53 - Sandbeige
▷ MISSIO - Can I Exist ◁
Leiser und sanfter Regen fällt auf uns nieder. Deswegen stellen wir uns unter das Dach einer Bude. Der Regen tropft links und rechts am Holz der Bude entlang. Das Papier knistert, als ich meine Schokofrüchte weiter auspacke und genüsslich hineinbeiße. Die Schokolade knackt und umhüllt süßlich die leicht saure Erdbeere. Ich seufze leise und erhasche dabei einen Blick auf Noah, der mich mit seinen funkelnden Augen ansieht, aber die Augenbrauen zusammengezogen hat und kurz zu meinem Essen blickt.
"Mh?" Mehr bekomme ich nicht raus, da mein Mund voller leckerer Schokolade und Erbeere ist. Mir wird bewusst, dass ich glücklich bin. In Noahs Gegenwart bin ich ich selbst. Ich fühle mich sicher und geborgen. Neugierig starre ich ihn an und warte auf eine Antwort auf meine Frage.
"Hast du denn nicht schon genug davon gegessen?" Er runzelt jetzt die Stirn und grinst schief. Ein Grübchen stiehlt sich in sein Gesicht. Aber die Wärme in seinen Augen erreicht mich nicht. Schlagartig ist mir kalt, als hätte er einen ganzen Eimer mit eiskaltem Regenwasser über mir ausgekippt.
Vermutlich meint er das gar nicht böse, aber ich bekomme es in den komplett falschen Hals. Das scheint er auch zu merken und mein Gesichtsausdruck muss Bände sprechen, denn seine Gesichtszüge entgleisen ihm völlig.
"Lia, nein. So ... Lia, warte", stammelt er und hebt langsam seinen Arm, wie als wollte er mich festhalten.
Gerade als er auf mich zugehen will, werden wir von einem Mann unterbrochen, der seinen Namen ruft. Noah stockt, sieht in die Richtung aus der sein Name kommt und ich nutze die Gelegenheit und drehe mich um. Ich fliehe, ich renne, so schnell ich kann. Das Atmen läuft mir schwer und ich kann mich kaum auf das Laufen konzentrieren, weil ich versuche, die Erdbeeren wieder einzupacken und in meine Tasche zu stopfen. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht - und so werfe ich sie in den Müll. Mein Herz blutet - nicht nur wegen Noahs Aussage, sondern, weil ich es einfach nicht mag, wenn man Essen wegwirft.
Was man dir ja auch an deiner Figur ansieht.
Tränen laufen über meine Wangen. Ich weiß, vermutlich reagiere ich gerade total über. Aber ich habe all diese Kommentare bereits von meiner Mutter gehört, daran erinnert mich Noahs Aussage. Sie triggert mich. Sie triggert mich so sehr, dass ich nichts mehr hören und sehen möchte. Ich möchte verschwinden. Mich klein machen. Mich unsichtbar machen. Nichts mehr fühlen. Selbsthass frisst mich auf, ätzt sich durch meinen Körper. Ich stehe wieder vor meiner Mutter, die mich anschreit und aus ihren kalten Augen von oben herab ansieht. Es ist jetzt ihre Stimme die ich in meinem Kopf höre, die dort erklingt und mein Selbstbewusstsein, das ich mir in den letzten Monaten so hart erarbeitet habe, wieder klein macht.
"Lia, verdammt, jetzt warte doch mal." Ich höre Noahs Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass er mir aber nicht nachläuft, sondern erneut stehen bleibt und etwas in seiner Hosentasche sucht.
Es ist gut, dass er stehen bleibt. Ich hätte keine Chance - er hätte mich innerhalb weniger Sekunden eingeholt. Gegen seine langen Beine hätte ich mit meinen Stummelbeinchen keinerlei Chance. Dazu kommt, dass seine Kondition um einiges besser ist.
Die Straße vor mir hat plötzlich eine Stufe. Ich stolpere. Ein Auto quietscht und ich starre geblendet in zwei helle Scheinwerfer. Die Fahrertür öffnet sich und ein junger Mann springt heraus.
"Kannst du nicht aufpassen, verdammt?! Ich hätte dich beinahe überfahren. Mensch, Mädel, geh von der Straße runter!"
