Kapitel 11 - Nächtliche Gespräche
Eleah
Als ich aufwachte, fehlten mir ein paar Erinnerungen und Eindrücke der letzten Tage und ich brauchte einen Moment, bis all das Geschehene zurück in mein Gedächtnis kehrte. Wahrscheinlich lag es an dem nagenden Hungergefühl, dass mich nicht schlafen ließ, denn müde war ich allemal. Vielleicht lag es aber auch an der beinahe erdrückenden Finsternis, die mich umhüllte, sodass ich die Hand vor Augen nicht sah. Erst als ich mich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatte und ich schemenhaft meine Umgebung wahrnahm, strich ich über die helle Wolldecke zu meinen Füßen, die so gar nicht an diesen rauen Ort passte.
Meine Hand fuhr an meinen Hals und berührte die silberne Kette, die kühl auf meiner nackten Haut lag und von meiner Herkunft aus einer anderen Welt zeugte. Noch immer konnte ich es nicht fassen. Irgendwie war es mir gelungen, durch ein Portal zu reisen, und wenn ich diesen Ort nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich kein Wort davon geglaubt.
»Nicholas.« Ich sprach seinen Namen laut aus, als würde genau das ein Portal vor meinen Augen öffnen, durch das ich zurück in seine Arme gelangen konnte. Eigentlich war mir klar, dass das Humbug war, doch ich wollte keinen Versuch unversucht lassen, wo mir doch bereits etwas Unmögliches widerfahren war.
Als stattdessen neben mir eine Kerze aufflackerte, blinzelte ich irritiert. Hatte die Kerze sich gerade etwa selbst entzündet oder träumte ich noch immer?
Der Kerzenschein erhellte den Raum und warf dunkle tanzende Schatten an die Wände der kleinen Kajüte, während die leichte Wärme, die von der Flamme ausging, meine müden Knochen neu belebte. Entschieden wickelte ich mir meine Decke um den Körper, nahm den Kerzenständer und schlich mit wackeligen Beinen, trotz Bels Ratschlag leise über das Schiff. Ich fühlte mich noch immer schwach und benommen, aber ich musste die Chance der Dunkelheit nutzen, meinen Aufenthaltsort zu erkunden. Mein Glück war, dass ich unterwegs keiner Menschenseele begegnete, aber auch mir musste Fortuna ja irgendwann einmal hold sein.
Es war noch mitten in der Nacht, als ich das Deck betrat. Die Sonne war am Horizont noch nicht einmal zu erahnen und der Himmel hing noch voller Sterne. Unglaublich, wie nah sie einem hier draußen in dieser Dunkelheit erschienen und tatsächlich konnte ich kein einziges bekanntes Sternbild am Firmament ausfindig machen.
Wir hatten den Hafen scheinbar wieder verlassen und segelten auf der ruhigen See. Ein leichter Nebel lag auf ihr und umhüllte das Schiff, wie eine schützende Hülle. Einen Moment genoss ich die Stille, bis ich hinter mir ein tiefes Brummen vernahm. Erschrocken wirbelte ich herum, wobei mir der Kerzenständer aus der Hand glitt. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er auf dem Holzboden auf, sodass die Kerze sich löste und wild flackernd über das Deck rollte.
Als sich aus dem dunklen Schatten einiger großer Holzfässer eine Gestalt löste, fuhr ich erschrocken einen Schritt zurück. »Oh Gott!«, keuchte ich und fügte dann, als ich Bel erkannte, ein wenig gereizter hinzu: »Kannst du dich nicht bemerkbar machen? Was schleichst du hier so herum?« Kurz bereute ich meine Worte, denn ich ahnte, dass es alles andere als klug war, ihn zu provozieren. Aber nach Zolas Verschwinden hatte er tatsächlich keine Anstalten gemacht, mich wieder einzusperren, also schien er sich zumindest an sein Wort zu halten, was es mir erlaubte, ein bisschen selbstbewusster aufzutreten. Trotzdem war ich nicht dumm genug zu glauben, dass er kein gefährlicher Mann war. Alles an ihm erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Körper und ließ mich weiterhin jede seine Bewegungen genaustens beobachten.
