45 - Ultramarinblau
▷ Ashes Remain - Everything Good ◁
Die Nacht ist komisch, ohne Betty oder Leonie neben mir und so vollkommen alleine in fremder Umgebung. Meine Gedanken kreisen wie verrückt, als säßen sie in einem Karussell und drehten sich unaufhörlich. Sturmblaue Augen tauchen darin natürlich ständig auf. Es macht mich verrückt, nicht zu wissen, was das zwischen uns ist; was er für mich empfindet - ob ich gut genug bin. Ich habe Angst, denn Gefühle zu zeigen macht einen so verdammt verletzlich und ich weiß nicht, ob ich es ertragen würde, wenn ich wieder verletzt werden würde.
Mit einem Grinsen denke ich an gestern Abend zurück, als Noah seinen Teller leergegessen hat und Oma ihm, ohne ihn zu fragen, Nachschlag gegeben hat und er diesen ohne zu Murren aufgegessen hat. Omas Grinsen war so ansteckend, dass ich auch grinsen musste.
Heute morgen war ich wie gerädert, als der Wecker geklingelt hat. Aber es hilft nichts, heute ist Samstag und Oma und ich wollen so früh wie möglich zum Möbelgeschäft, da gerade samstags dort die Hölle los ist.
Die Menschen schieben sich durch die Gänge. Manche haben es eilig, andere schlendern so langsam, dass man meinen könnte, sie schlafen im Gehen ein. Aber gut, Oma und ich lassen uns auch Zeit und betrachten die Einrichtungsvorschläge eingehend. Ich finde es bewundernswert, wie kreativ die Einrichtungen oft sind. Vor allem die Küchen haben es mir persönlich angetan. Aber da habe ich mir jetzt schon eine ausgesucht. Jetzt steht Oma neben mir im IKEA und betrachtet das weiße Bücherregal vor uns.
"Und es ist dir wirklich groß genug? Ich habe da hinten noch ein anderes gesehen." Sie zeigt auf ein weiteres, das in der anderen Ecke des Raumes steht. Aber ich schüttle den Kopf.
"Nein, ich möchte mir das hier holen", entgegne ich und fahre mit meiner Hand über das weiche Holz. Es ist kühl unter meiner Hand und ich liebe die Farbe. Man kann sie mit so vielen anderen Farben kombinieren. Gut, ich weiß, dass Weiß eigentlich keine richtige Farbe ist. Aber ich weiß nicht, wie man sonst dazu sagt.
"Nun gut, dann setzen wir das auf deine Liste. Gut, dass sie inzwischen liefern und aufbauen. Wir könnten das niemals alleine machen. Es sei denn, dein Freund kommt vorbei." Sie grinst mich spitzbübisch an.
"Er ist nicht mein Freund. Also wir - ich ... weiß es nicht." Plötzlich ist das Holz des Bücherregales irrsinnig interessant und ich zähle die Faserungen und Linien darin. Oma räuspert sich.
"Also ich mag ihn auf jeden Fall. Er hat Anstand und ist sehr höflich, das mag ich sehr, das weißt du. Komm, sehen wir weiter. Was steht denn noch alles auf deiner Liste, mein Kind?"
Wir wanderen durch den IKEA und setzen alles auf die Liste, was wir nicht selbst tragen oder aufbauen können. Mit in den Einkaufswagen kommt ein ultramarinblaues Kissen für mein Bett. Daneben habe ich mich bereits für einige Pflanzen entschieden - denn Pflanzen bringen erst so richtig Leben in das Zuhause, finde ich. Als wir schließlich fertig sind und ich bezahlt habe, holen wir uns noch Hot Dogs. Ich liebe Hot Dogs, vor allem die von IKEA - und nein, ich bekomme kein Geld dafür, wenn ich das erzähle. Glücklich und erfolgreich packe ich meine Beute in Omas Auto und freue mich auf Montag, da dann meine restlichen Möbel ankommen. Ich bin aufgeregt, weil ich es inzwischen kaum noch erwarten kann, bis ich endlich mein eigenes Zuhause habe. Es fühlt sich gut an, einen eigenen Schlüssel zu haben und zu wissen, dass niemand sonst das Haus betreten kann, außer ich lasse die Tür offen stehen oder angelehnt. Mein Bett und die restlichen Möbel aus meinem alten Zimmer sind bereits aufgebaut und ich bin schon jetzt vollkommen in den Parkettboden meiner neuen Wohnung verliebt. Die Wohnung, also das Gästehaus, ist einstöckig und besitzt alle Zimmer, die man so braucht: Küche, Bad, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Schlafzimmer. Ich habe sogar eine eigene Terrasse und darf Omas Garten mitbenutzen. Nun habe ich alle restlichen Möbelstücke gekauft und warte darauf, dass am Montag alles aufgebaut ist. Ich kann es kaum noch erwarten.