Erstaunt sehe ich auf und tatsächlich: Ich stehe mitten auf der Hauptstraße. Die Menschen um uns beobachten uns. Ich stammle eine leise Entschuldigung und winke kurz, ehe ich schnell weiter über die mäßig befahrene Straße laufe.
Dann höre ich Schritte hinter mir. Schnelle Schritte "Lia, jetzt warte. Verdammte Axt!" Seine Stimme klingt wütend - und näher als ich dachte.
Ich werfe einen kurzen Blick über die Schultern und da ist er, direkt hinter mir. Ein wütender Blick liegt in seinen wilden Augen. Er hätte mich innerhalb weniger Schritte vollends eingeholt, weswegen ich aufgebe und stehen bleibe. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und sehe ihn herausfordernd an, in der Erwartung, dass er mir weitere Dinge an den Kopf wirft.
"Was willst du, Noah?", raunze ich ihn an.
"Es war doch nicht so gemeint, verdammt." Fahrig wischt er mit seiner Hand durch die Luft, malt Bilder und Worte, die ich nicht erkennen kann.
Ich hebe eine Augenbraue. "Alles ist so gemeint in diesem Zusammenhang."
Noah runzelt die Stirn und schüttelt langsam den Kopf. "Ich bin nicht deine Mutter, Lia", sagt er leise.
"Gerade bist du es", werfe ich zurück.
"Nein, verdammt. Nicht jeder, der etwas in diesem Zusammenhang sagt, will dir etwas Böses."
"Meine Mutter will mir auch nichts Böses, sie meint das ja auch nur gut. Also komm' mir doch bitte nicht so."
"Ich fasse es nicht, dass du mich mit ihr auf eine Stufe stellst." Wieder schüttelt er den Kopf. Sein Blick wird kurz kalt, bevor er wegsieht.
"Weil du es gerade bist", schnauze ich ihn an und halte die Luft an. Doch er sieht mich immer noch nicht an. Seine Wangenmuskeln mahlen, während im der kalte Regen über das Gesicht läuft und dort Spuren hinterlässt, wo ich sie bereits mit meinen vorsichtigen Fingerspitzen hinterlassen habe.
Rational gesehen weiß ich, dass ich gerade vollkommen übertreibe und aus einer Mücke einen Elefanten mache. Aber seine Aussage erinnert mich an meine Mutter und setzt Bilder in meinen Kopf, die ich eigentlich schon längst verarbeitet habe. Dachte ich. Es fällt mir gerade wahnsinnig schwer, Noah und meine Mutter auseinanderzuhalten und meine konfusen Gefühle zu ordnen. Ich will mich wirklich nicht mit ihm streiten. Vor allem nicht wegen einer Kleinigkeit, einer Neckerei oder einem Rat - der aus Noahs Mund wesentlich liebevoller klingt als aus dem meiner Mutter. Aber der Splitter den mir meine Mutter in mein Herz gestoßen hat steckt noch immer verdammt tief. Ich verstecke meine Hände in den Jackenärmeln und werfe Noah erneut einen Blick zu. Er runzelt die Stirn und beobachtet irgendwas links von ihm. Er ist abgelenkt und ich nutze den Moment und haue ab. Ja, ich weiß, es ist kindisch. Aber ich muss alleine sein. Ich muss aus der Situation raus und meine Gedanken ordnen. Mein Problem ist, dass ich, wenn ich mich in die Enge gedrängt fühle, mit spitzem Pfeil und Bogen schieße - denn ich gehe inzwischen nicht mehr kampflos unter. Dass ich dann ziemlich böse werde, hat Noah am eigenen Leib erfahren müssen. Bilder aus der Therapie schießen mir in den Kopf. Diese Gruppentherapie hat uns beide sehr viel weitergebracht, als ich es je für möglich gehalten hätte.
"Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ja, dann lauf doch!", ruft er mir hinterher.