Leichtfüßig wie eine Katze ging er einen Halbkreis um mich herum, während seine blauen Augen auf mich gerichtet blieben. So wie er mich ansah, schien auch er mir nicht zu trauen oder zumindest weckte ich eine gewisse Vorsicht in ihm. Mein Blick fiel auf die verschorften Kratzer an seinem Hals und ein Gefühl von tiefer Genugtuung ließ mich den Kopf noch ein Stück höher heben und die Schultern straffen.
Bel schnaubte und blieb vor der Kerze stehen. »Gott bin ich nun wahrlich nicht, aber ich muss gestehen, dass auch du mich erschreckt hast. Sahst aus wie ein Gespenst.« Mit dem Finger deutete er kurz auf die helle Wolldecke, die um meine nackten Füße wehte, dann hob er die Kerze auf. »Du warst noch nicht oft an Bord eines Schiffes, nicht wahr?« Er sah mich fragend an und löschte die Kerze, indem er die Flamme mit Daumen und Zeigefinger erstickte.
Ich antwortete nicht. Sagte nichts, auch nicht, als er mit etwas Abstand neben mich trat und seine Unterarme auf der Reling abstützte. Ohne den Blick vom offenen Meer zu nehmen, knurrte er: »Wenn du das nächste Mal eine brennende Kerze auf einem hölzernen Schiff fallen lässt, bringe ich dich eigenhändig um, verstanden?«
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich ihn. So wie er da stand und den grimmigen Blick aufs offene Meer gerichtet hatte, glaubte ich ihm jedes Wort und ich wich unauffällig noch einen weiteren Schritt von ihm weg.
»Kannst du nicht schlafen?«, fuhr er mit seiner Fragerei fort. »Fehlt dir etwas? Dein Verlies vielleicht? Oder das Bett aus Stroh?«
Seine provokante Art entzündete meinen Kampfgeist erneut. Und weil ich ihm nichts anderes als meinen Verstand und meine lose Zunge entgegenzusetzen hatte, schluckte ich die bissige Bemerkung nicht hinunter, sondern antwortete leise: »Als ich aufwachte, hatte ich kein Zeitgefühl und jetzt habe ich bis gerade eben die Stille genossen. Und du? Fehlt es dir denn jemanden zu quälen oder hast du beschlossen, jetzt damit fortzufahren?«
Bel hielt den Blick weiterhin auf den Ozean gerichtet und beinahe glaubte ich, das Gespräch sei beendet, doch dann erwiderte er: »Ich schlafe in letzter Zeit nicht besonders viel.«
Scheinbar hatte er seine Taktik geändert und es sich zum Ziel gesetzt, mich mit seiner Ehrlichkeit zu irritieren, was ihm zu meinem Ärgernis auch noch gelang. Also schwieg ich wieder und auch er schien für einen Moment die Ruhe zu genießen. Dann aber drehte er sich das erste Mal wieder zu mir und musterte mich mit einer hochgezogenen Augenbraue von oben herab. »Komm mit«, sagte er schließlich und war schon auf halben Weg zurück unter das Deck.
»Wohin?«, fragte ich, bevor er wieder mit der Dunkelheit eins wurde.
Noch ein Mal blieb er stehen, ohne den Blick zurückzuwenden. »Wir legen im Morgengrauen an«, sagte er. »Bis dahin solltest du etwas essen. Wir haben einen Fußmarsch vor uns und du wirst die Kraft brauchen.«
Die Vorstellung, mit ihm gemeinsam das Schiff zu verlassen und irgendwo in dieser Welt herumzulaufen, ließ mich nicht gerade in Euphorie ausbrechen. Aber in einer Sache hatte er schließlich recht: Ich musste bei Kräften bleiben. Und vielleicht würde sich an Land eine Möglichkeit für eine Flucht ergeben, also folgte ich ihm in gebührendem Abstand unter das Deck.
Unterwegs begegneten wir einigen Männern, die aus ihren Kojen gekrochen kamen und mich argwöhnisch betrachteten. Wer konnte es ihnen verübeln? Auch mir wurde bewusst, wie ich sie ungläubig anstarrte.