Da ich mich nicht auf das Sparvermögen verlassen möchte, das mir meine Familie von ihrem Geld zurückgelegt hat, habe ich beschlossen, mich auf verschiedene Jobs zu bewerben. Ich weiß nicht so recht, wo es mich hinverschlagen soll. Am liebsten würde ich studieren, aber auch da würde ich meiner Oma wieder auf der Tasche sitzen. Also werde ich versuchen etwas zusammenzusparen und vielleicht dann zu studieren. In Berlin gibt es einige Unis, auf deren Homepages ich bereits war und mich über deren Angebote informiert habe. Meine Motivation, wieder etwas zu lernen und meinen Kopf mit neuem Wissen zu füllen, ist riesig. Aber das muss erstmal warten.
Nun sitze ich am Laptop und suche auf der Seite der Bundesagentur für Arbeit nach Jobangeboten in unserer Nähe. Das Gute an Berlin ist, dass es viele Angebote in allerlei verschiedenen Branchen gibt. Ich entdecke eine Stellenanzeige für ein Kino in meiner Nähe und beschließe, mich dort zu bewerben. Vielleicht wäre das ja was für mich. Gerade bastle ich an meinem Lebenslauf, der leider mehr Lücken hat, als er haben sollte, als es an meiner Tür klopft.
"Lia, du hast Besuch." Meine Oma tritt zur Seite und gibt den Blick auf Noah frei. Er trägt einen schwarzen Stoffmantel, der mich überrascht, aber ihm unsagbar gut steht. Darunter hat er einen Hoodie an, die Kapuze hat er diesmal nicht hochgezogen. Seine Haare sind verwuschelt und ich wünsche mir plötzlich, ich könnte mit meinen bloßen Händen darin hindurchfahren. Scham taucht mein Gesicht in peinliche Röte. Doch das Licht hier drin ist zu schlecht, als dass er es erkennen könnte.
"Hey", sagt er schlicht und betritt mein Arbeitszimmer, das bisher nur aus einem provisorischem Tisch und einem Stuhl besteht. Seine Boots knarzen, als er zu mir geht.
"Hi", antworte ich und stehe auf.
"Ich hab dir was mitgebracht." Er legt eine Schachtel Oreokekse vor mich hin und ich freue mich wie ein kleines Kind an Weihnachten.
"Oreokekse?", quietsche ich.
"Ich weiß ja, dass du die magst." Er sieht mich stolz an .
Ich grinse und falle ihm um den Hals. "Danke. Dafür werde ich mich an deinem Geburtstag revanchieren."
Dann fällt mir auf, dass ich überhaupt nicht weiß, wann er Geburtstag hat. "Wann hast du eigentlich Geburtstag?", möchte ich wissen.
Noah zuckt zurück. "Nicht so wichtig."
"Komm schon, Noah. Wann hast du Geburtstag?"
Er seufzt. "Anfang Oktober."
Ich grinse. "Wann genau?"
"Am 12.10., du Dickschädel." Er schüttelt grinsend den Kopf.
"Danke", entgegne ich und tippe seinen Geburtstag in mein Handy ein. "Wehe du hast mich angelogen."
"Das würde ich nicht wagen." Er sieht mich abwartend an.
"Was?", frage ich.
"Wann ist denn dein Geburtstag?", möchte er wissen.
"Am 11. Juni." Ich stopfe mein Handy in die Hosentasche und streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht. "War es jetzt so schwer, mir das Datum zu verraten?", möchte ich wissen.
Noah zuckt mit den Schultern. "Ich mag meinen Geburtstag nicht. Eigentlich hasse ich ihn. Er war bis jetzt nicht besonders toll." Er lächelt entschuldigend und zieht die Schultern hoch.
Ich nicke und vermerke mir in meinem Kopf, dass ich mir für seinen Geburtstag etwas Besonderes einfallen lassen will. Dazu sage ich aber nichts mehr, weil ich merke, dass ihn das Thema belastet.
"Warum hast du denn eigentlich nicht geschrieben, dass du kommst?", frage ich und sehe aus dem Fenster.
"Ich wollte dich überraschen." Er streckt die Arme in die Luft und lächelt kurz. "Hast du denn vielleicht Lust auf einen kleinen Spaziergang?" Er beißt sich auf die Lippen und sieht mich abwartend an.
