57 - Limettengrün
▷ Halsey - I Walk The Line (Audio) ◁
Die folgenden Tage verbringe ich mit Gassi gehen, ständigem Wäsche waschen und damit, meine Wohnung endlich wieder auf Vordermann zu bringen. Man möchte es nicht glauben, aber selbst wenn man eine Zeit lang nicht Zuhause ist, wird die Wohnung dreckig.
Das Telefon klingelt und ich lege den Staubwedel auf die Arbeitsplatte in der Küche. Seufzend nehme ich es in die Hand und erkenne die Nummer meiner Mutter. Ich habe sie bereits in den letzten Tagen weggedrückt, wenn ich so weitermache, steht sie eines Tages vor meiner Tür. Bevor ich den Anruf entgegennehme hole ich noch einmal tief Luft, um die Anspannung zu vertreiben, die sich plötzlich in mir breit gemacht hat.
"Hallo Mutter", rufe ich mehr in das Telefon als dass ich es sage. Ich wische mit dem Finger über das Regal in der Küche und überprüfe es auf Staub. Mein ganzer Finger ist grau und ich puste ihn in die Luft. Der aufgewirbelte Staub kitzelt mir in der Nase, sodass ich ein Niesen unterdrücken muss.
"Hallo Thalia. Du brauchst mich nicht so anzuschreien, ich bin noch nicht alt." Sie schnaubt und wirkt allein schon bei der Nennung meines Namens genervt bis ins Blut. Als wäre es eine Bürde, dass sie mich anrufen müsste.
Ich schüttle den Kopf. "Was gibt's?", frage ich nur und nehme den Staubwedel wieder in die Hand, um etwas zu tun und meine Genervtheit anders zu kanalisieren. Alles ist gerade spannender als das was sie von sich gibt. Ich würde sogar die ganze Brockhaus-Enzyklopädie vorwärts und rückwärts lesen - mehrmals. Aber das kann ich ihr nicht sagen - auch wenn ich oft genug kurz davor bin.
"Dein Vater und ich werden uns trennen", antwortet sie trocken, ohne jegliche Emotionen, ohne zu zeigen, ob es sie so trifft, wie sie es vielleicht treffen sollte.
Stille und dann ein lautes Knallen. Verwundert stelle ich fest, dass es der Staubwedel war, der mir aus den Händen geglitten ist. Auch wenn sie sich nicht mehr sonderlich liebten - und die Vorstellung, dass sie sich jemals wirklich geliebt haben für mich absolut absurd ist - es ist doch ein Schock. Vor allem, weil doch der Ruf alles ist was meiner Mutter wichtig ist. Und wenn jetzt der Mann auszieht - was werden die Nachbarn von ihr denken? Wie will sie damit zurechtkommen, dass sie nun eine geschiedene Frau ist?
"Ihr trennt euch?", erkundige ich mich ungläubig. "Was sollen denn nur die Nachbarn von euch halten?" Ich kann nicht verhindern, dass es aus mir herausschießt.
Sie übergeht meinen Kommentar gewissentlich. "Mh. Es wird Zeit. Nun sag, wie geht es dir? Ich hoffe, du hast mit diesem kriminellen Tattoowierten nichts mehr zu tun. Eine Schande wäre es."
Wut keimt in mir auf. "Doch, Mutter. Und er hat immer noch einen Namen. Er heißt Noah. Er ist inzwischen mein Freund. Ich liebe ihn", werfe ich ihr entgegen.
Sie lacht bitter auf. "Du liebst ihn. Als würdest du wissen, was Liebe ist."
Ja, von dir habe ich das offensichtlich nicht gelernt.
Doch ich sage dazu nichts. "Wo ist Papa?" Meine Stimme klingt rau. Ich habe keine Lust mehr, mit ihr zu sprechen. Ich habe keine Lust mehr, mir ihre Vorwürfe und bösen Beleidigungen anzuhören. Sie ist meine Mutter. Ich bin dankbar, dass sie mich unter ihrem Herzen getragen hat - aber ich bin nicht dafür zuständig, alles für sie zu tun, um sie glücklich zu machen. Das ist ihr Job, das ist ganz allein ihr Job.