Relativ schnell hatte ich auf dem großen Dreimaster die Orientierung verloren und fast schon war ich mir sicher, dass Bel mich im Kreis herumführte. Das Schiff war zwar groß, aber dennoch gab es nicht allzu viele Wege, Türen und Treppen. Gerade als ich ihn fragen wollte, ob er wieder seine Spielchen mit mir spielte, wurden seine Schritte kleiner, bis er direkt vor mir stehen blieb und herumwirbelte, sodass ich beinahe in ihn hineingelaufen wäre.
Er packte mein Handgelenk und drängte mich mit zusammengekniffenen Augen in die dunkle Ecke des Korridors. »Eines würde ich ja dennoch gerne wissen«, raunte er. »Du kommst aus einer anderen Welt und bist hier nicht besonders gut von uns behandelt worden, also warum hast du keine Angst vor mir? Warum folgst du mir wie ein Kaninchen zur Schlachtbank?«
»Ich habe Angst«, japste ich, während sich sein stechender Blick in meinen bohrte und die Dunkelheit, die ihn umgab mich mit spitzen Krallen lockte.
»Nein«, erwiderte er tonlos. »Nein, du hast keine Angst. Ich erkenne Angst, wenn ich sie sehe.«
Mein Blick fiel auf mein Handgelenk, dass er immer noch umklammert hielt. Nicht so fest, dass es wehtat, aber dennoch fest genug, um mich am weglaufen zu hindern und mich an Ort und Stelle zu fixieren. »Mir gefällt es ebenso wenig wie dir, dass ich hier bin«, sagte ich vorsichtig, »aber wenn du mich hättest töten wollen, dann hättest du es sicherlich schon längst getan. Und jetzt lass mich gefälligst los – oder ich erzähle Zola davon.« Für einen kurzen Moment bewunderte ich selbst meine Kühnheit, doch als seine Halsschlagader zu pulsieren begann, wurde sie von der Reue verdrängt. Doch zu meiner Verblüffung lockerte er seinen Griff, sodass ich ihm meinen Arm entziehen konnte.
»Zola ist nicht mehr an Bord«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Sie befragt ihre Knochen und stößt erst wieder zu uns, wenn sie eine Antwort erhalten hat, was dich betrifft.«
Dass meine einzige Verbündete mich allein bei den Piraten zurückgelassen hatte, erschütterte mich. Aber zumindest hatte man mich nach ihrer Abreise nicht erneut in das Verlies gesteckt, also schien sie den Respekt der Piraten zu genießen, was mich hoffen ließ, dass man mich hier in Zukunft tatsächlich besser behandeln würde. Zumindest bis wir an Land gingen, wo ich hoffentlich irgendeine Möglichkeit finden würde, wie ich mich aus dem Staub machen konnte.
In der Kombüse des Schiffes rührte ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren in einem Kessel herum und sah erst auf, als wir schweigend eintraten.
»Gibt es schon Frühstück?«, fragte Bel.
Mit offenem Mund starrte der Junge erst mich, dann Bel und dann wieder mich an, sodass seine blonden Locken hin- und herwippten. Bel folgte seinem Blick, stellte uns einander kurz vor und erklärte dem Jungen, namens Matti, dass ich eine Zeit lang als Gast mit ihnen segeln würde, ehe er sich auf einen freien Hocker an einem kleinen Tisch setzte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob man hier auf diesem Schiff immer so mit seinen Gästen umging, aber Mattis Blick ließ mich daran zweifeln, dass Gäste dieses Schiff überhaupt freiwillig betraten.
Als Bel bemerkte, dass ich ihn nachdenklich betrachtete, verfinsterte sich seine Miene. »Was ist?«
»Nichts.« Ich winkte ab.
»Nicht mit allen«, sagte er schließlich, als hätte er meine Gedanken erraten. »Nur mit ganz besonders hartnäckigen und nicht kooperierenden.«
Ich wollte noch etwas erwidern, aber Matti fing sich langsam wieder, verteilte Haferbrei in Schalen und reichte mir eine davon. Schüchtern deutete er mit der Hand zu einem weiteren Hocker. »Unsere Vorräte neigen sich dem Ende entgegen, aber ich hoffe, es schmeckt Ihnen trotzdem, Miss.«
In der engen Kombüse so nah mit Bel zusammen zu essen, erschien mir nicht sonderlich verlockend, aber mein Magen verkrampfte sich in Angesicht der dampfenden Schüssel Haferbrei in meiner Hand, sodass ich über meinen Schatten sprang und ihm gegenüber Platz nahm. Es war ein einfaches, aber durchaus schmackhaftes Frühstück und das flaue Gefühl in meinem Magen ließ direkt nach.
