61 - Rabenschwarz
▷ Bon Iver & St. Vincent - Roslyn ◁
Ich weiß nicht, wie ich es in meine Wohnung schaffe. Aber ich weiß, dass Leonie keine Sekunde von meiner Seite weicht. Sie hält mich fest und lässt mich nicht los. Kein einziges Mal. Sie trocknet meine Tränen, wiegt mich hin und her, wie ein Baby. Ich kann nicht mehr aufhören zu weinen. Und doch habe ich es noch immer nicht realisiert. Ich kann noch immer nicht glauben, dass Noah gegangen ist. Für immer.
Die Bettdecke liegt schwer auf mir, wiegt so viel wie Blei, drückt mir die Luft weg. Ich werfe sie zur Seite und setze mich auf. Leonie sitzt am Bettrand und hält meine Hand.
Ich wünschte, Noah wäre hier. Ich wünschte es so sehr.
Tränen trüben meine Sicht und mein gebrochenes Herz bohrt Splitter in meine Lunge. Macht mir das Atmen schwer. Mein Herz stolpert. Ich stolpere. Mein Leben stolpert. Meine Welt hat aufgehört sich zu drehen. Noah ist weg. Für immer. Für immer. Für immer. Mein Leben wurde durcheinandergeschüttelt, wie ein Polaroidbild. Ich kann kaum gerade laufen, weil alles konfus ist und ich komplett aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Ich kann nicht in Worte fassen, wie groß der Schmerz ist, den ich spüre. Er ist so groß, dass ich mich gleichzeitig so unendlich leer fühle. Als wäre der Schmerz ein großes, schwarzes Loch, das alles in sich aufsaugt und nie wieder ans Licht lässt. Es fühlt sich an, als würden die Wände meines Zimmers näher kommen und mich schon bald unter sich begraben.
Ich schluchze.
"Ach, Lia." Leonies Stimme ist tränenverzerrt. Sie schließt mich in die Arme und hält mich fest. Ihr Pulli kratzt an meinem Kinn und ich versuche, mein Kinn etwas zu heben. Jedoch liegen ihre Arme zu fest um mich, als dass ich mich großartig bewegen könnte.
Inzwischen habe ich schon so viel geweint, dass ich kaum noch etwas sehe. Meine Nase läuft. Der Schmerz, der mich mit so einer Wucht getroffen hat, haut mich um. Macht mich schwach. Kraftlos. Unendlich traurig. Wie muss es sich erst anfühlen, wenn ich es wirklich realisiert habe? Oder bin ich gerade auf dem Weg dahin, es wirklich zu realisieren?
Mein Herz ist so leer und doch pocht es schmerzvoll in meiner Brust. Mein Herz schlägt. Noahs nicht mehr.
Unter Tränen sehe ich auf den Stuhl in meinem Schlafzimmer. Dort liegen noch Noahs Sachen. Ich löse mich von Leonie und steige aus dem Bett.
"Lia, was machst du?", erkundigt sich meine Freundin besorgt.
Ich schnappe mir einen seiner Pullis und ziehe ihn mir über. Mit zittrigen Fingern halte ich den Stoff vor meine Nase und inhaliere den Duft. Noahs Duft. Er beruhigt mich.
Und gleichzeitig treibt er mir erneut heiße Tränen in die Augen. Ich werde ihn nie wieder sehen. Ich werde nie wieder seinen Duft einatmen können. Wenn dieser Pulli meinen Duft angenommen hat, werde ich nichts mehr von ihm haben, das nach ihm riecht.
Meine Knie werden schwach und ich falle auf den Boden. Leonie springt sofort auf und ist an meiner Seite. Wieder wiegt sie mich, spricht beruhigende Worte, die ich kaum wahrnehme.
