos rechte Hand – oder vielmehr: sein rechter kleiner Zeh, für mehr reichte es beim besten Willen nicht. Babu, der tollpatschige Ägypter mit einer Schwäche für Gras und Desserts. Michi, der Kapitän der Dorffußballmannschaft, der auf seine eigenen Spiele wettete und verlor. Der schweigsame Kevin und Toni, der ziemlich sicher eine Frau war und nur deswegen bei Romeos Club mitmachen durfte, weil die anderen Jungs zu taktvoll waren, um nachzufragen.
»Du hast gesagt, das wäre eine todsichere Sache!«, zischte Léon, während er Romeo an seinem Shirt herumzerrte. Er war einen halben Kopf größer als unser Cousin, ein Schönling mit unglaublich tollen Haaren, auf die jedes L'Oréal-Model neidisch gewesen wäre. Leider war er sich dessen auch vollkommen bewusst. Jedenfalls konnte er an keinem Spiegel vorbeigehen, ohne sich anzustarren und sein Instagram-Account dokumentierte jede Strähne seines Haars und jede Pore seines Körpers mit einer Kollektion edler Hochglanzselfies.
»Das dachte ich ja auch«, erwiderte Romeo und stieß Léon zurück. »Oder was willst du andeuten? Dass es Absicht war?«
Léon stürzte sich erneut auf Romeo, doch unser Cousin wehrte ihn ab und tänzelte auf der Stelle, wie ein Boxer, der sich zum Kampf bereit machte.
»Wegen dir hab' ich jetzt diesen Kredit am Hals«, fauchte Léon und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, als wollte er Romeo mit den entstehenden Lichtreflexionen blenden. »Und was ist mit diesem Dimitri? Was will der hier? Wird der uns verpfeifen?«
»Keine Sorge, das hab' ich im Griff«, erwiderte Romeo. »Der Kerl wird brav sein und keine Probleme machen.«
»Das will ich auch hoffen«, grollte Léon. »Sonst ...« Er schnellte vor und täuschte einen Faustschlag an, aber unser Cousin durchschaute die Finte und zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»An deiner Stelle würde ich die Bälle flach halten«, sagte Romeo. »Sonst musst du dich alleine um deinen Kredit kümmern.«
»Yo, yo, yo, Romie-Homie hat 'nen Plan, Alter«, bemerkte Patrice und klatschte sich mit Toni ab, der sich betont männlich gab, aber kein einziges Haar am Kinn hatte.
Léon schnaubte abfällig. »Und was hast du diesmal vor?«
»Ja, das würde mich auch interessieren«, sagte Isabella. »Willst du mal wieder ein Kiosk überfallen? Oder wagst du dich dieses Mal an eine Tanke?«
Romeo und seine Kumpanen legten die Köpfe in den Nacken.
Isabella und ich winkten.
»Wenn ihr noch lauter redet, weiß auch die ganze Nachbarschaft, was ihr vorhabt«, bemerkte ich. »Nur so als Tipp.«
»Scheiße, was macht ihr da?«, schimpfte Romeo. »Hab' ich euch nicht gesagt, ihr sollt auf eurem Zimmer bleiben?«
»Ja, aber du vergisst eines«, gab ich zurück.
»Und zwar, dass wir nicht machen, was du uns sagst«, ergänzte Isabella.
Anschließend klatschten wir uns ab, so wie Patrice und Toni zuvor. Bam. Dieses Battle hatten wir ganz eindeutig gewonnen.
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