Ich werfe einen erneuten Blick aus dem Fenster. Es ist windig, aber der Himmel ist fast klar, es sind kaum Wolken am Himmel zu sehen. Es sieht schön aus, wie die kunterbunten Blätter durch die Luft wirbeln. Also ziehe ich mich herbsttauglich an und folge Noah aus dem Haus. Draußen stelle ich allerdings fest, dass es kälter ist als gedacht und ich ziehe meinen Schal enger um meinen Hals. Meine Hände stopfe ich in meine Jackentasche. Es ist ein Greuel, wenn man so eine Frostbeule ist wie ich. Wir laufen in den angrenzenden Wald und schweigen. Mit Noah ist Schweigen angenehm. Aber ich spüre, dass er etwas auf dem Herzen hat und werde zunehmend nervöser.
"Lia, ich wollte mit dir sprechen. Über ... uns", sagt er leise und mir wird urplötzlich schlecht.
Denn ich weiß: Jetzt beendet er es. Jetzt wird er mir sagen, dass er mich mag, aber ich nicht mehr bin, als eine Freundin. Zitternd hole ich Luft und puste sie langsam wieder aus.
"Ich habe gehört, was du zu Leonie gesagt hast, an dem Tag, als du umgezogen bist. Ich weiß nicht, vermutlich dachtest du, ich sei noch unten mit den Jungs, aber das war ich nicht. Und dann habe ich euch reden gehört und konnte nicht mehr weghören. Es tut mir leid."
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. "Was meinst du?"
Noah stockt kurz und schluckt hart. "Du hast ihr gesagt, dass du in mich verliebt bist."
Ach ich schlucke jetzt vor Nervosität. Verdammt. Er wird mir definitiv das Herz brechen.
"Noah, es ist okay. Ich verstehe, dass du nichts für mich empfindest. Und ich habe das auch nur so zu Leonie gesagt. Ich ... ich ..." Ich seufze, weil mir keine Ausrede einfällt. Ergeben seufze ich.
Inzwischen hat es angefangen, leicht zu regnen. Wir sind im Wald und ich habe den Himmel nicht mehr wirklich sehen können. Zu spät erkenne ich die ganzen Regenwolken. Aber es ist nur Wasser. Im Zusammenspiel mit dem etwas kälteren Wind, stellen sich meine Härchen auf. Aber ich weiß, dass mich Zuhause eine warme Dusche empfängt. Zuhause. Die Freude über dieses Wort währt nur kurz, denn ich fange Noahs Blick auf und die Angst ist wieder da. Ich sehe zu Boden, denn ich habe keine Lust, Mitleid in seinen Augen zu sehen.
"Hast du die Wahrheit gesagt, als du mit ihr darüber gesprochen hast?", möchte er wissen und stellt sich vor mich, so, dass ich nicht an ihm vorbei kann.
Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und versuche erneut, auszuweichen und die Wichtigkeit des Themas herunterzuspielen. Aber er beharrt darauf, also gebe ich schließlich nach.
„Ja, ok. Ich bin in dich verliebt, Noah. Aber ich weiß, dass ich nicht gut genug bin. Ich-"
„Lia, hör auf, sowas zu sagen", fährt er mich an.
„Bin nicht gut genug, dass mir jemand sein Herz-"
Er unterbricht mich erneut. „Lia", knurrt er.
„Lass mich ausreden. Ich bin nicht schön genug. Ich bin nicht toll genug. Ich bin einfach ... nicht genug ich-"
"Lia", unterbricht er mich erneut. Er sieht wütend aus, aber die Wut verschwindet innerhalb weniger Sekunden wieder aus seinem Gesicht.
"Erinnerst du dich noch an den Tag an dem wir im Museum waren?", fragt er und nimmt eine meiner Haarsträhnen zwischen die Finger und spielt mit ihr.
„Ja", antworte ich schlicht und sehe ihn neugierig an.
Er streicht mir die Strähne nun aus dem Gesicht.
"Die Art und Weise, wie du mir die Gemälde erklärt hast, das Zusammenspiel der Farben; wie fasziniert du von all der Kunst warst. Da wusste ich, dass ich in dich verliebt bin." Seine Stimme bricht.
„Noah..."
„Wie du die Bilder angesehen hast – ich weiß noch, dass ich mir dachte: Ich möchte auch so von ihr angesehen werden. Ich möchte auch Kunst für sie sein."
Ich erstarre. "Das bist du, Noah. Das bist du."
Und das ist seine Bestätigung. Er küsst mich und ich weiß, dass das hier richtig ist. Egal, wie viele Steine uns in den Weg gelegt werden, es ist richtig. Er ist mein eigener Wirbelsturm, der mein Leben durcheinanderbringt; er ist Kunst, er ist nicht wie die anderen. Er ist anders. Er ist wunderschön. Sein Herz leuchtet golden - und es singt das gleiche Lied wie meines.
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