»Vielen Dank, es ist ausgezeichnet!«, lobte ich den Küchenjungen, der vor Stolz – oder Scham – rot anlief.
Bel schnaubte. Er sah von seiner Schale auf und durchbohrte mich mit seinem Blick. »Wie genau bist du eigentlich hier her gelangt?«
Anscheinend hatte er vor, das Verhör fortzuführen, nur in besserer Umgebung, aber dieses Mal wusste ich genau, was er meinte. Ich schob mir einen weiteren Löffel Haferbrei in den Mund, ehe ich vorsichtig antwortete: »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was passiert ist. Wir waren auf einem Schiff unterwegs, als plötzlich ein dichter Nebel und ein Sturm aufgezogen sind. Durch ein Missgeschick ging ich schließlich über Bord. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich fast ertrunken wäre und als ich auftauchte, von euch gefangen genommen wurde.« Mit Absicht sprach ich nicht von Rettung.
Bel lehnte sich zurück, stellte seine leere Schale auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir?«
»Mein Freund und ich«, antwortete ich. »Und der Kapitän.« Was machte es schon, ein paar Informationen preiszugeben. Er hatte keine Namen und würde nicht viel damit anfangen können.
»Das sind schon äußerst mysteriöse Umstände unter denen wir dich gefunden haben.« Er schnalzte mit der Zunge. »Woher hast du das Wissen, wie man einen Mann zusammenflickt?«
»Ich studiere Medizin.« Ich sah ihn über den Rand meiner Schale hinweg an. »In meiner Welt haben Frauen dieselben Rechte wie Männer.«
Eine seiner dunklen Augenbrauen wanderte ein Stück höher. »Du hast dich bisher nicht ein einziges Mal nach deinem Patienten erkundigt. Aus dir wird sicherlich keine gute Medizinerin werden.«
Die Wut kochte erneut in mir hoch, aber er hatte recht. In meinem Verlies war ich so damit beschäftigt gewesen, mir Pläne auszudenken, zu grübeln und ja, einfach zu überleben, dass ich so gut wie nie an den Captain gedacht hatte, aber er hatte sich schließlich auch nicht bei mir blicken lassen. Ich wusste weder, ob er seine Verletzung gut überstanden, noch was es mit der Kugel aus Wasser auf sich hatte.
»Hätte ich denn einen Ausflug aus meinem Verlies machen dürfen, um dem Captain einen Besuch abzustatten?«, fragte ich spitz.
Schweigend nahm er die Schüssel vom Tisch und kratzte den Rest seines Haferbreis mit einem hölzernen Löffel zusammen. »Vermutlich nicht«, sagte er schließlich und schob sich den letzten Bissen in den Mund. Anschließend stellte er die leere Schale wieder zurück auf den Tisch und betrachtete mich selbstgefällig, was in mir den Wunsch weckte, ihm das Besteck in den Rachen zu rammen.
All meinen guten Vorsätzen und Plänen zum Trotz machte es ganz den Anschein, dass ich in seiner Anwesenheit einfach nicht den Mund halten konnte. Und da ich noch immer hier saß und meine Eingeweide nicht vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet waren, wagte ich mich noch ein Schritt weiter.
»Wie hat der Captain das mit dem Wasser gemacht?«
Er verdrehte die Augen. »Heb dir deine Fragen für den richtigen Moment auf. Vielleicht wird Zola sie dir erklären. Ich für meinen Teil habe keine Lust dazu.«
Er durfte mich also mit Fragen löchern und bestand auf Antworten, aber ich hatte den Mund zu halten? Ruckartig stand ich auf und stapfte zur Tür. Als mir einfiel, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich zu meiner Kajüte zurückkam, blieb ich im Türrahmen stehen und krallte die Hände in das Holz.
»Würdest du mich bitte wieder zurückbringen?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe keine Ahnung, wo meine gottverdammte Kajüte ist.«
Matti zog scharf die Luft ein, anscheinend geschockt über meine Wortwahl, aber Bels Mundwinkel zuckten kurz und ein teuflisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, ehe er aufstand und mich wortlos hinausführte.
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