01-2 | Das Vorstellungsgespräch
»Hallo«, begrüßte meine Schwester den Unbekannten. »Du kommst zum Vorstellungsgespräch, nicht wahr?«
Der Mann nickte und streckte ihr die Hand hin. Sein Lächeln war etwas unsicher, aber warm und freundlich. »Ich hoffe, das ist in Ordnung. Herr Marchetti hat gesagt, ich könnte einfach kurzfristig vorbeikommen.« Er hielt kurz inne, als müsste er seinen Redefluss bremsen. »Mein Name ist Dimitri.«
Meine Schwester nahm seine Hand. »Isabella.«
Scheiße, scheiße, scheiße, dachte ich. Dimitri war süß. Und nicht nur das. Wenn es etwas gab, was ich an Männern mochte, dann war es eine kleine, liebenswürdige Unsicherheit. Ich weiß, die meisten Frauen fahren angeblich auf Kerle ab, die den Eindruck erwecken, immer alles im Griff zu haben, und möglicherweise war ich da komisch, aber ich mochte es, wenn sie ein klein wenig schüchtern waren. Vielleicht, weil ich mich dann in meiner eigenen Haut wohler fühlte.
Mein Herz schlug höher, als Dimitri mir die Hand hinhielt. Zögerlich fasste ich danach. Seine Haut war warm, aber nicht schwitzig, sein Händedruck fest, aber nicht unangenehm. Es war einfach perfekt. So etwas war mir noch nie passiert.
»Das ist meine Schwester Emilia«, erklärte Isabella. »Und wenn sie jemanden mag, kriegt sie rote Flecken im Gesicht und bringt keinen Ton heraus, also ungefähr so wie jetzt.«
Ich lächelte verlegen und nahm mir vor, Isabella bei der nächstbesten Gelegenheit zu lynchen.
Dimitri erwiderte mein Lächeln. Gerne hätte ich seine Augenfarbe gewusst, aber ich brachte es nicht fertig, ihn direkt anzusehen. Nicht nach Isabellas blödem Kommentar.
»Warum kommst du nicht mit rein?«, fragte meine Schwester. »Dann zeigen wir dir alles.«
»Gerne«, erwiderte Dimitri, ließ meine Hand los und folgte ihr ins Innere des Ladens.
Ich nutzte die kurze Atempause, um mich wieder zu besinnen. Es war sonst gar nicht meine Art, wegen eines Kerls so aus dem Häuschen zu geraten. Andererseits war ich bis dato auch nur selten Männern begegnet, die mich bereits auf den ersten Blick derart fasziniert hatten wie Dimitri. Möglicherweise stimmte ja was mit meinen Hormonen nicht. War vielleicht zufällig gerade Eisprung? Möglicherweise war ich auch einfach nur schon zu lange Single. Neben Studium und Arbeit und bei meinen vielen Macken war es nicht leicht, jemanden zu finden, mit dem ich meine spärliche Freizeit teilen wollte - und der seine Zeit mit mir verbringen wollte.
Mit einem stummen Seufzer wischte ich mir die Hände an der Schürze ab und kehrte der Sonne den Rücken.
»Hier machen wir den Teig«, erklärte Isabella gerade, als ich zur Tür hereinkam. »Und da vorne-« Sie deutete auf die großen, industriellen Waffeleisen. »-da passiert die ganz große Magie.« Sie betonte die letzten drei Worte, als wäre daran irgendetwas Unanständiges.
Dimitri, der ihr wie ein Entenküken hinterherlief, nickte artig. Da meine Schwester ziemlich klein war, überragte er sie um mehr als anderthalb Köpfe, was den Anblick noch ein wenig skurriler machte.
»Hier ist der Kühlschrank für den Teig, da vorne sind Kaffee- und Spülmaschine.« Isabella zeigte auf den Durchgang zum Flur. »Da geht es zum Lager und zu Romeos Büro. Im Lager steht ein Gefrierschrank für das Speiseeis und die Eiswürfel.« Sie stemmte die Hände in die Taille und warf einen unschlüssigen Blick durch den Laden, der mit seiner Mischung aus dunklem Holz, türkisblauen Fliesen, vergilbten Tapeten und verchromten Industrielampen eine seltsame Mischung aus Alt und Neu darstellte. »Und das ist es eigentlich auch schon.«
»Wieso willst du überhaupt hier arbeiten?«, fragte ich.
Dimitri drehte sich zu mir um und erneut war es mir, als hätte jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über mir ausgekippt. »Ich bin gerade erst wieder hergezogen«, sagte er und strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. Mein Blick fiel rein zufällig auf seinen Bizeps, der sich für einen kurzen Moment unter seinem Hemd abzeichnete. Ein Kribbeln entstand in meinen Eingeweiden und ich musste mich zusammenreißen, um nicht beschämt den Blick abzuwenden oder dümmlich zu grinsen. »Und ich brauche einen Job«, ergänzte er mit einem verlegenen Schulterzucken.
Die Erklärung war simpel, aber schlüssig. Trotzdem bohrte ich weiter nach. »Und woher kennst du unseren Cousin?«
Isabella schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen, als wollte sie mir davon abraten, zu viele Fragen zu stellen.
