03-1 | Ninja-Style
Ich war wie gelähmt. Was sollte ich tun? Etwas sagen? Isabella auf Dimitri aufmerksam machen? Oder sollte ich diese Gelegenheit einfach ungenutzt an mir vorüberziehen lassen? Handelte es sich vielleicht sogar um einen Wink des Schicksals? Sein Schicksal konnte man ja bekanntlich nicht ignorieren. Ich versuchte es trotzdem. Doch Fortuna schlug mir ein Schnippchen.
»Ist das nicht Dimi?«, keuchte Isabella.
»Wo?«, flüsterte ich und duckte mich hinter meinen Eisbecher.
Isabella zeigte auf ihn. »Na, da vorne, bei der Drogerie.«
»Ach, bestimmt nicht«, wehrte ich ab.
»Du feige Nudel«, schimpfte Isabella und richtete sich so ruckartig auf, dass sie dabei fast ihren Stuhl umgeworfen hätte. »Hey, Dimi!«, rief sie, doch der Wind riss ihr die Worte von den Lippen. »Mist! Er sieht uns nicht!«
Ich schickte ein kurzes Dankesgebet zum Himmel, aber meine Schwester war noch nicht bereit, einfach aufzugeben.
»Na los, Emmi«, sagte sie auffordernd. »Hinterher!«
»Was? Bist du irre?«, entgegnete ich.
»Sag du's mir«, konterte Isabella. »Du bist doch die Expertin.« Mit gesenkter Stimme ergänzte sie: »Das ist eine einmalige Gelegenheit. Wir verfolgen ihn und sehen, wo er hingeht.«
»Du bist irre«, stellte ich fest und fragte mich in einem kurzen Moment vollkommener Klarheit, wieso mir das früher noch nie aufgefallen war.
Isabella verdrehte die Augen. »Los jetzt!«
»Und das Eis?«
»Willst du die Liebe deines Lebens oder einen Erdbeerbecher?«, erwiderte Isabella, stopfte sich noch einen vollen Löffel Spaghettieis in den Mund und stürzte zur Treppe.
»Den Erdbeerbecher«, murmelte ich, quälte mich auf die Beine und hastete ihr nach. »Wir sind gleich wieder da!«, rief ich Matteo zu, der unsere Flucht sichtlich verwirrt beobachtete.
Vom Romano's aus rannten wir quer über den Kirchplatz. Der Wind blies mir kalten Regen ins Gesicht. Trotz der willkommenen Abkühlung war ich froh, als wir kurz darauf die Drogerie erreichten. Das Vordach schützte uns vor der Nässe, aber nicht vor dem Sturm, der unbarmherzig über den Platz fegte. Ein dumpfes Donnergrollen wanderte über den Himmel und schien die Spitze des Kirchturms zu umkreisen. Es klang wie ein Grubenhunt, der durch einen alten Minenstollen polterte.
»Wo ist er?«, fragte ich und presste mich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fahrradständer.
Isabella tippte sich mit dem Finger an die eiscreme-verschmierten Lippen und machte eine Handbewegung, die sie sich bei irgendeinem Kriegsfilm abgeguckt haben musste. Ich hatte keine Ahnung, was die Geste bedeuten sollte. Diese ganze Aktion war sowieso selten dämlich. Was ging es uns an, wohin Dimitri unterwegs war? Gut, ein bisschen neugierig war ich schon. Das musste ich zugeben. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihn zu verfolgen. Schließlich war ich kein Stalker.
Diese Hemmungen schien Isabella nicht zu haben. Ganz im Gegenteil. Sie ging voll in ihrer Rolle auf, schlich wie ein Ninja um die Hausecke und verbarg sich hinter einem Pappaufsteller, der für Kontaktlinsen warb. Ich folgte ihr deutlich langsamer.
Am anderen Ende der schmalen Gasse, die vom Kirchplatz Richtung Bahnhof führte, konnte ich Dimitris hochgewachsene Gestalt erkennen. Er trug eine Plastiktüte in der Hand und marschierte zügig geradeaus, die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt, um dem Wind kein gutes Ziel zu bieten.
»Komm schon«, drängte Isabella. »Sonst verlieren wir ihn noch.«
Bevor ich etwas einwenden konnte, war sie auch schon losgelaufen und huschte von Hauseingang zu Hauseingang, wie ein Tiger auf der Pirsch. Ich eilte ihr nach, wobei ich jedoch alle Versteckmöglichkeiten, die sich mir unterwegs boten, geflissentlich ignorierte. Wenn Isabella sich lächerlich machen wollte, war das ihre Sache. Ich würde das Ganze gesittet angehen. Wie ein normaler Mensch.
Mein guter Vorsatz hielt etwa dreißig Sekunden.
