50 - Anthrazitgrau
▷ Thalles - You, The Ocean and Me ◁
Verzweifelt stehe ich vor meinem Kleiderschrank und fahre mir, wie die ganze letzte Stunde, fahrig durch die Haare. Aber auch das bringt nichts, um mir einen Durchblick zu verschaffe. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich mitnehmen soll - und wir fahren bereits in wenigen Stunden. Es ist kurz vor Mitternacht und meinen Koffer füllt noch immer gähnende Leere, weil ich einfach nicht weiß, was ich einpacken soll. Schließlich werde ich Noahs Mama kennenlernen und ich möchte einen guten Eindruck auf sie machen. Ich möchte, dass sie mich mag. Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen und starre an die Decke. Meine nervösen Hände fahren gedankenverloren über die Bettddecke und die Nacht, als Noah das erste Mal neben mir geschlafen hat, fällt mir ein. Nach seinem Geburtstag. Ein Lächeln stiehlt sich in mein Gesicht. Es war aufregend und ungewohnt, neben jemandem einzuschlafen - neben Noah einzuschlafen. Ständig hatte ich Angst, dass ich schnarche und ihn vom Schlafen abhalte. Als ich ihm meine Angst mitteilte, hat er nur leise und rau gelacht und seine Arme um mich geschlossen. Ich habe seinem Herzschlag gelauscht und bin schließlich eingeschlafen. Wie in einem bescheuerten Kitschfilm, nur mit dem Unterschied, dass der Kitsch real ist. Und obwohl wir uns vor wenigen Stunden noch gesehen haben, vermisse ich ihn. Wenn er nicht bei mir ist, fühle ich mich nicht komplett.
Ich hole mein Handy aus meiner Hosentasche und starre auf das Display, doch es ist stumm. Nichts blinkt, kein grünes Zeichen in der Benachrichtigungsleiste. Noah schläft vermutlich schon. Er holt mich morgen früh ab, dann fahren wir zusammen zum Bahnhof. Nervöse Schmetterlinge flattern in meinem Magen. Ich fahre mit Noah in den Urlaub. Und ich werde seine Mutter kennenlernen. Und ich werde das Meer sehen. Seufzend richte ich mich auf und beschließe, die erstbesten Sachen in meinen Koffer zu werfen. Meine Augen sind schwer, von der Müdigkeit und Nervosität beladen.
Als ich endlich fertig bin und mich bettfertig gemacht habe, liege ich im Bett und starre erneut an die Zimmerdecke. Mein Herz rast und meine Hände fühlen sich schwitzig an. Konzentriert versuche ich mich an den Atemübungen, die ich in der Klinik gelernt habe und schließe die Augen. Nach einer Weile wird mein Herzschlag wieder langsamer und ich schlafe schließlich ein.
"Lia? Noah ist da, bist du bereit?" Meine Oma steht vor meiner Haustür und ruft in den Flur.
Erneut kontrolliere ich alle Fenster und Türen und sperre schließlich die Haustür ab. Oma tritt langsam zur Seite und lächelt mich liebevoll an.
"Bist du aufgeregt?", möchte sie wissen und betritt vor mir den Weg zum Haus.
"Ja, sehr. Ich habe Angst, dass sie mich nicht mag. Oder dass wir uns streiten. Also Noah und ich", gebe ich zu.
Oma bleibt stehen und sieht mich aus ihren wachen Augen aus an. "Sie wird dich mögen, Lia. Du bist ein gut erzogenes Kind, du hast Marnieren und du liebst ihren Sohn und er liebt dich. Mehr kann sie nicht erwarten." Sie grinst.
Ich stutze. "Ich liebe-" - doch sie unterbricht mich mit einer Handbewegung.
"Ja, ich weiß, das ist alles noch ganz neu und frisch und überhaupt. Aber das sieht ein Blinder, dass ihr euch liebt. Ihr habt eine ganz besondere Verbindung, das spüre sogar ich." Sie grinst erneut und dreht sich wieder um, um zu ihrem Haus zu gelangen.
"Das ist ein schöner Gedanke, dass uns etwas besonderes verbindet. Er bedeutet mir so viel, Oma."
"Das sehe ich. Und glaub mir, du ihm auch. Allein wie er dich ansieht und wie ihr die Hände nicht voneinander lassen könnt und euch ständig berühren müsst, das spricht für sich." Sie wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu.
Sie öffnet die Terrassentür, ich folge ihr mit meinem Koffer durch das Haus und stelle ihn neben der Haustüre ab.
"Danke, Oma. Ich rufe dich an, sobald ich angekommen bin, ja? Und wenn was ist melde dich bitte. Ich mache mir Sorgen, wenn du so alleine bist."
"Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Elsa besucht mich einmal am Tag und dein Vater ruft mich ja sowieso jeden Abend an. Ich bin gut umsorgt. Genieß du mal lieber deine Reise." Sie öffnet die Tür und da steht Noah. Sein ernster Blick wird weich, als er mich sieht und lächelt. Seine Grübchen bringen mich nach wie vor um den Verstand.
"Hi", flüstert er.
"Hallo", flüstere ich ebenso. Doch dann schiebt sich Oma an mir vorbei und macht sich so groß wie sie kann - was ulkig aussieht vor meinem Lieblingsriesen. Doch sein Blick ist voller Respekt, als er sie ansieht.
"So, mein Lieber. Pass mir ja auf meine Enkeltochter auf - und dass ich ja keine Uroma werde nach eurer Reise!" Mahnend hebt sie den Zeigefinger und bohrt in in Noahs Brust. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn jemals so rot anlaufen sehe wie jetzt. Verlegen nickt er und starrt auf den Boden.
Ich genieße zu lange diesen Moment. Als mir das bewusst wird, löse ich mich aus meiner Starre, schnappe meinen Koffer und stelle ihn neben Noah.
"Bis bald, Omi." Ich drücke sie an mich und winke ihr zum Abschied, als Noah und ich ihr Grundstück verlassen. Als wir an der Straße ankommen nimmt er meine Hand und umschließt sie mit seiner warmen, rauen Hand.
"Hast du gut geschlafen?", erkundigt er sich und drückt kurz meine Hand.
Wir stehen an der Bushaltestelle, Noahs riesiger Wanderrucksack lehnt an meinem Koffer, und wir warten auf den Bus.
Müde reibe ich mir über die Augen und schüttle langsam den Kopf. "Nicht wirklich, nein. Und du?", möchte ich wissen und beobachte ihn heimlich, als er in seiner großen Jackentasche nach seinen Zigaretten kramt. Als er die Schachtel gefunden hat, zündet er sich eine an und hält mir die rote Schachtel anschließend hin. Doch ich bin viel zu aufgeregt um eine Zigarette zu rauchen und schüttle deswegen den Kopf.
"Ich auch nicht. Ehrlich gesagt bin ich ziemlich aufgeregt. Ich hoffe, du magst St.-Peter-Ording."
"Bestimmt. Ich habe eher Angst, dass deine Mama mich nicht mag", gebe ich zu und werfe ihm eine kurzen vorsichtigen Blick zu.
Noah schnaubt. "Wie kann man dich denn nicht mögen?" Er drückt die Zigarette wieder im schwarzen Aschenbecher am Abfalleimer aus und schultert seinen Rucksack.
"Also ich kann mir vorstellen, dass man mich nicht leiden kann."
Er schüttelt den Kopf und schnappt sich meinen schweren Koffer ehe ich nach ihm greifen kann. "Ja, weil du es nicht siehst."
Der gelbe Bus hält und wir steigen ein. Er ist voll, darum stehen wir und halten uns fest.
"Weil ich was nicht sehe?", möchte ich wissen und lehne mich an ihn.
"Wie gut du bist." Er drückt mir einen sanften Kuss auf den Scheitel.
Ich seufze. "Gleichfalls", murre ich nur und drücke seine warme Hand.
Schließlich sitzen wir im Zug in Richtung Nordsee. Ich sitze am Fenster und habe ein Buch in der Hand, während Noah Musik hört und abwesend meine Hand streichelt. Immer wieder werfe ich ihm einen kurzen Blick zu und kann einfach nicht fassen, was für ein Glück ich habe. Dass sich jemand für mich entschieden hat. Dass jemand mit mir zusammen sein möchte. Mit mir. Irgendwann verliere ich den Kampf gegen die Müdigkeit, klappe mein Buch zu und lehne mich an Noah, der in den Sitzen kaum Platz für seine langen Beine hat. Sofort legt er seinen Kopf auf meinen und ich schließe schläfrig die Augen.
"Bist du müde, mein Herz?", fragt er leise und streichelt meine Hand.
Ich drücke sie, zu müde um zu antworte.
"Dann schlaf. Ich passe auf, dass dir nichts passiert."
Ich drücke seine Hand erneut und lasse mich von der Dunkelheit mitziehen.
Sanft werde ich wachgerüttelt. "Lia, wir sind bald da. Du musst aufwachen."
Verschlafen wische ich mir über mein Gesicht und reibe mir über die Augen. Gerade noch habe ich von Pfannkuchen mit Schokosoße geträumt und plötzlich sitze ich wieder im Zug. Seufzend richte ich mich auf und kann ein lautes Stöhnen gerade noch unterdrücken. Mein Rücken schmerzt ob dieser komischen Schlafposition und ich spüre jeden einzelnen Wirbel.