»Herr Marchetti und ich sind uns auf einer Party begegnet«, sagte Dimitri. »Wir kamen ins Gespräch und er hat mir einen Job angeboten.«
Isabella klatschte in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht. »Verrückt, wie das Leben so spielt.«
Ich hätte ihr gerne zugestimmt, doch eine innere Stimme sagt mir, dass es sich bei Dimitris Auftauchen nicht um eine der unzähligen, undurchschaubaren und unvorhersehbaren Irrungen und Wirrungen des Lebens handelte. An der ganzen Sache war etwas faul. Romeo konnte es sich nicht leisten, einen weiteren Mitarbeiter zu beschäftigen. Normalerweise schmissen er und sein Kumpel Patrice den Laden ganz alleine. Isabella und ich halfen in den Ferien aus reiner Nächstenliebe für ein paar Almosen aus. Also ... wie sollte er Dimitri bezahlen? Außerdem bezweifelte ich ernsthaft, dass Romeo jemals einen Mann, der nicht zu seinen Gangster-Freunden gehörte, eingestellt hätte.
»Hast du denn schonmal in der Gastronomie gearbeitet?«, fragte Isabella.
Dimitri schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin sozusagen Anfänger.«
»Das ist kein Problem«, beeilte sich Isabella zu sagen. »Du wirst den Dreh schnell rauskriegen.«
»Wir bräuchten natürlich noch eine richtige Bewerbung von dir«, ergänzte ich. »Zeugnisse, Anschreiben und so.«
»Ja, ja, natürlich«, sagte Dimitri mit einem energischen Nicken.
Isabella warf mir einen mahnenden Blick zu. An Dimitri gewandt, ergänzte sie: »Aber das kannst du alles auch später nachreichen.«
So wie es aussah, gab sich meine Schwester redlich Mühe, Dimitri in meinem Umfeld zu etablieren. Ich ahnte schon, worauf das hinauslaufen würde. Es war nicht das erste Mal, dass sie mich zu verkuppeln versuchte. Allerdings das erste Mal, dass ich auch tatsächlich interessiert war. Gleichzeitig hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen, das nicht allein von den Schmetterlingen kam, die in meinen Eingeweiden herumtanzten.
»Das ist wirklich sehr freundlich«, sagte Dimitri und wirkte beinahe wie ein zu groß geratener Schuljunge, der wegen irgendeiner Dummheit vor den Rektor zitiert worden war, und nun erfuhr, dass er doch nicht nachsitzen musste.
»Also ... da das jetzt geklärt wäre, warum erzählst du uns nicht was von dir?«, fragte Isabella und deutete mit einer einladenden Geste auf die Sitzecke neben der Tür.
Dimitri folgte der Einladung, wand sich hinter der Theke hervor und nahm auf einem der Stühle Platz. Sein Blick zuckte zum Fenster hinaus, als erwartete er, irgendetwas oder irgendjemanden zu sehen, dann rollte er die Schultern zurück und faltete die Hände auf der Tischplatte.
»Möchtest du vielleicht einen Kaffee?«, fragte Isabella und setzte sich zu ihm. »Oder eine Waffel?«
»Nein, danke. Später vielleicht«, antwortete Dimitri.
Trotz meiner Bedenken tat er mir irgendwie leid. Er wirkte nicht wie ein Krimineller. Irgendwie besaß er ein ehrliches Aussehen. Ich versuchte, diesen Eindruck an etwas festzumachen, und kam nach einigen Sekunden zu dem Schluss, dass mein Gefühl mit seinen Lippen zu tun hatte. Dimitri besaß nicht nur einen schönen, sondern auch einen ehrlichen Mund.
»Zu meiner Person gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen«, seufzte Dimitri, während ich Isabella und mir einen Kaffee aufsetzte. »Was wollt ihr denn wissen?«
»Na ja ...« Isabella zuckte mit den Schultern. »Wie alt bist du? Wo bist du geboren? Hast du Geschwister oder irgendwelche interessanten Hobbys?«
Ich bemühte mich, das Wasser leise einzugießen, um der Unterhaltung weiterhin folgen zu können.
Dimitri rieb sich mit einer Hand über die Lippen. »Nun ... ich bin gerne draußen. Ich mag die Natur. Und ich lese sehr gerne. Geboren bin ich in Heiderstedt, aber gelebt habe ich hier nur ein paar Jahre, bevor ich wegziehen musste. Mein Alter ... « Er sah kurz an sich herab. »Ich schätze, ich bin heute irgendwas zwischen fünfzwanzig und dreißig Jahre alt.«
»Irgendwas zwischen fünfundzwanzig und dreißig?«, wiederholte Isabella amüsiert.
»Ja, ich ...« Dimitri lächelte gezwungen und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ich meine, ich bin Jahrgang 1992. Und Geschwister ... nein, ich denke, ich habe keine Geschwister.«
»Du denkst, du hast keine Geschwister?«
»Meine Familie hat mich weggegeben, als ich noch sehr jung war.«
»Oh, oh, das tut mir leid«, entschuldigte sich Isabella eilig, setzte sich auf und strich sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Das ... oh mein Gott, wie unangenehm.«
»Nein, nein«, wehrte Dimitri ab. »Schon in Ordnung. Du kannst ja nichts dafür.«
Meine Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich war voll des Mitgefühls für Dimitri. Niemand sollte von seiner Familie im Stich gelassen werden. Gleichzeitig wurde das nagende Gefühl in meinen Eingeweiden stärker. Ein gutaussehender, ungebundener Fremder mit einer tragischen Vergangenheit? Das wäre buchstäblich zu schön, um wahr zu sein. Aber war mein Misstrauen auch begründet? Oder war ich nur so argwöhnisch, weil ich nicht glauben konnte, dass es das Leben mal gut mit mir meinte? Musste ich immer das Haar in der Suppe suchen?
Doch ich war nicht naiv. Attraktive Märchenprinzen fielen nicht einfach vom Himmel. Aber – weiß Gott – ich wünschte, ich hätte Unrecht gehabt.
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