Ich fühle nichts. Mein Kopf ist unsagbar leer. Ich fühle mich schwach. Zittrig. Aber mein Herz ist schwarz. Rabenschwarz. Als hätte es der Teufel höchstpersönlich mit in die Hölle genommen und dort durch die ganzen Feuer gezerrt, um es mir schwarz verbrannt wieder zu bringen.
Schließlich bin ich zu erschöpft vom Weinen und schlafe irgendwann ein.
"Dalí", seine sanfte Stimme lässt mich stocken. Ich drehe mich um.
Und da steht er. Der Mann, der mein Herz im Sturm erobert hat und mir seins geschenkt hat. Noah.
Mein Herz hüpft aufgeregt und erleichtert. "Du lebst. Ich hatte so Angst, dass du tot bist."
Noah lächelt traurig. "Das bin ich, mein Schatz. Es tut mir leid."
Tränen füllen meine Augen, sie sind so scharf wie eine Wagenladung Wasabi auf meiner Haut.
"Nein", schluchze ich und rufe: "Noah!"
Doch er verschwindet im Nebel.
"Lia, wach auf. Du hast geträumt." Leonie ist über mich gebeugt, das Licht der Nachttischlampe ist an. Sie sieht müde aus - und sehr besorgt.
Ich schrecke hoch und spüre mein Herz in der Brust aufgeregt schlagen.
"Komm, du musst etwas trinken", meint sie und hält mir ein Glas Wasser hin.
Doch ich schüttle nur den Kopf und schiebe es weg, wobei etwas von der Flüssigkeit auf mir landet. Aber es ist mir egal. Es ist mir alles egal.
"Lia, bitte. Du hast seit Stunden nichts mehr getrunken. Ich habe schon einen von euch beiden verloren. Ich will nicht noch jemanden verlieren." Sie klingt müde und traurig.
"Beruhige dich, du wirst mich nicht verlieren, nur weil ich mal ein paar Stunden kein Wasser trinke", fauche ich sie an und greife mir doch das Wasser. Es schmeckt nach nichts. Es schmeckt leer.
Leonie seufzt. "Ich wünschte, ich könnte dir etwas von dem Schmerz nehmen, der sich in dir breit gemacht hat."
Ich beobachte meine Hand, die immer und immer wieder über die Bettdecke fährt. Ihre Worte machen mich sprachlos und überfordern mich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist auch der Grund warum ich ihre Hand nehme und sie drücke.
Erschöpfung kämpft sich an die Oberfläche und ich schlafe wieder ein. Ich merke noch, wie Leonie das Licht ausschaltet und sich an mich kuschelt - und mich festhält.
Mitten in der Nacht öffne ich meine Augen, denn ich bin hellwach. Ich weine. Davon muss ich wach geworden sein. Leonie liegt neben mir und schläft. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Ich möchte sie nicht aufwecken. Also weine ich leise und presse mir die Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass sich ein Schluchzer davonstiehlt. Noahs Tod kann nicht wahr sein. Ich möchte nicht, dass es wahr ist. Ich sehe nicht ein, dass er weg ist. Dass ich ihn nie wieder sehen werde. Nie wieder.
Am nächsten Morgen wache ich auf und das Bett neben mir ist leer. Ich rieche an Noahs Pulli und richte mich auf. Ich bin wahnsinnig müde und erschöpft. Mit langsamen Schritten betrete ich das Badezimmer, in dem noch immer seine Zahnbürste im Becher neben meiner steht und sein Duschzeug neben meine. Ich seufze und greife nach meiner Zahnbürste. Meine Hände zittern. Mein Kopf ist wie leergefegt. Zähneputzend starre ich auf einen Punkt vor mir und hebe schließlich den Kopf. Mein Anblick treibt mir die Galle in den Magen. Wut durchfährt mich. Macht mich machtlos. Ich pfeffere die Zahnbürste gegen den Spiegel, woraufhin sie scheppernd zu Boden fällt.