Plötzlich drehte Dimitri sich um, als hätte er etwas gehört. Ich reagierte gerade noch rechtzeitig und rettete mich mit einem kühnen Sprung in den Hintereingang einer Arztpraxis. Mein Herz wummerte so heftig, dass ich es in meinem Hals spüren und auf meiner Zunge schmecken konnte. Das Blut rauschte mir in den Ohren und übertönte sogar das Geräusch des Regens, der über mir auf das Glasdach prasselte.
»Glück gehaubt«, raunte Isabella, als sie kurz darauf zu mir ins Versteck glitt. »Aber wenn du eine kriminelle Karriere anstreben solltest, musst du deine Technik noch verbessern.«
»Ich strebe aber keine kriminelle Karriere an«, gab ich gereizt zurück.
Isabella zog träge die Augenbrauen hoch, als wollte sie mir zeigen, dass sie von meinem kleinen Wutausbruch nicht beeindruckt war. »Wozu gehst du eigentlich jeden Abend joggen und machst diese ganzen Verrenkungen?« Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und musterte mich vorwurfsvoll. »Solltest du nicht besser in Form sein?«
»Ich bin in Topform«, gab ich zähneknirschend zurück.
»Dann los, zeig es mir«, drängte Isabella. »Ran an den Mann.« Als sie meine gequälte Miene bemerkte, wurde ihr Tonfall schärfer. »Der Kerl könnte die Liebe deines Lebens sein und du stehst hier rum wie bestellt und nicht abgeholt.«
»Warum tust du mir das an?«, ächzte ich.
Isabella streckte die Hand aus und tätschelte meine Wange. »Irgendjemand muss es doch tun, Sorellina.«
Seufzend schob ich mich an meiner Schwester vorbei, spähte aus unserem Versteck und sprintete los. Dimitri war nicht mehr zu sehen, aber er konnte noch nicht weit gekommen sein. Am Ende der Gasse angelangt, konnte ich ihn die Kreuzung an der Max-und-Moritz-Tagesstätte überqueren sehen.
Ich wartete, bis er in den Schatten der dahinterliegenden Bahnhofsunterführung eingetaucht war, dann nahm ich erneut die Verfolgung auf. Ich hetzte über den Zebrastreifen, setzte über das spärliche Verkehrsbegleitgrün hinweg und rannte zur Brücke, die zu den drei Gleisen des Heiderstedter Bahnhofs führte. Ein Abstellgleis, ein Gleis in die Nord-Süd-Richtung und ein Gleis in die Süd-Nord-Richtung. Da die Unterführung keine Abzweigungen besaß, konnte ich mir relativ sicher sein, dass Dimitri in wenigen Sekunden auf der anderen Seite auftauchen würde. Wenn ich den Weg über die Gleise nahm, standen die Chancen gering, dass er mich bemerkte. Allerdings musste ich mich beeilen, denn er hatte einen Vorsprung und ich eine Menge Stufen zu überwinden. Zum Glück war ich so gut in Form, wie ich vor Isabella behauptet hatte. Trotzdem kam ich bei meinen Treppensprints ganz schön ins Schwitzen.
Vollkommen durchnässt von Regen und Schweiß erreichte ich schließlich die Westseite des Bahnhofs. Hier lag ein Gewerbegebiet mit breiten Straßen, schmucklosen Lagerhallen und unansehnlichen Betonflächen. Ich hastete über den Parkplatz eines Baumarkts, eines Holzhändlers und einer Badmintonhalle, während ich die Umgebung nach Dimitri absuchte. Erfolglos. Doch er musste hier langgekommen sein. Einen anderen Weg gab es nicht. Die Route war gewissermaßen alternativlos.
Zu meinem Pech wurde das Unwetter nun auch noch stärker. Der Regen prasselte lautstark auf den Asphalt und auf die Wellblechdächer der angrenzenden Lagerhallen und erzeugte dabei ein metallisch klingendes Stakkato. Gleißende Blitze zuckten über den stahlgrauen Himmel und dumpfe Donnerschläge ließen die rasch abkühlende Luft erzittern.
Ich schlang die Arme um den Körper und suchte unter dem Vordach einer Werkstatt Schutz vor dem Regen. Ein böiger Windstoß zerrte an den Fahnenmasten, die das Grundstück umgaben, und trieb einen Ballen Luftpolsterfolie über das leere Betonfeld. Nicht weit entfernt wogten die zierlichen Bäume, die den Lärmschutzwall säumten, im Sturm.
Fröstelnd zückte ich mein Handy aus der Gesäßtasche meiner Jeans und warf einen Blick auf das Display. Es war kurz nach Fünf. Vielleicht war es das Beste, Isabella anzurufen und ihr zu sagen, dass sich ihr Plan als genauso bescheuert entpuppt hatte, wie ich von Anfang an vermutet hatte. Klar, das Spiel mit dem Feuer war verlockend, aber wir waren keine kleinen Kinder mehr, die rote und weiße Rosen spielten. Es wurde Zeit, diese Albernheit zu beenden.