"Er ist gestern ausgezogen. Ich weiß nicht, wo er sich herumtreibt. Es ist mir auch herzlich egal. Er wollte die Scheidung. Er kann sie haben. Aber er bringt mich in Ungnade vor den Nachbarn - und wo du es gerade angesprochen hast - ich bin eine Schande für die Nachbarschaft. Aus diesem Grund muss ich dir sagen: Ich verbiete dir den Kontakt zu ihm."
Nun bin ich es, die bitter und laut auflacht. "Ich glaube nicht, dass du mir irgendetwas vorschreiben kannst." Ich bücke mich um den Staubwedel aufzuheben, der vorhin auf dem Boden gelandet ist. Im Licht der Sonne tanzen tausende Staubpartikelchen, die ich in meinem Putzwahn aufgescheucht habe. Sie funkeln und erinnern mich an tausend kleine Diamanten. Ich habe Durst und so schenke ich mir ein Glas Leitungswasser ein.
Meine Mutter schnaubt und ich nutze die Gunst der Stunde und verabschiede mich. Doch ich habe die Rechnung ohne meine Mutter gemacht. Genervt trinke ich einen Schluck meines kühlen Wassers.
"Nicht so schnell, meine liebe Tochter. Hör mal, das Haus ist jetzt so unendlich leer. Wann ziehst du wieder hier ein?"
Ich verschlucke mich an dem Wasser und muss ziemlich husten. "Gar nicht", äußere ich mich mit erstickter Stimme. "Ich muss jetzt Schluss machen. Bis bald", belle ich und lege auf, ehe sie erneut etwas erwidern kann.
Blinzelnd starre ich noch immer auf die tanzenden und wirbelnden Staubpartikelchen und kann das gerade Gesagte nicht verdauen. Es will sich nicht setzen, wühlt weiterhin in meinem Kopf herum. Es ist für beide Seiten sicherlich besser, wenn sie sich trennen - aber dass es so schnell geht hätte ich niemals gedacht. Noch immer halte ich mein Handy in der Hand - und wähle kurzerhand die Nummer meines Vaters. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit ehe er den Anruf annimmt.
"Hey, Lia", begrüßt er mich. Seine Stimme ist leise und klingt unwahrscheinlich weit weg.
"Ist es wahr, Papa?", möchte ich wissen und falle sofort mit der Tür ins Haus.
"Hör zu, ich weiß, es ist ein Schock für dich. Aber ich habe im Urlaub festgestellt, dass ich nicht mehr kann. Ich ertrage das nicht mehr. Ich weiß, es ist für-"
"Nein, ich finde das super, Papa. Zwischen euch war nicht mehr wirklich viel Liebe. Das hat man sogar als Außenstehende gespürt."
Er räuspert sich und seufzt. "Du bist nicht traurig?"
Ich überlege und starre aus dem Fenster. Die Wolken werden vom Wind vertrieben, hin und wieder tauchen düstere Wolken auf, die sich aber gleich wieder unsichtbar machen. Ich lausche und versuche herauszufinden was mein Herz sagt. Aber es ist still. Es schlägt ruhig in meiner Brust.
"Nein. Wenn es das Richtige für euch ist, dann bin ich nicht traurig", antworte ich ihm und setze mich an meinen Schreibtisch.
Ich klappe meinen Laptop auf, um mir einen Film für später auszusuchen, den ich auf Netflix gucken würde. Aber auf der Tastatur des Laptops liegt ein limettengrüner Zettel. Auf ihm steht 'Ich liebe dich' in Noahs Schrift. Jetzt hüpft mein Herz aufgeregt in meiner Brust und füllt sich gleichzeitig mit so viel Glück, dass ich das Gefühl habe, ich könnte allein mit meinen Fingerspitzen bunte Bilder in die Luft malen. Diese Geste ist klein - aber gleichzeitig so unendlich groß für mich, dass ich ihn sofort anrufen möchte. Und obwohl wir jetzt zusammen viel Zeit verbracht haben, fehlt er mir.