Kurz bin ich enttäuscht, dass er mir nicht wieder nachläuft. Aber die Erleichterung überwiegt. Ich möchte nichts Verletzendes sagen. Ich möchte nicht, dass er sieht, wie viel so ein kurzer Satz in mir eigentlich auslöst. Es ist mir peinlich, dass ich so überreagiere und ich schäme mich. Und doch kann ich es ihm nicht zeigen. Ich will nicht, dass er meine Schwäche sieht. Er kennt bereits viel zu viele von mir.
"Ich finde auch allein nach Hause, du Idiot!", pfeffere ich zurück und gehe weiter. Entferne mich weiter von ihm und dem Fest.
Noah kennt viel zu viele Schwächen von mir - und dennoch ist er immer noch da. Vielleicht ist es Zeit, ihm alles zu zeigen. Meine innersten Ängste und Sorgen. Er ist immer noch da. Also besteht die Möglichkeit, dass er auch nicht wegläuft, wenn ich ihm meine anderen Schwächen zeige. Aber nicht jetzt.
Es regnet noch immer, Wasser sammelt sich auf meiner kalten Haut und meiner Kleidung, die nach und nach immer nasser wird. Ich weiß nicht wie lange ich nun schon herumirre. Mir ist kalt und ich sehne mich nach einer heißen Dusche. Ich finde nicht zurück. Scheinbar bin ich falsch abgebogen, denn diese Häuser habe ich noch nie gesehen. Aber es ist auch dunkel und ich war hier natürlich auch noch nie. Aber diese Häuser erinnern mich sehr intensiv an Charlottenburg-Wilmersdorf, dem Stadtteil von Berlin in dem ich groß geworden bin. In dem auch mein Elternhaus steht. Sehnsucht nach der Stimme meiner Oma macht sich breit. Ich suche einen Hauseingang in dem ich geschützt bin. Die Häuser sehen hier sehr ordentlich und hübsch aus, sie sind aus Backstein und allesamt beleuchtet. In fast jedem Haus leuchtet ein Weihnachtsbaum und irgendwelche flackernden Kerzen. Mir ist eiskalt, als ich schließlich einen kleinen Dachvorsprung finde und mein Handy aus der Tasche ziehe. Noahs Name leuchtet mir entgegen, denn er ruft mich an. Aber ich drücke ihn weg. Auf dem Display erscheint sein Name und eine 25, was bedeutet, dass er mich bereits 25 Mal angerufen hat. Innerhalb der wenigen Minuten in denen ich vor ihm weggelaufen bin. Auch Leonies Nummer finde ich in der Anrufliste unter 'Verpasste Anrufe'. Scheinbar muss er sie angerufen haben. Aber es ist mir egal. Ich möchte mit meiner Oma telefonieren, weswegen ich auch ihre Nummer mit zittrigen Fingern antippe. Meine Hände sind so kalt, dass das leuchtende Display zuerst gar nicht reagiert. Als es endlich wählt, atme ich zittrig aus und lehne mich an den kalten Backstein.
"Lia?"
Ihre besorgte Stimme zu hören treibt mir die Tränen in die Augen. Es ist,als wüsste sie bereits, ohne, dass ich irgendetwas sagen müsste, dass etwas nicht stimmt. Ich keuche und kann die heißen Tränen nicht mehr aufhalten. Der kalte Wind kühlt meine Wangen noch mehr und ich spüre mein Gesicht kaum noch. Es ist, als wäre es eingefroren wie die Oberfläche eines großen Sees.
"Lia, mein Herz. Was ist passiert? Hat er dir wehgetan? Hat er dich geschlagen?"
Ich schüttle den Kopf, doch mir wird bewusst, dass sie mich ja gar nicht sehen kann.
"Nein", schluchze ich und schließe die Augen.
"Warum weinst du dann? Was hast du, mein Herz?"
"Wir haben uns gestritten. Weil ich so eine dumme Nuss bin und auf alles so sehr empfindlich reagiere", gebe ich zu.
"Oh, meine Liebe. Es ist normal, dass man sich streitet. Das gehört dazu. Man kann nicht immer einer Meinung sein. Vor allem müsst ihr zwei euch auch erst noch zusammenraufen. Ich weiß, ihr liebt euch, aber selbst wenn man jemanden liebt, könnte man ihn manchmal nach Tasmanien schicken. Glaub mir, dein Opa und ich haben uns oft gestritten. Irgendwann ist es weniger geworden." Sie räuspert sich und schweigt kurz. Der Gedanke an meinen Opa macht sie bestimmt traurig. Er fehlt ihr sehr.