»Emilia?«
Vor Schreck entglitt mir das Handy und landete klappernd auf dem Boden. Ich bückte mich danach, bekam es aber wegen meiner feuchten Handflächen nicht richtig zu fassen.
»Warte, ich mach' das«, sagte Dimitri, hob das Handy auf und reichte es mir.
»Dimitri, du hier? So ein Zufall«, stammelte ich, während ich das Handy an meinem Oberschenkel abwischte. Hinter meiner Stirn herrschte gähnende Leere. Ich hatte keine Ahnung, wie ich meine Anwesenheit erklären sollte. Dazu kam, dass ich wie ein begossener Pudel aussehen musste.
»Ich bin wirklich froh, dich zu sehen«, sagte Dimitri.
Ich lachte, kurz und schrill. »Ach ja?«
Dimitri nickte. Mir fiel auf, dass er ebenfalls ziemlich durchnässt war. Die blonden Haare klebten ihm an Schläfen und Nacken, das hellblaue Hemd an Brust und Schultern. Ich bemühte mich, nicht allzu auffällig zu starren, aber es war schwer, die Formen zu übersehen, die sich unter dem Stoff abzeichneten. Und was ich sah, gefiel mir. Dimitri machte ganz offensichtlich Sport, ohne es mit dem Krafttraining zu übertreiben. Man konnte sagen, er war auf unaufdringliche Weise kräftig gebaut. Nicht so wie Romeo, der seine Muskeln im Fitnessstudio unnatürlich aufblähte und sie jedem, der nicht rechtzeitig die Flucht ergriff, unter die Nase rieb. Manchmal wortwörtlich. Nein, bei Dimitri war alles an Ort und Stelle, nicht zu viel, nicht zu wenig, und gerade so offensichtlich, dass ich Lust hatte, ihn zu berühren, um festzustellen, ob er sich tatsächlich so fest anfühlte, wie ich vermutete. Doch weil ich eher altmodisch erzogen worden war, stieg mir schon bei der Vorstellung die Hitze in die Wangen.
»Ich befürchte, ich habe mich verlaufen«, sagte Dimitri.
»Verlaufen?«, echote ich, zugegebenermaßen wenig geistreich. Nur ganz langsam setzten sich die Zahnräder hinter meiner Stirn wieder in Bewegung.
Dimitri ließ seinen Blick über das Betonfeld schweifen. »Ja, ich dachte, ich wäre von hier gekommen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Wo musst du denn hin?«, fragte ich.
»Zum Waingraben. Das liegt etwas außerhalb im Wald.«
Ich nickte. »Ja, ich weiß, wo das ist.« Am Waingraben begann der alte Forstlehrpfad, den wir in der Grundschule immer abgelaufen waren.
Dimitri seufzte. »Es hat sich alles ziemlich verändert, seit ich zuletzt hier war.«
»Wie alt warst du da?«
»So fünf oder sechs Jahre alt, schätze ich.« Ein melancholisches Lächeln zupfte an Dimitris Mundwinkeln und Schatten umwölkten seine Augen, die von einer warmen, lebkuchenbraunen Farbe waren. »Das war noch eine ganz andere Zeit damals. Jedenfalls kommt es mir so vor.«
»Hast du damals noch bei deinen Eltern gelebt?«, wollte ich wissen und hätte mich am liebsten sofort für diese aufdringliche Frage geohrfeigt. »Tut mir leid, das war viel zu direkt«, entschuldigte ich mich.
»Die Direktheit liegt in der Familie, nicht wahr?«, erwiderte Dimitri spöttisch.
Ich stöhnte leise. »Hoffentlich nicht. Normalerweise bin ich nicht so taktlos. Das ist Isabellas Spezialgebiet.«
»Schon gut«, sagte Dimitri. »Ich denke, daran kann ich mich gewöhnen.«
»Wirklich?«
»Ja. Wir werden gut miteinander auskommen.«
Die Art und Weise, wie er das sagte, hatte etwas Definitives. Er sagte es, so wie andere Menschen sagten, dass sie ein Haus oder ein Auto kaufen würden. Als hätte er lange darüber nachgedacht, das Für und Wider abgewägt, und schließlich die Entscheidung getroffen, dass wir gute Freunde werden würden. Keine Ahnung, warum, aber es beeindruckte mich, ihn mit einem solchen Ernst über etwas so Ungewisses sprechen zu hören. Vielleicht hatte ich ihn unterschätzt. Vielleicht war er nicht so schüchtern, wie ich zuerst angenommen hatte. Wie auch immer, ich war fasziniert.
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