"Lia? Hast du mir zugehört?"
Wie von weit weg erschallt Papas Stimme.
"Hm?", entgegne ich und grinse wie verrückt.
"Ist alles gut?", erkundigt er sich erneut.
"Ja, Papa. Es ist alles gut." Ich fahre mit meinen Fingerspitzen über das Papier, das sich an den Ecken ein bisschen eingerollt hat.
Er stutzt. "Ist gerade etwas passiert? Du klingst verändert."
"Du bist aber aufmerksam", entkommt es mir, bevor ich mich aufhalten kann.
"Aber es ist etwas Gutes, wie mir scheint", sagt er leise.
Ich nicke und vergesse ein weiteres Mal, dass die Person am anderen Ende der Leitung diese Bewegung nicht sehen kann.
"Ich habe einen Freund, Papa."
Stille umgibt mich und kurz denke ich, er habe aufgelegt.
"Das freut mich, Lia. Du klingst glücklich."
"Das bin ich." Und ja, verdammt, das bin ich.
"Wie alt ist er? Wie heißt er? Was macht er beruflich? Wann kann ich ihn kennenlernen?", schießt mein Vater mir entgegen.
"Beruhige dich", lache ich. "Er heißt Noah und du hast ihn schon gesehen. Er war beim Elterngespräch dabei."
"Ah, der junge Mann mit den vielen Bildern auf seinem Körper", sagt er schlicht, ohne Wertung.
"Ja, genau der." Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.
"Ist er gut zu dir?"
Ich werde rot bei dem Gedanken, wie gut er zu mir ist und versuche, mein heißes Gesicht mit meinen kalten Händen abzukühlen. Das hat dein Vater sicherlich nicht damit gemeint, Lia.
"Ja, ja, das ist er. Vielleicht kommst du Oma und mich bald besuchen? Ich würde mich freuen."
"Sehr gerne. Danke, dass du mich angerufen hast."
Wir verabschieden uns und Wärme füllt mein Herz. Entgegen aller Erwartungen bin ich ein Papakind. Auch wenn er streng ist - er hat ein gutes Herz, auch wenn er es selten zeigen kann.
Ich lege das Handy auf den Schreibtisch und mache mich daran, den Rest meiner Wohnung sauber zu machen, bevor Leonie zu Besuch kommt. Es dauert zwei Stunden bis ich endlich zufrieden bin und mich unter die Dusche stellen kann. Einige Zeit später klingelt es an der Tür.
"Hey." Leonie drückt mich fest an sich.
"Komm rein, komm rein", weise ich sie an und trete zur Seite, damit sie meine Wohnung betreten kann.
Sie hat Pizza mitgebracht. Einmal Salami und einmal Vegetarisch. Beide teilen wir uns zur Hälfte. Ich schneide meine Pizza in Stücke und beobachte, wie Leonie mit ihrem Messer kämpft.
"Guck nicht so, das ist harte Handarbeit", murmelt sie und schließt kurz darauf die Augen. "Okay, das war sehr doppeldeutig."
Wie zwei Kinder prusten wir gleichzeitig los.
"Guck, hier ist mein Messer, das schneidet besser."
"Okay, wow. Du reimst", stellt Leonie fest und grinst mich an, ehe sie sich wieder ihrer Pizza widmet.
Ich warte, bis sie fertig ist und drücke ihr schließlich das Weinglas in die Hand um mit ihr anzustoßen.
"Auf uns", sage ich und proste ihr zu.
Die Pizza schmeckt hervorragend. Der Boden ist perfekt knusprig und an Käse wurde nicht gespart. Es tut gut, Zeit mit Leonie zu verbringen und sich zu unterhalten. Gerade habe ich ihr alles über den Ausflug nach St.-Peter-Ording erzählt - wobei ich natürlich einige Details ausgelassen habe, denn nicht alles geht sie etwas an. Ich schütte ihr etwas Wein nach und trinke einen Schluck von dem trockenen Weißwein.