Ich bin schuld, dass er tot ist. Ich wollte zum Weihnachtsmarkt. Ich wollte einen Glühwein. Ich wollte das. Ich bin schuld.
Hass auf mich selbst durchzuckt mich. Hass auf diese Person, die uns das angetan hat frisst sich in mich hinein. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie große die Abneigung mir selbst gegenüber ist. Beinahe so groß, dass man sie mit bloßem Auge sehen und mit den eigenen Händen greifen kann. Ich kann kaum atmen und kralle mich am Waschbecken fest. Keuchend falle ich auf die Knie, ein stummer Schrei verlässt meinen Mund.
Leonie findet mich, auf dem Boden zusammengerollt.
"Komm, Lia. Komm mit", wispert sie. Sie führt mich in die Küche und weist mich an, mich an die Arbeitsfläche zu lehnen. "Warte hier. Ich bin gleich wiede da."
Sie lässt mich zurück. Neben mir befindet sich der Schrank mit dem Alkohol. Es ist früh am morgen. Und der rationale Teil in mir weiß, dass es falsch ist - aber ich schalte ihn aus. Der erste Schluck Whiskey schmeckt ekelhaft, bitter, scharf. Aber die darauffolgenden Schlücke spüre ich schon gar nicht mehr.
Ich weine, obwohl ich nichts fühlen kann. Ich spüre nichts. In mir ist es, als wäre ich tot. Langsam rutsche ich an der Küchenzeile nach unten, sodass ich auf dem Boden sitze. Die Flasche knallt dabei kurz auf den Boden, was ein komisches Geräusch von sich gibt. Aber es ist egal. Es ist mir alles egal. Ich versuche, die Flasche zu leeren. Gerade als ich bei meinem fünften großen Schluck bin, kommt Leonie wieder. Es dauert keine Sekunde und sie hat die Situation erfasst.
"Verdammt, Lia. Es ist noch nicht mal Mittag." Sie reißt mir die Flasche aus der Hand. Ich bin zu müde um sie anzukeifen.
Mit wackeligen Knien und verschobener Optik versuche ich aufzustehen. Aber ich falle immer wieder auf den Boden.
Ha, welch Metapher für mein Leben.
Der Wasserkocher blubbert und sie kippt die kochende Flüssigkeit in die blaue Teekanne. Kurz darauf höre ich das leise Ticken der Eieruhr. Leonie seufzt und krallt sich kurz an der Theke fest, ehe sie sich neben mir auf den Boden fallen lässt und meine Hand in ihre nimmt.
Ihre Hand ist so warm, ganz im Gegenteil zu meiner, die seit Ewigkeiten einem Eisblock gleicht. Ohne Noah ist mir immer kalt, zu jeder Zeit. Egal, ob ich in dem warmen Bett liege oder nicht. Ich drücke Leonies Hand und lasse meinen Kopf auf meine Brust sinken. Es tut alles weh. Mein Herz. Mein Kopf. Mein Brustkorb. Mein Bauch. Alles. Und doch spüre ich gleichzeitig überhaupt nichts. Ich bin so leer. Und dieses Leben kommt mir unwahrscheinlich sinnlos vor. Der Schmerz betäubt mich. Er ertränkt mich. Er ertränkt mich in Dunkelheit. Ich weiß, ich sollte mir Sorgen um Smilla machen. Aber ich kann nicht. Der Schmerz den ich empfinde raubt mir jegliche Kraft.
Es vergehen Tage. Wie viele, das weiß ich nicht. Oder doch. Es ist bereits der vierte Tag ohne Noah. Bald ist die Beerdigung. Smilla hat es mir erzählt, als Leonie und Oma uns dazu gezwungen haben, etwas zu essen. Dass wir beide das meiste Essen auf unserem Teller nur von einer Seite auf die andere geschoben haben, ist beiden natürlich aufgefallen. Noah wird in der Nähe von St.-Peter-Ording beerdigt. Direkt am Meer. Und ich finde, es gibt keinen besseren Ort für ihn. Oma, Leonie und Nico begleiten Smilla und mich.