Kurz darauf steht Noah auf und kramt unsere Sachen zusammen. Wenige Minuten später stehen wir an der Tür und warten, bis sie sich öffnet. Noch so ein komisches, typisches Ding, was in Deutschland so viele tun: Fünftausend Stunden vor der Tür eines Zuges warten, um so schnell wie möglich auszusteigen. Anstatt, dass man einfach sitzen bleibt - selbst dann wäre man schnell genug.
Ich stolpere hinter Noah aus dem Zug und folge ihm, noch vollkommen wirr vom Schlaf. Er bleibt plötzlich stehen und ich laufe in ihn hinein. Eine Szene, die wir inzwischen schon zur Genüge miterlebt haben, was mir ein Grinsen entlockt.
"Da hinten steht sie", raunt er leise und greift nach meiner Hand.
Bestimmt nehme ich den Koffer in die andere Hand, um seiner Mutter zu zeigen, dass ich ihn nicht ausnutze. Aber ich traue mich dennoch nicht, aufzusehen, sondern starre schüchtern und verzweifelt auf den Boden. Irgendwann wage ich es doch und sehe auf. Ihr Lächeln ist warm und wird breiter, als sie Noah entdeckt. Mit eiligen Schritten läuft sie auf uns zu und bleibt dann direkt vor uns stehen. Freudig nimmt sie ihren Sohn in die Arme, der meine Hand währenddessen nicht loslässt und ich somit ein kleines bisschen mit in die Umarmung gezogen werde. Ich fühle mich kurz fehl am Platz, aber dann sieht sie mich an und ich weiß, von wem er seine sturmblauen Augen hat. Ihre sind ein bisschen heller und tragen mehr Grün in sich. Sie lächelt - und es wirkt ehrlich.
"Hallo, Lia. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen. Ich bin Smilla." Ihre Stimme ist warm, wie Honig im Tee, und mein Herz springt, als sie auch mich in die Arme nimmt und fest an sich drückt. In mir löst sich ein Knoten und ich bin plötzlich sehr damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen.
"Danke, dass ich hier sein darf", stammle ich und versuche, das Zittern in meiner Stimme zu übertönen.
"Kommt ihr zwei. Mein Auto steht da hinten." Sie zeigt auf einen Parkplatz der wohl zum Bahnhof gehört. Vor einem silbernen kleinen Auto bleibt sie schließlich stehen und hilft uns beim Einladen.
Die Fahrt vergeht wie im Fluge, was vermutlich daran liegt, dass sie sich einiges zu erzählen haben. Ich bin damit beschäftigt, aus dem Fenster zu starren und die Häuser sowie die Natur zu betrachten. Vor einem kleinen Haus bleibt sie schließlich stehen. Schon allein der Garten an sich ist eine Wucht - er muss im Sommer großartig aussehen. Es ist ein Backsteinhaus mit einer dunkelblauen Tür und anthrazitgrauen Fensterläden. Ich bleibe stehen und lasse alles auf mich wirken. Und dann rieche ich es. Salzwasser. Meer. Fragend runzle ich die Stirn und sehe Noah an, der auf mich wartet.
"Was hast du?", möchte er wissen.
"Ich rieche das Meer. Oder bilde ich mir das ein?"
Er lächelt. "Nein, das bildest du dir nicht ein. Mama wohnt keine fünf Minuten davon entfernt. Möchtest du hin?" Er stellt unser Gepäck in den Flur.
Ich nicke und muss plötzlich wie bescheuert grinsen.
"Gut, warte einen Moment, ich sage Mama kurz Bescheid."
Es ist wahr, sie wohnt wirklich keine fünf Minuten vom Meer entfernt. Dankbar atme ich tief ein. Es ist windig und eisig kalt. Aber das stört mich nicht. Ich genieße die Meeresluft, den Wind, der über das Meer fegt, die Möwen, die großen Wellen - und Noahs Hand in meiner.
"Dalí, ist alles gut?" Er drückt meine Hand so fest, dass ich meinen Blick vom Meer nehme und ansehe.
"Ja, es ist alles gut. Danke, dass ich hier sein darf."
Noah sieht müde aus, als hätte er wirklich kaum geschlafen. Aber seine Augen funkeln wach und sein Lächeln ist so ehrlich wie eh und je.
"Ich möchte mit niemandem lieber hier sein, als mit dir", raunt er heiser und küsst mich, intensiv, fast hungrig und doch so sanft.
Mein Herz läuft über vor lauter Kitsch und ich ertrage all diese Kitschblasen kaum. Aber ich bin glücklich. Unfassbar glücklich und dankbar.
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