"Sag mal, Lia, geht ihr eigentlich auch auf den Weihnachtsmarkt?", erkundigt sie sich und sieht mich kurz an, bevor sie in die Pizza beißt.
Ich schüttle den Kopf. "Also wir haben bis jetzt noch nicht darüber gesprochen. Aber ich glaube, ich würde total gerne mit ihm auf einen Weihnachtsmarkt geben."
"Dann frag ihn, Noah geht bestimmt mit dir hin. Ihr könnt ja auch Theo mitnehmen." Sie lächelt. Scheinbar hat sie wirklich einen Narren an Omas Hund gefressen.
"Meinst du? Ist das nicht zu kitschig?"
"Liebe ist immer kitschig, Lia. Komm schon, frag ihn", fordert sie mich auf.
Mein Handy klingelt bevor ich Noah anrufen kann. Ein Blick auf das Display verrät mir, dass es ausgerechnet Noah ist der anruft.
"Hey", begrüße ich ihn.
"Hallo mein Herz. Ich hab den Job!", stößt er jubelnd aus.
"Was? Wirklich? Oh, Noah, das freut mich. Wann kannst du anfangen?"
"Anfang Januar geht es los. Ich bin so froh. Dann kann ich dich endlich zum Essen einladen."
Schnaubend schüttle ich den Kopf. "Du brauchst mich nicht zum Essen einladen, ich kann für mich selbst zahlen."
"Ich weiß, aber ich möchte", bestimmt er.
"Na gut. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Job, ich freue mich so sehr für dich." Ein großes Lächeln liegt in meinem Gesicht. Wochenlang haben wir gebangt und gehofft, dass er endlich etwas findet. Und tatsächlich: Das Unternehmen bei dem er die Schnupperlehre hatte hat ihm zugesagt. "Ich muss dich was fragen", plappere ich.
Er räuspert sich. "Okay, frag."
"Möchtest du mit mir auf einen Weihnachtsmarkt gehen? Ich möchte so gerne. Ich war schon so lange nicht mehr auf einem Weihnachtsmarkt. Und bald ist ja Weihnachten. Ich würde mich wirklich freuen. Also es wäre wirklich total toll, wenn-"
Er unterbricht mich und lacht.
"Ja, Lia. Ich will."
"Danke. Liebe Grüße von Leonie."
"Liebe Grüße zurück. Ich muss jetzt auflegen. Aber wir sehen uns morgen?"
"Ja, bis morgen. Ich liebe dich", flüstere ich und drehe mich von Leonie weg, damit ich ihr Grinsen nicht sehen muss.
"Ich liebe dich", erwidert er und legt auf.
Ich seufze und drehe mich mit einem dümmlichen Grinsen wieder um.
"Was denn?", erkundige ich mich, das Offensichtliche umfahrend.
"Ihr seid so herrlich kitschig und verliebt. Es tut gut dich so zu sehen", gibt sie zu und ihr Blick wird sanft.
"Das geht mir bei Nico und dir auch so, Leo."
Sie drückt mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. "Wollen wir zwei Kitschtanten jetzt einen Film gucken?"
Der Wein in ihrem Glas schwappt fast über, als sie sich voller Elan an die Couchlehne fallen lässt.
Wir entscheiden uns für einen Actionfilm mit dem Schauspieler von Jacob von Twilight. Immer wieder geben wir Kommentare ab und unterhalten uns mehr über den Film, als dass wir ihn großartig ansehen. Aber genau so soll sie sein, die Zeit. Unbeschwert, voller Leichtigkeit, Freude, Freundschaft und Liebe. Genauso. Der Abend mit Leonie ist ein weiterer Moment für meine Marmeladengläser. Bald habe ich ein ganzes Regal davon. Und das macht mich verdammt stolz und dankbar.
Hätte ich mein Leben damals beendet, hätte ich niemals eine solch große Menge an Marmeladengläsern vorzuweisen.
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