Mein Messer schneidet nicht richtig. Es will diesen blöden Brokkoli einfach nicht kleiner machen. Mir fällt ein, wie Noah mir in solchen Fällen immer sofort geholfen hat. Oder als wir das letzte Mal zusammen abgewaschen haben. Unsere letzte Nacht. Unser letzter Morgen.
Salzige, heiße Tränen fallen auf mein Essen, das inzwischen schon abgekühlt ist. Ich schiebe den Stuhl scharrend nach hinten und springe auf - darauf bedacht, niemanden anzusehen. Dass ich unter meinem Bett eine Flasche Wodka versteckt habe, weiß niemand. Dankbar trinke ich einige Schlücke und lasse mich dann ins Bett fallen. Noahs Pulli riecht inzwischen nicht mehr nach ihm. Sein Duft ist weg, er ist gegangen. Wie Noah. Die Erschöpfung holt mich ein und der Alkohol tut sein Übriges um mich in den Schlaf zu singen.
Heute ist nun die erste Stunde bei meine Therapeutin. Obwohl ich geplant hatte, direkt nach der Klinik eine Anschlussbehandlung zu bekommen, hat es sich ziemlich verschoben. Mein eigentlicher Einstiegstermin wurde durch einen Notfallpatienten nach hinten geschoben. Aber gut, hier sitze ich nun. Das Wartezimmer ist hell und freundlich. Es ist warm, die Heizung ist voll aufgedreht. Aber mir ist kalt. Ich habe das Gefühl, ich friere von innen; als wären meine Knochen aus Eis. Der Boden knarzt, als die Therapeutin, Frau Mey, mich zum Gespräch abholt.
Wir kennen uns bereits vom Erstgespräch und doch fühlt sich alles so fremd und falsch an.
"Frau Großmann, es ist schön Sie zu sehen. Wie erging es Ihnen in den letzten Monaten?" Sie lehnt sich in ihrem Korbsessel zurück und sieht mich abwartend an.
Auch sie hat einen Block griffbereit auf dem Tisch neben sich.
Das Kissen an meinem Rücken knistert, als ich mich auf der Couch gerade hinsetze.
Ihre Frage ist so vorsichtig gestellt, so oberflächlich, dass ich sie mit einem einzigen Satz beantworten könnte. Als gäbe sie mir die Möglichkeit, entweder alles zu erzählen oder nichts. Sterne tanzen vor meinen Augen.
"Frau Großmann, bitte atmen Sie. Können Sie mich hören? Fokussieren Sie sich auf das was Sie spüren", weist sie an.
Tränen, heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Frau Mey reicht mir Taschentücher. Und dann brechen Worte aus mir heraus. Scharfe, splitternde Worte. Sie kratzen über den Boden, hinterlassen Spuren aus Wut und Trauer, aus Leere und Hoffnungslosigkeit.
"Was ich spüre? Das ist ein gebrochenes Herz. Unendlich großer Schmerz. Und noch viel größeren Hass auf mich selbst. Ich habe dieses Leben nicht verdient.
Ich hätte Noah nie kennenlernen dürfen. Dann würde er noch leben. Ich wünschte, der Suizidversuch hätte funktioniert, dann wären wir uns nie begegnet. Ich bin schuld, dass Noah nicht mehr in dieser Welt wandelt.
Wenn ich einen weiteren Versuch unternehmen würde - wer könnte mich abhalten? Wenn der Versuch gelingt - vielleicht könnte ich ihn so wiedersehen. Vielleicht wäre ich dann endlich wieder bei ihm.
Vielleicht wäre mein, in tausend Splitter gebrochenes Herz, endlich wieder ganz."
Die Dunkelheit hat mich wieder. Und sie begrüßt mich mit offenen Armen.
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