"Jedenfalls", fährt sie fort, "ist es völlig normal, dass man sich gerade am Anfang der Beziehung streitet. Ihr müsst euren Platz noch finden, zusammenwachsen und euch noch besser kennenlernen. Und ein Streit ist wie ein Gewitter. Sicher, es donnert und blitzt gehörig und man zweifelt an allem - aber das darfst du nicht. Er liebt dich, das sehe ich wenn er dich ansieht."
"Aber er hat etwas Verletzendes gesagt", werfe ich ein, auf das andere nicht eingehend.
"Was denn?", erkundigt sie sich.
Ich erzähle ihr von der Situation und mir wird in dem Moment klar, dass meine Reaktion vollkommen übertrieben war. Noah würde mich niemals so behandeln wie meine Mutter es getan hat.
"Natürlich hätte er sich das klemmen können - aber seine Absicht war mit Sicherheit nicht, dir etwas vorzuschreiben. Das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht wollte er dich nur necken?"
"Meinst du? Er hat mich so an meine Mutter erinnert."
"Oh, Lia. Du solltest Noah nicht mit deiner Mutter vergleichen. Deine Mutter ist ... ja ... einzigartig. Es ist verständlich, dass es dich verletzt hat, vor allem mit dem Hintergrund, dass deine Mutter dir so etwas immer wieder gesagt hat. Aber ihr lernt noch. Beide. Und ihr müsst eure Grenzen erst noch kennenlernen und diese erst noch stecken. Das ist in Ordnung. Gib euch Zeit - und zweifel vor allem nicht an seiner Liebe, nur weil er einmal etwas Blödes gesagt hat. Zweifel nicht, Lia. Glaub mir."
Mir ist kalt, deswegen entscheide ich mich, weiterzulaufen. Meine Gefühle sind noch immer durcheinander. Aber ich vermisse Noah. Ohne ihn ist es noch kälter und einsamer. Auch wenn ich es mir gerade nicht wirklich eingestehen will.
"Danke, Omi. Ich ... bin nur so verwirrt und überfordert und mein Kopf ist wie ein Karussell. Ich muss meine Gedanken erst ordnen, bevor ich ihm gegenübertrete. Du hast Recht. Wir müssen beide noch lernen - und erstmal zusammenwachsen. Danke für deinen Rat, Omi." Meine Hände sind Eisklumpen, weswege ich die freie Hand in die Jackentasche stopfe. Leider ist meine Jacke inzwischen ein nasses Stück Stoff. Noch nie habe ich mich so auf eine heiße Dusche gefreut. Schwere Müdigkeit überfällt mich und die große Sehnsucht nach dem warmen Haus wird noch größer.
"Wie geht es dir?", möchte ich wissen, nachdem ich ihr jetzt so lange etwas vorgeheult habe.
Sie lacht leise. "Mir geht es gut. Mach dir um mich mal keine Sorgen. Und jetzt schau, dass du das mit ihm klärst, ja?"
Ich nicke - brumme aber kurz zustimmend. "Danke nochmal. Und - schlaf gut."
"Gerne, mein Herz. Bis bald."
Als ich auflege, umgibt mich die zauberhafte Musik des Regens. Ich blinzle und versuche, in der Ferne etwas zu erkennen, denn die Straße kommt mir doch bekannt vor. Und tatsächlich: Da steht Smillas Haus. Erleichtert seufze ich und mache mich, so schnell ich kann, auf den Weg. Kurz vor ihrer Abfahrt gab sie uns den Hinweis, wo ich den Ersatzschlüssel finde. Also suche ich unter den Zwergen in ihrem Garten - der im Frühling und Sommer wunderschön sein muss - einen mit gelber Mütze. Der Zwerg ist nass und kühl unter meinen kalten Händen. Ich zittere, als ich den Schlüssel in das Türschloss stecken will. Langsam sperre ich die Tür auf und beschließe, den Schlüssel wieder unter den Zwerg zu legen. Für Noah.
Vielleicht auch ein bisschen für mich.
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